Das Evangelium Gottes im Römerbrief
Ein zentrales Thema des Briefes an die Römer ist das Evangelium (die gute Botschaft) Gottes. Das ist nicht nur die Botschaft Gottes, die sich an den Sünder richtet, sondern das Evangelium will jeden Glaubenden zu einer tieferen Einsicht in die Gedanken Gottes führen und damit zugleich für gefestigten Frieden sorgen. Es ist ein bleibender Gewinn, wenn wir die Botschaft des Evangeliums Gottes immer wieder erwägen und uns daran erfreuen.
Eine Kernaussage dazu finden wir in Kapitel 1,16.17. Paulus schreibt dort:
„Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte aber wird aus Glauben leben‘.“
Paulus schämte sich des Evangeliums nicht. Das bedeutet nicht in erster Linie, dass er keine Furcht hatte, den Herrn Jesus vor den Menschen zu bekennen. Nein, der Ausdruck will vielmehr sagen, dass er völliges Vertrauen auf die Kraft Gottes hatte, die in der guten Botschaft Gottes sichtbar wurde. Für ihn war das Wort vom Kreuz keine Torheit, sondern Gottes Kraft (1. Kor 1,18). Er war fest davon überzeugt, dass es Gottes Evangelium ist – voller Weisheit und wirksam – und dass es jeden, der es annimmt, zu Gott bringt. Es ist „Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden“. Das hatte er selbst erlebt, und deshalb konnte er es frei bezeugen.
Diese beiden Verse fungieren wie eine Einleitung in den Brief an die Römer und sind zugleich eine Zusammenfassung der Lehre des Römerbriefes. Ich möchte auf acht wichtige Punkte hinweisen.
1. Der Ursprung des Evangeliums
Quelle und Initiator der guten Botschaft ist niemand anderes als Gott. Es ist das „Evangelium Gottes“. Gott hatte den Plan, und Er tat alles, um ihn zu realisieren. Kein Mensch wäre je auf diesen Gedanken gekommen. Kein Mensch hätte ihn je in die Tat umsetzen können. Gott, der Vater, Gott, der Sohn, und Gott, der Heilige Geist, sind beteiligt, wenn es um das Evangelium geht. Der Ratschluss war im Herzen des Vaters, der Sohn führte ihn aus, und der Heilige Geist überführt den Sünder, um das Evangelium anzunehmen.
2. Das Wesen des Evangeliums
Das Wesen des Evangeliums ist Kraft – und zwar Gottes Kraft. Das hier für Kraft gebrauchte Wort lässt uns an die Wirkung von Dynamit denken. Wir alle wissen, welch eine Energie freigesetzt wird, wenn Felsen mit Dynamit gesprengt werden. Die Kraft Gottes, die im Evangelium sichtbar wird, ist jedoch unendlich größer. „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist es Gottes Kraft.“ – „Meine Predigt war ... in Erweisung des Geistes und der Kraft“ (1. Kor 1,18; 2,4). Das Wort selbst wird in der Kraft des Geistes Gottes verkündigt, und die Wirkung der Predigt ist mit Kraft verbunden (1. Thes 1,5).
Im Evangelium sehen wir die Kraft Gottes, die an uns wirkt. Die Kraft Gottes wird sichtbar, wenn ein Sünder seine Schuld einsieht und in Buße und Glauben zum Herrn Jesus kommt.
3. Der Mittelpunkt des Evangeliums
Der herrliche Mittelpunkt des Evangeliums ist niemand anderes als der Herr Jesus selbst und sein Werk, das Er vollbracht hat. Wir können keine Wahrheit der Bibel – auch nicht die des Evangeliums – von seiner Person trennen. Tun wir es doch, werden wir die Wahrheit nie wirklich verstehen. Die Einleitung zum Römerbrief macht das unmittelbar klar. Es ist „das Evangelium Gottes über seinen Sohn“. Jedes andere Evangelium ist nicht das Evangelium Gottes, sondern ein menschliches. Der zentrale Punkt des Evangeliums ist eben keine Lehre, kein Dogma, keine Organisation, sondern eine Person, die Person unseres Herrn und Heilands. Es geht darum zu erkennen, wer Er ist und was Er getan hat. Das Evangelium zeigt uns, dass dieses Werk, das nur der Herr Jesus tun konnte, nötig war und wie es auf uns, die wir Sünder waren, angewandt wird. Sein Werk wird uns zugerechnet. Nur auf der Basis des vollbrachten Werkes vom Kreuz kann Gott dem Sünder in Gerechtigkeit begegnen, ohne ihn zu verdammen.
