Einführung in das Buch Prediger
1. Einleitung
Es gibt kaum ein Buch der Bibel, das Ausleger vor solche Schwierigkeiten gestellt hat, wie das Buch des Predigers. Das liegt nicht so sehr an den einzelnen Aussagen des Predigers, sondern vielmehr an der Zielrichtung des Buches. Wer den Prediger flüchtig liest, könnte die Frage stellen, warum es ein Teil des Wortes Gottes ist. Viele Ausleger bezeichnen seine Grundausrichtung als pessimistisch und negativ und meinen deshalb, es könne kein inspiriertes Bibelbuch sein. Trotz aller vorschnellen Urteile wird beim genauen Lesen und Überdenken deutlich, dass wir dieses Buch unbedingt brauchen. Gott hat es mit Absicht schreiben lassen. Es ist mit Recht gesagt worden, dass die Offenbarung der Gedanken Gottes ohne dieses Buch nicht vollständig wäre. Der Prediger erteilt uns eine Lektion, die wir sonst nirgendwo so ausführlich finden.
Auf den ersten Blick mag tatsächlich manches rätselhaft und sogar verwirrend erscheinen. Einzelne Verse zeigen Hoffnungslosigkeit. Sie sprechen von Enttäuschungen und zum Teil von Verzweiflung. Das Buch zeigt die Vergänglichkeit aller Dinge auf dieser Erde – und darin liegt zugleich seine wesentliche Botschaft. Der Prediger beschreibt seine Erkenntnis im Blick auf das, was „unter der Sonne“ (d.h. hier auf der Erde) ist und seine fast zwangsläufige Schlussfolgerung lautet, dass alles eitel und vergänglich ist. Oberflächlich betrachtet erscheinen einige Aussagen sogar im Widerspruch zu anderen Aussagen der Bibel zu stehen. Der Dichter Heinrich Heine soll es als ein „Hohelied der Skepsis“ bezeichnet haben. Für andere hingegen ist es ein „Hohelied der Gottesfurcht“. J.N. Darby schreibt: „Das Buch des Predigers ist bis zu einem gewissen Punkt das Gegenstück zum Buch der Sprüche. Es gibt die Erfahrung eines Menschen wieder, der die nötige Weisheit besitzt, um alles beurteilen zu können und nun jede Sache unter der Sonne, die man für geeignet halten könnte, einen Menschen glücklich zu machen, prüft. Er tut das, indem er alles das genießt, was Menschen als ein Mittel zur Freude anbieten können. Als Ergebnis dieser Prüfung entdeckt er, dass alles „Eitelkeit und ein Haschen nach Wind“ ist. Jede Anstrengung, durch den Besitz der irdischen Dinge (wie immer dieser Besitz geartet sein mag) glücklich zu sein, endet im Nichts“.1 Doch dabei lässt der Prediger es nicht bewenden. Am Ende seines Buches zieht er Bilanz und kommt zu einem wichtigen Ergebnis, nämlich Gott zu respektieren und zu achten.
2. Verfasser, Datierung und Verfassungsort
Die Botschaft des Buches ist zweifellos wichtiger als die Frage, wer es geschrieben hat. Dennoch interessiert es den Leser in der Regel, wer der Verfasser eines Buches ist. Obwohl das Buch selbst an keiner Stelle einen konkreten Namen nennt, sondern lediglich sieben Mal von dem „Prediger“ spricht, gibt es gleichwohl gute Gründe, der jüdischen Tradition zu folgen, die besagt, dass es sich um König Salomo handelt. Ein anderer Verfasser kommt nicht in Frage. Interne Belege des Buches zeigen das deutlich:
- Er war ein Sohn Davids2 (vgl. Kap. 1,1)
- Er war König über Israel, d.h. über das 12-Stämme-Reich (vgl. Kap. 1,1.12)
- Er regierte in Jerusalem (vgl. Kap. 1,1.12)
- Er war weiser als seine Vorfahren (vgl. Kap. 1,16 mit 1. Kön 3,12)
- Er war mächtiger als seine Vorfahren (vgl. Kap. 2,9 mit 1. Kön 3,13)
- Er hatte großen Reichtum (vgl. Kap 2,7)
- Er verfolgte große Bauprojekte (vgl. Kap 2,4–6)
- Er hatte viele Frauen (vgl. Kap. 2,8 mit 1. Kön 11,1-3)
- Er verfasste viele Sprüche (vgl. Kap. 12,9 mit Spr 1,1 und 1. Kön 5,12)
Die Beschreibung trifft auf keinen der anderen Thronnachfolger aus der Dynastie Davids zu. Es kann sich nur um Salomo handeln.
Salomo war ein Sohn Davids. Seine Mutter war Bathseba (2. Sam 12,24). Obwohl er einerseits in seiner Regierung als Friedenskönig ein herrliches Vorausbild auf den wahren „Friedensfürsten“ Jesus Christus ist, ist er andererseits zugleich eine der tragischsten Figuren im ganzen Alten Testament. Er begann seine Laufbahn als König als der weiseste aller Menschen, war seinem Gott treu und knickte doch am Ende seines Lebens ein, wurde ungehorsam und diente fremden Göttern. Dieser Götzenkult war eine Folge seiner ungebremsten Gier nach fremden Frauen (1. Kön 11,1-13). Hätten wir das Buch des Predigers nicht, müssten wir davon ausgehen, dass er in diesem traurigen Zustand gestorben ist.3
Salomo regierte von ca. 971–931 v.Chr. Es ist anzunehmen, dass er das Buch Prediger im Alter geschrieben hat. In Kapitel 2,1–11 hält er Rückschau auf sein Leben, so wie man es im Alter tut. Kapitel 12,1–7 können ebenfalls nur aus der Feder eines älteren Menschen stammen. Das Buch muss also in den letzten Jahren seiner Regierung geschrieben worden sein – und zwar in Jerusalem.4
3. Kritik
Die jüdische Tradition hat nie Zweifel daran gehabt, dass Salomo der Verfasser des Buches ist.5 Bis zur Zeit der Reformation gab es unter christlichen Theologen ebenfalls keinen Zweifel daran. Interessanterweise war es gerade der Reformator Martin Luther, der die Verfasserschaft Salomos infrage gestellt hat. Spätestens mit der Aufklärung (ab ca. 1720) haben sich kritische Stimmen vermehrt, die nicht nur die Verfasserschaft, sondern die Authentizität des Buches als von Gott inspiriert infrage stellen. Selbst ansonsten eher konservative Theologen vertreten die Auffassung, dass Salomo nicht der Autor sein soll, sondern ein anderer, der sich – als literarisches Stilmittel – als Salomo ausgibt. Es sind im Wesentlichen folgende Argumente, die vorgebracht werden:
- Sprachliche Gründe: Kritiker haben behauptet, die Sprache des Buches sei in Wortwahl und Satzbau anders, als die zur Zeit Salomos übliche Sprache. Sie sprechen von einem „späten Hebräisch“. Der Gebrauch aramäischer und persischer Ausdrücke ist ein weiteres Argument, das angeführt wird. Hebraisten haben gemeint, dass die Sprache eher den nachexilischen Büchern und Schriften gleicht. So haben sie das Buch auf eine deutlich spätere Zeit (ca. 450–250 v.Chr.) datiert. Es ist wahr, dass die Sprache des Predigers einzigartig und ohne Parallele ist. Dennoch ist das kein Grund, an der Verfasserschaft Salomos zu zweifeln. Es ist hier nicht der Ort, diesem Argument im Detail nachzugehen und es zu widerlegen. Es sei nur erwähnt, dass Schriftfunde alter Texte und Untersuchungen diese Ansicht inzwischen eindeutig widerlegen.6 Es konnte nachgewiesen werden, dass die Worte aramäischen und persischen Ursprungs durchaus von den Nachbarvölkern Israels zur Zeit Salomos gebraucht wurden. 1. Könige 5,10-11 zeigt, dass Salomo mit der Weisheit dieser Nachbarvölker vertraut war. Darüber hinaus pflegte er diplomatische – und leider auch familiäre – Beziehungen ins benachbarte Ausland, so dass es uns nicht wundern muss, dass er deren Wortschatz in ein sehr allgemein gehaltenes Buch wie dem Prediger einfließen ließ (1. Kön 5,1; 9,11).
- Der Name Herr (Jahwe) kommt nicht vor: Die Tatsache selbst stimmt. Doch das ist ebenfalls kein stichhaltiges Argument. Auf das Hohelied und das Buch Esther trifft das nämlich ebenfalls zu. Der Prediger spricht allerdings über Gott (Elohim) – und das über vierzig Mal. Eben weil sich das Buch an jeden Menschen richtet, spricht es von Gott als Demjenigen, der als Schöpfer unumschränkt und allmächtig ist.7 Das Fehlen des Namens Herr zeigt, dass das Thema hier nicht der Mensch oder ein Volk in einer bestimmten festen Bundes- oder Glaubensbeziehung zu Gott ist, sondern es geht um Menschen, die als Geschöpf ihrem Schöpfer verantwortlich sind. Unter der Leitung des Heiligen Geistes hat Salomo bewusst den Namen Herr nicht gebraucht.
- Kein Zitat im Neuen Testament: Diese Tatsache stimmt ebenfalls, doch wiederum ist es kein stichhaltiges Argument. Zum einen gibt es einige Anspielungen und Hinweise auf den Prediger (vgl. Pred 5,1 mit Mt 6,7; Pred 12,14 mit 2. Kor 5,10). Zum anderen trifft das ebenfalls auf andere Bücher des Alten Testamentes zu (Ruth, Esra, Nehemia, Esther, Hohelied, Nahum und Obadja).
- Der Schreiber behauptet von sich selbst, König gewesen zu sein: Er schreibt, dass er König „war“ (Pred 1,12). Das Argument lautet, dass der Autor also vorher zwar König war, zum Zeitpunkt der Entstehung des Buches jedoch nicht mehr. Deshalb könne Salomo nicht der Schreiber sein, denn er war bis zum Lebensende König. Das Argument ist nahezu lächerlich, denn die Aussage muss natürlich keineswegs bedeuten, dass er beim Schreiben nicht mehr König war.
Die Sache ist sehr einfach auf den Punkt zu bringen: Wenn die Behauptungen der Kritiker stimmen und der Verfasser später gelebt hätte, dann wäre er ein Betrüger gewesen und hätte sich nicht „Sohn Davids“ und „König in Jerusalem“ nennen können. Ein solches Buch hätte niemals in den Kanon der von Gott inspirierten Bibelbücher gehört.
4. Buchtitel, Zielgruppe und Stellung im biblischen Kanon
4.1. Buchtitel und Zielgruppe
Alle drei Bücher aus der Feder Salomos – Sprüche, Hohelied und Prediger – tragen einen Titel, der dem göttlich inspirierten Text entnommen ist. Bei allen Unterschieden verbindet sie das miteinander.
Das hebräische Wort „Prediger“ kommt nur in diesem Buch vor – und zwar sieben Mal (Pred 1,1.2.12; 7,27; 12,8.9.10). Es ist schwierig zu übersetzen. Es war wohl M. Luther, der es im Deutschen zuerst mit „Prediger“ wiedergegeben hat.8 Es leitet sich von einem Wort ab, dass man mit „zusammenrufen“ oder „versammeln“ übersetzen kann.9 Es handelt sich also um jemand, der zusammenruft. In der Antike konnte das der Redner oder Leiter einer Versammlung sein. Andere Ausleger sprechen von einem „Weisheits-Lehrer“, oder – im positiven Sinn des Wortes – einem „Wortstreiter“. Damit wird klar, dass der Prediger etwas über die Weisheit zu sagen hat. In der Tat ist das ein wesentliches Thema des Buches. Stellen wir uns also einen Mann vor, der Menschen zusammenruft, um sie etwas über die Weisheit zu lehren. H. Rossier schreibt: „Der Prediger will Menschen um sich sammeln, die Ohren haben zu hören, um sie zu unterweisen und ihnen seine Erfahrungen mitzuteilen“.10
Das Buch hat eine Botschaft für jeden, der es liest – sei er gläubig oder ungläubig. Deshalb wird – anders als im Buch der Sprüche – keine konkrete Zielgruppe genannt. Es gibt keinen unmittelbaren Adressaten, an den der Prediger sich wendet. Der Inhalt des Buches soll allen Menschen zugänglich sein und sie nachdenklich stimmen. Deshalb hat man dieses Buch mit dem Vorhof zum Tempel verglichen, zu dem jeder Zutritt hatte.
4.2. Stellung im biblischen Kanon
In den hebräischen Bibelausgaben hat das Buch Prediger einen anderen Platz als in den uns bekannten Bibelausgaben. Es zählt zu dem letzten Teil, den Schriften und zwar konkret zu den sogenannten fünf Rollen (Megillot), zusammen mit dem Hohelied, dem Buch Ruth, den Klageliedern und dem Buch Esther. Diese fünf Bücher gelten als eine gewisse Einheit und wurden – wenn sie kopiert wurden – immer zusammen abgeschrieben. Sie werden „Festrollen“ genannt, weil sie bis heute zu bestimmten Festtagen vorgelesen werden:
- Das Hohelied zum Passahfest – dem ersten Fest der Juden
- Das Buch Ruth zu Pfingsten – dem Fest der Wochen
- Die Klagelieder begleiten den Gedenktag der Tempelzerstörung 586 v. Chr.11
- Der Prediger gehört zum Laubhüttenfest, das im Herbst gefeiert wird12
- Das Buch Esther verbindet sich mit dem Purimfest (oder Esther-Fest)
In den meisten uns bekannten Bibelausgaben ist der Prediger ein Teil der sogenannten poetischen Bücher (Hiob, Psalmen, Sprüche, Prediger, Hohelied). In diesen Büchern geht es vor allem um menschliche Empfindungen.