4. Die Reichweite des Evangeliums
In 1. Timotheus 2,4 lesen wir, dass Gott ein Heiland-Gott ist, „der will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen“. In Titus 2,11 bestätigt uns der Heilige Geist: „Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen.“ Damit ist die Reichweite des Evangeliums angedeutet. Es richtet sich ohne Unterschied an alle Menschen. Wie könnte es anders sein? Der Herr Jesus hat als Mensch den Weg zu Gott bereitet, und dieser Weg steht grundsätzlich allen Menschen offen. Gott lehnt keinen ab, der sich auf das Werk seines Sohnes stützt. Alle Menschen haben gesündigt – und zwar ohne Unterschied. Allen steht das Heil Gottes offen – ebenfalls ohne Unterschied.
Das bedeutet nicht, dass alle Menschen tatsächlich in den Genuss des Heils Gottes kommen. Viele lehnen es ab. Das Angebot Gottes im Evangelium richtet sich an (oder gegen) alle, es hat jedoch nur für die Gültigkeit, die es im Glauben annehmen. Das Evangelium ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden. Der Glaube ist die unbedingte Voraussetzung, um in den Genuss der Segnungen des Evangeliums zu kommen. Deshalb sagt Paulus in Römer 3,22: „Gottes Gerechtigkeit aber durch Glauben an Jesus Christus gegen alle [und auf alle], die glauben.“ Das Evangelium richtet sich an alle, doch es wird nur wirksam für solche, die es im Glauben annehmen.
5. Das Ziel des Evangeliums
Das Ziel des Evangeliums wird uns mit den Worten beschrieben: „Es ist Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden.“ Im Evangelium bietet Gott dem Menschen das Heil an, das er braucht. Der Ausdruck „Heil“ (an anderen Stellen mit „Errettung“ übersetzt) wird im Neuen Testament in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Die Grundbedeutung ist immer die Rettung vor einer Gefahr. In seinem weitesten Sinn können wir vom Heil Gottes als von seinem machtvollen Eingreifen zugunsten des Menschen sprechen, wodurch der Sünder gerettet wird und in Verbindung mit dem heiligen Gott kommt. Das Heil Gottes ist dann alles, was Gott einem Menschen gibt, um vor Ihm bestehen zu können. Von diesem gewaltigen Thema überwältigt, wollte Judas über das „gemeinsame Heil“ schreiben, doch durch den Geist wurde er anders geleitet (Jud 3). Auch der Schreiber des Hebräerbriefes spricht in diesem Sinn von Gottes Heil und nennt es „eine so große Errettung“ (Heb 2,3).
Im Römerbrief lernen wir, dass Errettung das vollständige Ergebnis des Werkes unseres Herrn am Kreuz ist. Dieses Ergebnis bezieht sich auf die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Wenn wir an die Vergangenheit denken, ist Errettung mit Rechtfertigung verbunden. Wenn wir an die Gegenwart denken, mit Heiligung. Und wenn wir an die Zukunft denken, mit Verherrlichung. Rechtfertigung bedeutet vor allem die Errettung von der Schuld der Sünde; Heiligung ist mit der gegenwärtigen Errettung von der Macht der Sünde verbunden, und Verherrlichung hat damit zu tun, dass wir einmal sogar von der Gegenwart der Sünde befreit werden. Der Gläubige ist vom Zorn Gottes und dem ewigen Gericht gerettet, er ist von der Macht Satans gerettet, und er ist für die Herrlichkeit gerettet. In 1. Korinther 1,30 werden alle drei Dinge zusammen genannt: „Aus ihm aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung.“ Die Tatsache, dass die Erlösung als letztes genannt wird, deutet darauf hin, dass es hier um die vollständige, endgültige Erlösung geht, in der die Erlösung des Leibes eingeschlossen ist (Röm 8,23). Das Heil Gottes ist in der Tat groß und sollte uns immer dankbar stimmen.