- Das Buch Hiob spricht besonders über Empfindungen im Leid
- Das Buch der Psalmen ist das Buch des Gebets (Fürbitte und Lobpreis)
- Das Buch der Sprüche ist mit Weisheit verbunden
- Der Prediger bringt die Vergänglichkeit in Erinnerung
- Das Hohelied fokussiert auf die Empfindungen der Liebe
In allen Büchern ist die Stimme des Menschen nicht zu überhören. Doch in keinem dieser Bücher ist sie so außergewöhnlich wie im Buch Prediger.
Die drei Bücher aus der Feder Salomos können ebenfalls miteinander verbunden werden. Jüdische Rabbiner haben die Ansicht geäußert, dass das Hohelied am Anfang seiner Regierungszeit geschrieben worden ist, die Sprüche in der Mitte seines Lebens und der Prediger ganz am Ende, nachdem er bittere Erfahrungen mit sich selbst gemacht hatte. Dem kann man sehr gut folgen, wenn man den Inhalt dieser drei Bücher vergleicht. Das Hohelied passt sehr gut in die Zeit der Jugend und der frischen Liebe, die Sprüche in die Zeit der Reife des Mannesalters und der Prediger zeigt die Enttäuschungen und Erfahrungen des Alters („Eitelkeit der Eitelkeiten“). Andererseits stellt man fest, dass die „innere Reihenfolge“ dieser drei Bücher genau entgegengesetzt verläuft, denn man kann in der Abfolge dieser drei Bücher Salomos ein gewisses geistliches Wachstum erkennen. Im Prediger geht es um den Menschen „unter der Sonne“, der keine besondere Offenbarung Gottes zu erkennen gibt. Das Buch endet mit dem Hinweis: „Fürchte Gott“ (Pred 12,13). Das führt direkt zum Buch der Sprüche, denn dort geht es besonders um die „Furcht des Herrn“. Im Hohelied finden wir schließlich die Beziehung der Liebe zwischen einer Braut und ihrem Bräutigam (d.h. zwischen einem Gläubigen und Christus). Man kann diese drei Bücher mit der Stiftshütte verglichen: Der Prediger schreibt über den Vorhof („unter der Sonne“). Die Sprüche zeigen das Heiligtum, in dem der Leuchter Licht gibt (ein Hinweis auf die Weisheit). Das Hohelied bringt uns schließlich in das Allerheiligste, wo wir etwas über die Grundlage für unsere Beziehung zu Christus (die Liebe) erfahren.
5. Die Botschaft des Predigers
Es wird jedem Leser unmittelbar deutlich, dass der Prediger anders ist als alle anderen Bücher der Bibel. Das Buch hat einen eigenen Charakter und eine unverwechselbare Botschaft.
5.1. Charakter
Für viele Bibelleser ist das Buch Prediger schwierig zu verstehen. Das stimmt in einem gewissen Sinn, wenn es um die Zielrichtung der Gedankengänge geht. Dennoch gibt das Buch selbst uns den Schlüssel in die Hand, um es gut und richtig zu interpretieren. Wichtig ist, dass wir diesen Schlüssel nicht aus der Hand legen, sondern ihn konsequent benutzen. Wenn wir einmal gut verstanden haben, dass Salomo als ein Gläubiger das Leben auf dieser Erde aus der Sicht des gefallenen Menschen beschreibt, erschließt sich das Buch ohne größere Schwierigkeiten. Es geht in diesem Buch um die Folgen des Fluches, der eine Folge des Sündenfalls ist. Salomo beschreibt, was ein Mensch ohne Gott sucht.
Anfang und Schluss zeigen das sehr deutlich. „Eitelkeit der Eitelkeiten! spricht der Prediger; Eitelkeit der Eitelkeiten! Alles ist Eitelkeit. Welchen Gewinn hat der Mensch bei all seiner Mühe, womit er sich abmüht unter der Sonne“ (Pred 1,2.3)? „Eitelkeit der Eitelkeiten!, spricht der Prediger; alles ist Eitelkeit!“ (Pred 12,8).
Drei Ausdrücke, die in dem Buch häufig vorkommen, unterstreichen den besonderen Charakter:
- Unter der Sonne: Diese Formulierung kommt nur im Prediger vor – und zwar 29 Mal. Dreimal wird darüber hinaus von dem gesprochen, was „unter dem Himmel“ ist (Pred 1,13; 2,3; 3,1). Damit ist alles das gemeint, was sich auf das Diesseits, d.h. auf die Erde beschränkt. Man könnte sagen: es geht um die menschliche Perspektive, so wie wir aus unserer Sichtweise das Leben beurteilen.
Salomo beschreibt an seinem eigenen Beispiel, was passiert, wenn jemand den bleibenden Wert des Lebens unter dem Blickwinkel des irdischen und menschlichen sucht. Irgendwann muss Salomo begonnen haben, den Sinn des Lebens und die Bedeutung der menschlichen Existenz zu suchen. Er war reich und weise und nahm sich vor herauszufinden, was ein wirklich sinnerfülltes Leben auf der Erde ausmacht. Deshalb stellt er Fragen, die bis heute viele Menschen bewegen: Welchen Sinn hat mein Leben? Was macht es aus? Welche Weisheit trägt? Dreimal stellt er die Frage: „welchen Gewinn“ (Kap 1,3; 3,9; 5,15).13 Anders formuliert: Was bleibt von all der Arbeit eines Menschen übrig, mit der er sich hier auf der Erde (unter der Sonne) abmüht? Erst am Ende wird deutlich, dass nur das dem Leben wirklichen Sinn gibt, was über den Tod hinaus hält. Allein „unter der Sonne“ gibt es keinen wirklichen Sinn und keine dauerhafte Befriedigung. W. Kelly schreibt: „Salomo will seine Zuhörer zum Nachdenken bringen. Er will sie nicht in eine Sackgasse führen. Er will vielmehr beweisen, dass es ohne Gott keinen Sinn für dieses Leben gibt. Also, diese Frage ist eine berechtigte Frage. Was bleibt dir am Ende deiner Tage übrig, wenn du stirbst?“14
Es wird deutlich, dass der Prediger bei seiner Suche „unter der Sonne“ das unbeachtet lässt, was „über der Sonne“ ist, d.h. er lässt die göttliche Offenbarung unberücksichtigt. Gemeint ist nicht, dass er Gott nicht kannte, sondern dass er diesen Aspekt (bewusst) ausblendet. Er benutzt für seine Studien nur das Sichtbare, das ihm zur Verfügung stand. Dazu passt die Wendung „ich sprach – bzw. beschloss – in meinem Herzen“, die fünf Mal vorkommt (Pred 1,16; 2,1.3.15; 3,17.18). A.C. Gaebelein schreibt: „Der Prediger ist daher das Buch des natürlichen, von göttlicher Offenbarung losgelösten Menschen... Das Buch zeigt das Wesen des natürlichen Menschen, das von ihm geführte Leben und seine Welt mit ihren kurzlebigen Nichtigkeiten. Die Aufnahme des Predigers in die Heilige Schrift hat nur einen Zweck: Dem natürlichen Menschen soll die Hohlheit und Nichtigkeit all dessen gezeigt werden, was unter der Sonne ist. Er soll davon überzeugt werden, wie notwendig es ist, das Bessere, d. h. das über der Sonne Befindliche zu suchen und zu finden“.15 - Eitelkeit und Haschen nach Wind: Es ist fast bedrückend zu sehen, wie Salomos Suche endet. Alles, was ausschließlich mit dem Diesseits zu tun hat, ist Eitelkeit, Nichtigkeit oder Verdruss. Das Wort „Eitelkeit“ kommt 37 Mal in den 12 Kapiteln vor.16 Man kann das Wort anders mit „Hauch“, „Wind“ oder „Dampf“ übersetzen. Es geht um etwas, das keinen dauerhaften Wert hat und deshalb ein „Haschen nach Wind“ ist (dieser Ausdruck kommt neun Mal vor). Gleich am Anfang schreibt er wie ein Resümee: „Ich habe alle Taten gesehen, die unter der Sonne geschehen; und siehe, alles ist Eitelkeit und ein Haschen nach Wind“ (Pred 1,14). Sein Reichtum und seine Weisheit reichten bei Weitem nicht aus, ihn auf dieser Erde dauerhaft zu befriedigen. Was immer diese Erde zu bieten hat – das Herz wird nie dauerhaft befriedigt. Unser Herr selbst hat gesagt. „Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten“ (Joh 4,13). Augustinus hat es so formuliert: „Du hast uns für dich gemacht, o Herr, und unser Herz wird niemals Ruhe finden, bis es ruht in dir“.17
Das Wort „Eitelkeit“ verbirgt sich in dem Namen „Abel“, den Adam und Eva ihrem zweiten Sohn gaben (1. Mo 4,2), nachdem die Sünde in die Welt gekommen war. Durch die Sünde ist alles vergänglich, was nicht von Gott kommt und nicht mit Ihm gelebt wird. Es gleicht einer „Illusion“, einer schillernden „Seifenblase“, die schnell platzt. Der Prediger zählt viele Dinge auf, die nichtig sind, wie z.B. die Arbeit, die Weisheit, die Gerechtigkeit, der Reichtum, das Ansehen, die Freude, die jugendliche Energie, ja letztlich das ganze Leben. Es sind alles keine bösen Dinge, doch ohne Gott ist alles „Eitelkeit und ein Haschen nach Wind“ – eine Formulierung, die sieben Mal vorkommt. (Pred 1,14; 2,11.17.26; 4.4.16; 6,9). Dazu passt der Ausdruck „Mühe“ oder „sich abmühen“, der insgesamt 30 Mal vorkommt. - Weisheit: Dieses Wort kommt 28 Mal vor. Es ist das Wort, das Salomo im Buch der Sprüche häufig aufgreift. In beiden Büchern ist nicht die theoretische Weisheit des Gelehrten gemeint, sondern praktische Lebensweisheit. Allerdings ist es im Prediger – anders als im Buch der Sprüche – häufig nicht die göttliche Weisheit, sondern es geht an den meisten Stellen um die menschliche Weisheit. Der Prediger versucht, die Sinnfrage mit eigenem Nachdenken und durch eigene Intelligenz zu erkennen. Er muss erkennen, dass menschliche Weisheit zwar durchaus gut und nützlich sein kann, allerdings nicht hinreicht, um seine Sinnfragen zu beantworten. Dazu ist Weisheit nötig, die nur Gott geben kann. So verstehen wir z.B. die Aussage in Kapitel 1,18: „Denn wo viel Weisheit ist, ist viel Verdruss; und wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer.“ Dieser Vers ist keine Warnung vor dem Studium einer Wissenschaft, sondern macht deutlich, dass keine menschliche Weisheit den Sinn des Lebens erklären kann. In diesem Sinn führt sie – ohne göttliche Weisheit – nur zu Verdruss.
Hinzu kommt eine Formulierung, die der Prediger sieben Mal gebraucht. Es geht um den Ausdruck „ich wandte mich...“ (Pred 2,11.12.20; 4,1.7; 7,25; 9,11). Damit wird die Blickrichtung des Predigers unterstrichen. Er wendet sich nicht „nach oben“, sondern er sieht sich um und schaut um sich her oder zurück. Die Perspektive des Gläubigen, der nach oben schaut und die Dinge aus der Sicht des Himmels sieht, fehlt ihm.
5.2. Botschaft
Es könnte beim flüchtigen Lesen der vordergründige Eindruck entstehen, dass der Prediger letztlich überhaupt keinen Sinn in dem Leben des Menschen sieht. Doch das ist durchaus nicht die Botschaft dieses Buches. Die häufige Schlussfolgerung „Alles ist Eitelkeit“ muss richtig verstanden werden. Gemeint ist, dass es auf dieser Erde ohne Gott nichts gibt, das bleibenden Wert hat. Das bedeutet nicht, dass es auf der Erde gar nichts gibt, an dem wir uns nicht erfreuen könnten, wohl aber, dass diese Freude nie dauerhaft sein kann (vgl. z.B. Pred 2,10). Am Ende bleibt davon nichts übrig.
Anders als beim Lesen der Sprüche müssen wir beim Lesen des Predigers bis zum letzten Kapitel vordringen, um die eigentliche Botschaft zu erfassen. Dort schreibt Salomo: „Die Worte der Weisen sind wie Treibstacheln, und wie eingeschlagene Nägel die gesammelten Sprüche; sie sind gegeben von einem Hirten. ... Das Endergebnis des Ganzen lasst uns hören: Fürchte Gott und halte seine Gebote; denn das ist der ganze Mensch. Denn Gott wird jedes Werk, es sei gut oder böse, in das Gericht über alles Verborgene bringen“ (Pred 12,11-14). Die Aussage macht völlig klar, worum es letzten Endes geht. Zugleich ist sie eine passende Überleitung zu dem Buch der Sprüche, das sich in der geistlichen Erfahrung dem Prediger anschließt.