6. Der Inhalt des Evangeliums
Das ist der zentrale Punkt. Der Inhalt des Evangeliums ist Gottes Gerechtigkeit. Ein heiliger und gerechter Gott offenbart sich, doch Er tut es uns gegenüber nicht im Gericht, sondern in Gnade. Der Tag wird kommen, wo Gott den Menschen seine Gerechtigkeit im Gericht zeigen wird. Dann wird das Ergebnis nicht mehr Heil und Leben, sondern ewige Verdammnis und Tod sein. Doch Gott sei gelobt und gepriesen, heute noch offenbart Er seine Gerechtigkeit im Evangelium „zum Heil jedem Glaubenden“.
Vielleicht sind wir überrascht, in Verbindung mit dem Evangelium, der frohen Botschaft, zunächst von der Gerechtigkeit Gottes zu hören. Sehen wir nicht viel mehr die Liebe Gottes im Evangelium? Ist nicht Johannes 3,16 mit Recht als Zusammenfassung des Evangeliums bezeichnet worden? Zweifellos hat die Liebe Gottes ihren Platz, wenn es um das Evangelium geht. Doch Gott zeigt uns zuerst seine Gerechtigkeit. Gewiss, in seiner Liebe hat Gott seinen Sohn auf diese Erde gesandt, und ohne diese Gabe hätte nie ein Mensch zu Gott kommen können.
Doch wenn es um die Stellung eines ehemaligen Sünders vor Gott geht, dann stellt sich vorerst die Frage, wie das Heil, das Gott anbietet, mit seiner Gerechtigkeit und Heiligkeit zu vereinbaren ist. Wie kann Gott einen Sünder annehmen, ohne seine Heiligkeit aufzugeben? Das ist die entscheidende Frage. Deshalb spricht der Römerbrief in den ersten Kapiteln ausführlich von der Gerechtigkeit Gottes, und erst im fünften Kapitel ist von seiner Liebe die Rede (V. 8). Die Liebe Gottes kann einen Sünder überwältigen, ja zerbrechen. Sie macht ihn klein in seinen Augen, doch sie kann ihm keine sichere Grundlage geben, auf der er stehen kann. Der Sünder weiß, dass Gott gerecht ist und keine einzige Sünde sehen kann. Deshalb muss er erst eine Antwort auf die Frage bekommen, wie ein gerechter Gott ihn auf einer gerechten Grundlage annehmen kann.
Die Gerechtigkeit Gottes hat sich zuerst in Bezug auf Christus gezeigt, nämlich darin, dass Gott Ihn in den Stunden der Finsternis bestraft hat, als Er mit unseren Sünden beladen war. Sodann hat sie sich darin erwiesen, dass Er Ihn aus den Toten auferweckt und Ihm Ehre und Herrlichkeit gegeben hat. Weil das so ist, kann sich die Gerechtigkeit Gottes jetzt im Blick auf uns erweisen, indem Gott gerecht ist „und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,26). Ein gerechter Gott straft nicht zweimal. Wenn Christus das Gericht getragen hat, gehen wir frei aus. Ein gerechter Gott kann nicht anders handeln. In dem Werk seines Sohnes hat Gott eine Grundlage gefunden, Gnade zu üben und dabei zugleich seiner Gerechtigkeit zu entsprechen.
Dabei erweist Gott seine Gerechtigkeit in Bezug auf uns in zwei Richtungen:
- Gott rechtfertigt den Sünder, was seine Sünden betrifft. Gott bestraft die Sünden nur einmal, und Er hat es am Kreuz von Golgatha getan. Deshalb schreibt der Apostel Johannes: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt“ (1. Joh 1,9). Hier steht nicht, dass Gott gnädig und barmherzig ist (wiewohl das stimmt), sondern Gott ist treu (seinem Wort gegenüber) und gerecht (seinem Wesen gegenüber), wenn Er einem Sünder, der mit einem aufrichtigen Bekenntnis kommt, die Sünden vergibt.