Allerdings kommt der Prediger nicht erst ganz am Ende zu dieser Schlussfolgerung. Schon vorher fällt immer wieder ein Lichtstrahl der Erkenntnis in sein Suchen. Schon in Kapitel 3,14 heißt es: „Ich habe erkannt, dass alles, was Gott tut, für ewig sein wird: Es ist ihm nichts hinzuzufügen und nichts davon wegzunehmen; und Gott hat es so gemacht, damit man sich vor ihm fürchte“. In Kapitel 8,12 lesen wir. „... weil ein Sünder hundertmal Böses tut und doch seine Tage verlängert – obgleich ich weiß, dass es denen, die Gott fürchten, wohl ergehen wird, weil sie sich vor ihm fürchten“. Das führt uns zu einem weiteren prägenden Wort des Buches, nämlich „Gottesfurcht“. Es kommt in unterschiedlichen Formen sieben Mal vor (Pred 3,14; 5,6; 8,12.13; 9,2; 12,5.13). Gemeint ist damit nicht die Angst vor Gott, sondern Respekt und Ehrfurcht. Genau das möchte uns der Prediger lehren. Diese Haltung Gott gegenüber kommt aus der Erkenntnis hervor:
- dass Gott alles erschaffen hat (Pred 3,11.14; 7,13.14; 12,1.7)
- dass wir Menschen deshalb in unserem Tun und Lassen von Gott abhängig sind (Pred 2,24.25; 3,13; 5,19; 6,2; 9,1)
- dass Gott uns Menschen eines Tages richten wird (Pred 5,6; 8,11-13; 11,9; 12,14)
Jeder Mensch, der das Buch aufrichtig liest, muss erkennen, dass ein Leben ohne Gott dunkel ist und keinen wirklich tiefen Sinn hat. Es ist eitel und vergänglich, ja manchmal sogar absurd. Doch dann kommt Licht und Klarheit und Hoffnung. Diese Botschaft gilt jedem Menschen:
- Sie gilt dem ungläubigen Leser: Er erkennt, dass er etwas anderes braucht, das seinem Leben Sinn gibt. Deshalb ist der Prediger eine gute Vorbereitung auf die Botschaft des Evangeliums im Neuen Testament. Man hat das Buch mit einer gewissen Berechtigung ein „Prä-Evangelium“ genannt. Es bringt den Leser dahin, den Sinn seines Lebens zu überdenken und den Fragen nachzugehen, die der Prediger stellt. Es kann Bedürfnisse wecken, die latent vorhanden und doch nicht präsent sind. Letztlich muss jeder Mensch zugeben, dass seine wirklichen Bedürfnisse „unter der Sonne“ nicht gestillt werden. Das kann nur einer tun, nämlich Gott.
So gesehen weist der Prediger – wenngleich in einer indirekten Form – auf den Herrn Jesus hin, den jeder Mensch braucht, um seinem Leben Sinn zu geben. Im Gegensatz zu dem dunklen Bild, das der Prediger über das Leben unter der Sonne zeigt, bringt der Herr Jesus Licht in das Dunkel und Perspektive in das Ungewisse. Es scheint gerade die Absicht des Heiligen Geistes zu sein, dem Leser durch die Darstellung der begrenzten irdischen Sicht den Blick in die unendliche Weite des Himmels zu öffnen. Die Botschaft, die sich damit verbindet, ist völlig klar: Wirklicher Sinn im Leben wird nur in einer lebendigen Beziehung zu Gott und Jesus Christus gefunden (Joh 4,13.14). Solange ein Mensch das nicht erkennt und nicht den Wunsch hat, Gottes Willen zu tun, wird sein Leben perspektivlos bleiben und perspektivlos enden. - Sie gilt dem gläubigen Leser: Das Lesen des Predigers stimmt uns Christen einerseits dankbar, dass wir in dem Herrn Jesus einen tiefen Sinn für unser Leben haben. Wir wissen, dass Christus unser Leben ist (Kol 3,4) und wir wissen, dass das Leben für uns Christus ist (Phil 1,21). Nur Er erfüllt das Leben mit Sinn. Andererseits ist der Prediger eine ernste Warnung für uns, nicht wieder neu anzufangen, Sinnbefriedigung in den Dingen der Erde zu suchen. Leider beschränkt sich auch unsere Sicht allzu oft auf das, was die Erde zu bieten hat. Wir suchen das, was auf der Erde und nicht das, was droben ist (Kol 3,1.2). Das kann die Arbeit, die Freizeit, das Vergnügen, die Wissenschaft, die Kultur, die Musik und vieles andere sein – Dinge, die in sich nicht böse sind, die jedoch die wirklichen Bedürfnisse des Gläubigen nie stillen werden.
Der Prediger lehrt uns, dass es darauf ankommt, Gott zu fürchten und seinem Wort zu gehorchen. Wer das tut, kann mit Dank seinem Schöpfer gegenüber zugleich maßvoll die guten irdischen Gaben mit Freude genießen, ohne dabei zu vergessen, dass sie vergänglich sind.
„Gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugendzeit, ehe die Tage des Übels kommen, und die Jahre herannahen, von denen du sagen wirst: Ich habe kein Gefallen an ihnen“ (Kap. 12,1). Die Aufforderung gilt jedem Menschen – ob gläubig oder ungläubig. Es ist nie früh genug, sich zu Gott zu bekehren und den Herrn Jesus in sein Leben aufzunehmen. Es ist nie früh genug, ein hingebungsvolles Leben im Dienst für Gott zu führen und mit Ihm zu leben.
5.3. Falscher Gebrauch
Der Prediger wird häufig von Gegnern des christlichen Glaubens, von bösen Lehrern und Sektenführern missbraucht, um ihre Argumente zu untermauern und ihre Theorien zu unterstützen. Dieses Buch wird dann zitiert, indem bestimmte Verse aus dem Zusammenhang genommen werden. Das gilt z.B. für Fragen, die mit dem Tod verbunden sind (Leugnung der Unsterblichkeit der Seele oder Leugnung der ewigen Verdammnis). Solche Irrlehrer benutzen ganz bewusst nicht den Schlüssel, um das Buch richtig zu verstehen. Sie weisen nicht auf den besonderen Charakter und die Bedeutung des Predigers hin, der sich mit dem beschäftigt, was „unter der Sonne“ ist und nicht die Sichtweise Gottes einnimmt, wie wir sie in anderen Bibelbüchern – und vor allem im Neuen Testament – finden.
6. Von Gott inspiriert
Wer an die wörtliche Inspiration (Eingebung) der Heiligen Schrift glaubt, hat nicht die geringste Mühe damit, dass der Autor durch den Heiligen Geist geleitet, genau das aufgeschrieben hat, was Gott wollte (2. Tim 3,16; 2. Pet 2,21). Dennoch wundert es uns wenig, dass bibelkritische Theologen nicht nur die Verfasserschaft Salomos ablehnen, sondern ebenfalls die Tatsache, dass das Buch durch den Heiligen Geist inspiriert sei. Die Argumente sind ebenso wenig stichhaltig wie die, die sich gegen Salomo als Autor richten.
Ich möchte an dieser Stelle kurz auf drei Argumente eingehen:
- Behauptung: Der Prediger ist ein durchweg pessimistisches, skeptisches, negatives und zum Teil sogar zynisches Buch, weil es über die Trostlosigkeit des irdischen Lebens schreibt und keine Lebensperspektive zeigt. Einige kritische Ausleger meinen sogar, es lehre in Teilen die Abkehr von dem überlieferten hebräischen Glauben.
Antwort: Wenn man einige Abschnitte und Verse – wie z.B. Kapitel 2,22–24; 6,12; 7,15–16; 8,4.5 – liest, könnte man tatsächlich auf diesen irrigen Gedanken kommen. Dennoch trifft die aufgestellte These erstens nur oberflächlich zu und zweitens nur dann, wenn man den Gesamtkontext nicht beachtet und Verse aus dem Zusammenhang nimmt, d.h. den richtigen Schlüssel bewusst beiseitelegt. Die wiederkehrende Feststellung, dass auf dieser Erde alles eitel und ein Haschen nach Wind ist, erinnert an die Worte des Herrn Jesus: „Denn was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele einbüßt?“ (Mt 16,26). Nachdem Salomo alles probiert hat, auf dieser Erde Glück und Befriedigung zu finden, kommt er zu der Feststellung, dass dies ohne Gott unmöglich ist. Wer einmal verstanden hat, welches die Botschaft des Buches ist und wie es aufgebaut ist, hat eine andere Perspektive. Es war Gott wichtig, die Enttäuschungen eines Menschen festzuhalten, der das Glück in den vergänglichen Dingen dieser Erde gesucht und nicht gefunden hat. Es stimmt natürlich, dass wir in diesem Buch nichts von dem Lob Gottes, von seiner Erlösung, seiner Barmherzigkeit und seiner Gnade lesen. Es war nicht die Aufgabe des Predigers, darüber zu schreiben. Dennoch zeigt das Ende des Buches, was Gottes finale Absicht ist, uns gerade dieses Buch zu geben. - Behauptung: Der Prediger beinhaltet falsche (unwahre) Aussagen, die Gott wohl keinem Menschen offenbaren würde.
Antwort: Diese These zeigt, dass man den Unterschied zwischen Offenbarung und Inspiration nicht unterscheidet. Gott hat den Schreibern der Bibel viele Dinge offenbart, die sie nicht wissen konnten (z.B. die Weissagungen des Buches Daniel im Alten Testament oder die Offenbarung des Geheimnisses von Christus und seiner Versammlung im Neuen Testament). Dinge, die vorher unbekannt waren, mussten zwangsläufig offenbart werden. Vieles, was die Schreiber unter der Leitung des Heiliges Geistes aufgeschrieben haben, war jedoch vorher schon bekannt. Es musste nicht offenbart werden. A.C. Gaebelein schreibt zutreffend: „Sowohl das von Salomo Herausgefundene als auch die Schlussfolgerungen, zu denen er gelangte, und die von ihm während der Zwiesprache mit seinem Herzen entdeckten Dinge sind in diesem Buch aufgrund göttlicher Inspiration festgehalten worden... Sie beinhaltet keine Offenbarung, wodurch der Mensch geführt werden könnte. In ihr wird nichts hinsichtlich der über der Sonne befindlichen oder zukünftigen Dinge geoffenbart“.18 Alles, was in der Bibel steht, ist von Gott inspiriert (d.h. eingehaucht), weil Gott wollte, dass es Teil seines Wortes wurde. Selbst in sich falsche Aussagen können unter der Leitung des Heiligens Geistes in das Wort Gottes aufgenommen worden sein. Denken wir nur an die erste Aussage des Teufels, als er Eva versprach, sie und Adam würden sein wie Gott (1. Mo 3,5). Oder denken wir an den Vorwurf der Menschen, der Herr sei ein Fresser und Weinsäufer (Mt 11,19). Niemand würde wohl ernsthaft behaupten, diese Aussagen seien dem Teufel bzw. den Menschen von Gott eingegeben worden oder sie seien wahr. Fakt ist vielmehr, dass der Heilige Geist Mose bzw. Matthäus geleitet hat, sie in ihren Büchern aufzunehmen. So ist es auch mit einigen Aussagen des Predigers. Niemand würde z.B. behaupten, dass die Aussagen in Kapitel 2,24 und 3,19 – absolut gesehen – wahr sind. Zu einer solchen Einschätzung kommt ein Mensch, wenn er das Geschehen auf dieser Erde nur mit dem menschlichen Auge anschaut. Der Sinn des Lebens und die Perspektive auf das Jenseits bleiben ihm verborgen. Die Worte entsprachen also dem Empfinden des Predigers und Gott hat es so geführt, dass sie Teil seines Wortes geworden sind, um uns zu warnen. - Behauptung: Der Autor hat keine erkennbare Lebensbeziehung zu Gott und deshalb wird er wohl kaum zu den „heiligen Menschen“ Gottes gehören, die Er zum Schreiben der Bibel benutzt hat (2. Pet 2,21).
Antwort: Die These hat in der Tat viele Bibelleser verwirrt. Sie hält einer Überprüfung allerdings ebenfalls nicht stand. Es ist wahr, dass der Verfasser den Namen „Jahwe“ (der Herr, der Ewige) nicht benutzt. Das ist in Übereinstimmung mit seiner Sichtweise und seiner Botschaft. Er schreibt nicht über die persönliche Glaubens- und Bundesbeziehung eines Menschen zu Gott (Jahwe), sondern er sieht die Dinge, wie sie „unter der Sonne“ sind. Deshalb spricht er über Gott (Elohim), mit dem jeder Mensch auf der Erde als Schöpfer in Beziehung steht. Dieser Gott wird häufig erwähnt und es ist durchaus nicht zu erkennen, dass er keine Lebensbeziehung zu Ihm hatte. Der Verfasser ist also keineswegs ein Atheist oder Ungläubiger. Er kennt Gott, als den Schöpfer, als den der gibt, der handelt, der sich um Menschen kümmert, den sie fürchten sollen und der einmal richten wird. Es wird darüber hinaus beim Lesen des Buches deutlich, dass er das Gesetz und die Vorschriften Gottes an sein irdisches Volk kannte.