- Gott rechtfertigt den Sünder, was die Sünde betrifft. „Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen (oder gerechtfertigt) von der Sünde“ (Röm 6,7). Als lebende Menschen haben wir nicht nur Sünden getan, sondern wir waren durch und durch Sünder. Jeder Mensch, der heute geboren wird, ist, ohne eine einzige aktive Sünde getan zu haben, doch ein Sünder. Er wird so geboren. Dieses Problem musste ebenfalls gelöst werden. Wie hätten wir, selbst wenn die Frage der Sünden beantwortet gewesen wäre, als Sünder in der Gegenwart eines heiligen Gottes erscheinen können? Es wäre unmöglich gewesen. Gott hätte uns so nicht annehmen können. Doch Er hat im Werk des Herrn Jesus auch die Antwort auf dieses Problem gegeben. Gott macht uns eins mit Ihm. Er ist gestorben, und wir sind mit Ihm gestorben. Gott hat die Sünde (das Fleisch, die alte Natur) am Kreuz gerichtet. Das Todesurteil ist ausgesprochen worden, und als Ergebnis sind wir „freigesprochen“ oder „gerechtfertigt“ von der Sünde.
Paulus fasst das wie folgt zusammen: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns? Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken? Wer wird gegen Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, der rechtfertigt; wer ist es, der verdamme? Christus ist es, der gestorben, ja noch mehr, der [auch] auferweckt worden, der auch zur Rechten Gottes ist“ (Röm 8,31–34).
7. Der Weg des Evangeliums
Es gibt nur einen Weg, dieses Heil zu bekommen. Das ist der Glaube. Der Glaube steht hier dem Gesetz gegenüber. Auf einem gesetzlichen Grundsatz ist das Heil nicht zu erlangen. Kein Mensch kann dafür eine Gegenleistung bringen. Das Wasser des Lebens ist umsonst – und das nicht, weil es so billig ist, sondern weil niemand es bezahlen kann.
Der Glaube ist wie eine Hand, die das ergreift, was Gott anbietet. Dabei weist der erste Ausdruck „aus Glauben“ (Röm 1,17) auf den Grundsatz hin. Nur dann, wenn sich dieser Glaube in einem Menschen findet, schenkt Gott Rechtfertigung. Der Glaube ist die Grundlage für das Heil. Das Heil geht ganz von Gott aus, aber es muss in dem Menschen Glauben geben, wenn er gerettet werden will. Wir wissen aus Epheser 2,8, dass letztlich sogar der Glaube eine Gabe Gottes ist. Alles geht von Ihm aus. Doch im Römerbrief geht es speziell um die Verantwortung des Menschen. Und so lautet Gottes Aufforderung, dass wir glauben müssen. Zweimal finden wir den Ausdruck „Glaubensgehorsam“ (Röm 1,5; 16,26). Diese Aufforderung verbindet sich mit dem zweiten Ausdruck „zu Glauben“ (Röm 1,17). „Aus Glauben“ gibt die einzige Grundlage und den Weg an. „Zu Glauben“ zeigt, dass nur derjenige das Heil Gottes bekommt, der tatsächlich glaubt, d. h. der seine Hand auf das legt, was Gott sagt, und es für sich ganz persönlich annimmt.
8. Die Folgen der Annahme des Evangeliums
Die Annahme des Evangeliums durch einen Menschen hat ein doppeltes Ergebnis. Zum einen vermittelt das Evangelium uns eine völlig neue Stellung vor Gott – wir sind gerechtfertigt und haben Frieden mit Ihm. Zum anderen aber hat die Annahme des Evangeliums auch eine Auswirkung auf unser praktisches Leben. Wir führen jetzt ein Leben auf dem Grundsatz des Glaubens, indem wir völlig mit dem Herrn Jesus einsgemacht sind.
Die in Römer 1,17 angeführten Worte: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben“ sind ein Zitat aus dem Alten Testament (Hab 2,4). Insgesamt wird im Neuen Testament dreimal auf diesen Vers Bezug genommen (Röm 1,17; Gal 3,11; Heb 10,38). Im Römerbrief liegt der Schwerpunkt dabei auf der Tatsache, dass wir im Herrn Jesus zu Gerechten gemacht worden sind. Im Galaterbrief wird betont, dass wir nur durch Glauben vor Gott gerechtfertigt werden können. Im Hebräerbrief schließlich wird der Nachdruck auf die Tatsache gelegt, dass wir jetzt ein Leben des Glaubens führen. Gott hat uns das Heil nicht nur gegeben, damit wir vor Ihm bestehen können, sondern Er möchte, dass wir jetzt ganz praktisch aus dem Glauben heraus leben. Der praktische Teil des Römerbriefs (ab Kapitel 12) zeigt uns, wie ein solches Leben des Glaubens aussieht. Es ist ein Leben zur Ehre unseres Gottes.