Obwohl der Prediger – wie es scheint – manchmal den Standpunkt eines natürlichen Menschen einnimmt, der das Leben ohne das Licht der Offenbarung Gottes beschreibt, hat er sehr wohl persönlich eine Beziehung zu Gott. Er ist und bleibt ein Glaubender und so schreibt er auch. Wenn es anders wäre, könnte er manche Aussage nicht treffen. Der wiederholte Ausspruch „Alles ist Eitelkeit“ ist folglich nicht einfach ein Ausdruck von Verzweiflung, sondern eher eine nüchterne und sachliche Feststellung, die ein Gläubiger trifft, wenn er die Dinge „unter der Sonne“ betrachtet. Der Prediger weiß von Anfang an, dass er bleibende Werte in der Beziehung zu Gott bekommen kann. Er lässt nicht Gott außer Acht, sondern kennt Ihn und fürchtet Ihn. Das bestätigen viele Aussagen in seinem Buch. Als Beispiel sei Prediger 8,12.13 erwähnt, wo wir lesen „dass es denen, die Gott fürchten, wohl ergehen wird, weil sie sich vor ihm fürchten; aber dem Gottlosen wird es nicht wohl ergehen“. Der Prediger kennt also Gott. Allerdings lässt er die eigentliche Weisheit Gottes bei vielen seiner Überlegungen unberücksichtigt. Fast alle Aussprüche finden ihren Ursprung in der menschlichen Weisheit.19
Wenn also jemand die Frage stellt, warum es Gottes Absicht war, ein solches Buch in die Bibel aufzunehmen, kann die Antwort nur lauten, dass Er verhindern wollte, dass andere Menschen die gleiche Erfahrung machen wie der Prediger und erst gar nicht versuchen, das Glück und den Lebenssinn dort zu suchen, wo man ihn nicht finden kann.
7. Gliederung
Das Buch ist in einem sehr lebendigen Stil geschrieben. Man kann die 12 kurzen Kapitel problemlos hintereinander durchlesen. Allerdings scheint es schwieriger, einen klaren Aufbau zu erkennen. Die einzelnen Themen werden, ähnlich wie wir es aus dem Buch der Sprüche kennen und wie es dem orientalischen Denken entspricht, auf den ersten Blick nicht unbedingt systematisch nacheinander erarbeitet, sondern zum Teil in immer neuen Zusammenhängen wiederholt. Dennoch hat das Buch einen roten Faden, denn alles läuft auf das Ende zu, wo uns gezeigt wird, was das Ziel der Belehrungen dieses Buches ist. Es würde dem Anliegen des Predigers nicht gerecht, wenn man behauptet, dass es unsystematisch ist. Insofern ist es nicht korrekt davon zu sprechen, dass eine Analyse des Buches wegen der fehlenden Struktur nicht möglich sei. Die richtige Erklärung steht und fällt vielmehr mit der Frage, ob man den Standpunkt des Schreibers versteht oder nicht.
Das Buch ist nämlich durchaus eine thematische Einheit und mit einem bestimmten Ziel aufgebaut. Es ist nicht einfach eine lose Sammlung von Weisheitssprüchen, sondern es gibt eine klar erkennbare Argumentationskette, die zu der Schlussfolgerung ganz am Ende führt. Zuerst wird gezeigt, dass das menschliche Streben eitel ist. Dann lernen wir, dass alle menschlichen Errungenschaften und selbst die Arbeit eitel sind. Drittens wird deutlich, dass sogar die menschliche Weisheit unter die Kategorie „Eitelkeit“ und „Haschen nach Wind“ fällt. Kein Mensch kann Gottes Plan ergründen und kein Mensch erkennt – ohne Gott – die Zukunft. Dann folgen das große Finale und die Schlussfolgerung.
Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, das Buch einzuteilen. Viele Ausleger weisen darauf hin, dass es zwei Hauptteile von jeweils sechs Kapiteln gibt. Hinzu kommen die Einleitung und der Schluss. Im ersten Haupteil beschreibt der Prediger seine Beobachtungen, die ihn immer wieder zu der Schlussfolgerung kommen lassen, dass alles auf dieser Erde ein Haschen nach Wind ist. Die Suche des Predigers nach Sinnhaftigkeit des Lebens wird ausführlich beschrieben. Im zweiten Teil geht es immer noch um die Fragen, die ein Mensch hat, wenn er die Dinge „unter der Sonne“ besieht. Dennoch ist der Stil anders als im ersten Teil, denn der Prediger gibt eine Reihe von weisen Ratschlägen, die für Menschen gelten, die auf der Erde leben. Eingeschoben sind immer wieder kurze Zwischenfazits, die dann am Ende in den Schlussakkord münden, dass der Mensch Gott fürchten und seine Gebote halten soll.
Teil 1: Einleitung (Kapitel 1,1–15)
- Überschrift (Kapitel 1,1)
- Erste Beobachtung: Wiederkehrende Kreisläufe (Kapitel 1,2–11)
- Der Prediger stellt sich und sein Projekt vor (Kapitel 1,12–15)
Teil 2: (Kapitel 2–6)
- Zweite Beobachtung: Weisheit und Torheit (Kapitel 1,16–18)
- Dritte Beobachtung: Lebensfreude und schöpferische Tätigkeit (Kapitel 2,1–11)
- Vierte Beobachtung: Weisheit und Einsicht (Kapitel 2,12–23)
- Zwischenfazit: alles hängt von Gottes Hand ab (Kapitel 2,24–26)
- Fünfte Beobachtung: alles hat seine Zeit (Kapitel 3,1–8)
- Zweites Zwischenfazit: Gott hat die Ewigkeit in das Herz des Menschen gelegt (Kapitel 3,9–15)
- Sechste Beobachtung: Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (Kapitel 3,16–17)
- Siebte Beobachtung: Der Kreislauf von Leben und Tod (Kapitel 3,18–22)
- Achte Beobachtung: Das Miteinander von Menschen (Kapitel 4,1–16)
- Erste Ratschläge (Kapitel 4,17–5,8)
- Neunte Beobachtung: Der Reichtum des Menschen (Kapitel 5,9–16)
- Drittes Zwischenfazit: Was Gott bestimmt (Kapitel 5,17–19)
- Zehnte Beobachtung: Menschliche Vorzüge (Kapitel 6,1–12)
Teil 3 (Kapitel 7–12): Weisheitssprüche und weitere Ratschläge des Predigers
- Was besser ist (Kapitel 7,1–12)
- Aufforderung zum ausgeglichenen Leben (Kapitel 7,13–24)
- Warnung vor dem anderen Geschlecht (Kapitel 7,25–28)
- Viertes Zwischenfazit: Gott hat den Menschen aufrichtig (gerade) erschaffen (Kapitel 7,29)
- Verhalten der Regierung gegenüber (Kapitel 8,1–5)
- Ohnmacht und Machtlosigkeit des Menschen (Kapitel 8,6–8)
- Gerechte und gottlose Menschen (Kapitel 8,9–15)
- Fünftes Zwischenfazit: Das göttliche Walten ist unergründlich (Kapitel 8,16–17)
- Alles ist gleich für alle (Kapitel 9,1–6)
- Tun, was wir zu tun vermögen (Kapitel 9,7–12)
- Die Weisheit des armen Mannes (Kapitel 9,13–18)
- Weisheit und Irrtum (Kapitel 10,1–20)
- Der Wert des Fleißes (Kapitel 11,1–6)
- Das Alter und die Jugend (Kapitel 11,7–12,8)
Teil 4: Das Fazit des Predigers: Das Leben im Licht der Ewigkeit (Kapitel 12,9–14)
Fußnoten
- 1 J.N. Darby: The Book of Proverbs (in: Synopsis of the Books of the Bible)
- 2 Das Wort „Sohn Davids“ ist jedoch in sich noch kein direkter Beweis, dass es sich um Salomo handelt. Das Wort beschreibt männliche Nachkommen im weitesten Sinn. Selbst Christus wird als „Sohn Davids“ bezeichnet, obwohl Er viele Jahrhunderte später geboren wurde.
- 3 Es bleibt eine Frage, die wir nicht mit letztlicher Sicherheit beantworten können, ob Salomo das Buch geschrieben hat, bevor er von seinem Gott abwich, oder ob er es nachher geschrieben hat. Wenn er es nachher geschrieben hat – was man sehr stark annehmen kann – so muss man davon ausgehen, dass er am Ende seines Lebens zu Gott umgekehrt ist. Durch schmerzliche Erfahrung hatte Salomo tatsächlich erfahren, dass keine einzige Errungenschaft auf dieser Erde ohne Gott wirkliche Sinnbefriedigung gibt. Aus dem Tonfall des ganzen Buches können wir nur schließen, dass Salomo seine Torheit bereute und sein Leben am Ende in Ordnung gebracht hat. Einige Ausleger versuchen, das mit 2. Samuel 7,14.15 zu beweisen, was m.E. allerdings nicht wirklich schlüssig ist.
- 4 Die Hauptstadt Jerusalem wird fünf Mal erwähnt (Pred 1,1.12.16; 2,7.9) und ist jedes Mal mit der Regierung des Verfassers verbunden
- 5 In einem jüdischen Kommentar (Midrasch Kohelet) aus dem Mittelalter bezeugen die Autoren (eine Gruppe von gelehrten Rabbinern des Altertums) eindeutig die Verfasserschaft Salomos. Im Targum – einer antiken Übersetzung der Bibel – wird ebenfalls Salomo als Autor genannt.
- 6 Vgl. dazu ausführlich bei Gleason L. Archer: New International Encyclopaedia of Bible Difficulties
- 7 Der Name Herr (Jahwe) ist besonders mit der persönlichen Beziehung verbunden, die Gott zu Menschen und vor allen Dingen zu seinem Volk Israel hat
- 8 Es gibt Ausleger, die die Bezeichnung „Prediger“ als einen Eigennamen (nämlich Kohelet) auffassen, allerdings deutet alles darauf hin, dass es sich nicht um einen Namen, sondern um einen Titel handelt.
- 9 In der Septuaginta (griechische Übersetzung des Alten Testamentes) steht hier ein Wort, das mit „ekklesia“, d.h. Versammlung verwandt ist. Deshalb geben anderssprachige Bibelausgaben dem Buch den Titel „Ecclesiastes“ oder ähnlich.
- 10 H. Rossier: Le Livre d'Ecclesisastes
- 11 Das Fest finden wir nicht in der Bibel. Es findet im 5. Monat des jüdischen Kalenders statt. Am gleichen Tag zerstörten später die Römer den Tempel des Herodes.
- 12 Man mag sich die Frage stellen, was dieses Buch gerade mit dem Laubhüttenfest verbindet. Der Gedanke liegt nahe, dass es die Freude ist. Das Laubhüttenfest ist ein Fest der Freude (3. Mo 23,40; 5. Mo 16,14.15) und der Prediger spricht wiederholt von „Freude“ (Pred 2,1.2.10,26; 3,12.22; 4,16; 5,18.19; 7,4; 8,15; 9,7; 11,8.9).
- 13 Das Wort „Gewinn“ (Vorteil, Überschuss, was als Profit übrigbleibt) kommt nur im Buch Prediger vor und zwar zehn Mal
- 14 W. Kelly: The Book of Ecclesiastes
- 15 A.C. Gaebelein: The Book of Ecclesiastes (in: The annotated Bible)
- 16 Drei Mal heißt es „Eitelkeit der Eitelkeiten“- zweimal am Anfang (Pred 1,2) und einmal am Ende (Pred 12,8). Das ist ein Superlativ, der etwas beschreibt, was völlig sinnlos ist.
- 17 Aurelius Augustinus: Die Bekenntnisse des Heiligen Augustinus
- 18 A.C. Gaebelein: The Book of Proverbs, in: The annotated Bible
- 19 Das muss man unbedingt beachten, wenn man die Aussagen dieses Buches mit den Aussagen im Buch der Sprüche vergleicht. Im Buch der Sprüche finden wir göttliche Weisheit, während der Prediger überwiegend von menschlicher Weisheit spricht. Deshalb ist bei der Anwendung der einzelnen Verse eine gewisse Vorsicht nötig. Wenn wir im Buch des Predigers z.B. lesen, dass eine Sache besser ist als eine andere (vgl. Pred 4,2-6; 6,3; 7,1-9; 9,4), oder dass dieses oder jenes das Beste ist, das man tun kann (vgl. Pred 2,24; 5,18; 9,9), dann mag das aus dem Blickwinkel der menschlichen Weisheit stimmen. Aus dem Blickwinkel Gottes ist es allerdings völlig anders. Der Prediger beschreibt also nicht unbedingt die absolute, göttliche Wahrheit. Deshalb sind im Licht der vollen Offenbarung Gottes manche Ratschläge und Schlussfolgerungen des Predigers zwar gut und richtig, andere dagegen weniger gut und sogar falsch.