Das Buch Ruth – praktische Lektionen für das Glaubensleben des Christen
Einleitung
Es gibt viele Bibelbücher, deren Verfasser Männer sind. Nur zwei Bücher tragen den Namen einer Frau. Das fällt auf. Es sind die Bücher Ruth und Esther. Beide Bücher haben Gemeinsamkeiten und zugleich markante Unterschiede. Das Buch Ruth beschreibt die Geschichte eines armen Heidenmädchens, das nach Juda kommt und dort einen reichen israelitischen Mann (einen Großgrundbesitzer) heiratet. Das Buch Esther beschreibt die Geschichte eines armen jüdischen Mädchens, das unter den Heiden im Exil lebt und dort einen reichen heidnischen Mann (einen König) heiratet. Beide Frauen sind gekennzeichnet von Gottesfurcht, Liebe, Treue und Hingabe und sind damit als Beispiele für uns gut geeignet.
Das Buch Ruth ist ein sehr kurzes Buch. Es besteht nur aus vier Kapiteln mit insgesamt 85 Versen. Man kann es in einer guten halben Stunde durchlesen. Es ist beim Lesen einer Textauslegung immer wichtig, den Bibeltext vorher zu lesen. Nur dann kann man einen maximalen Nutzen aus einer Auslegung ziehen.
Auf den ersten Blick beschreibt das Buch eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte. Einem überaus traurigen Beginn folgt ein Happy End. Die arme Moabitin heiratet den reichen Boas. Die Geschichte lebt von markanten Kontrasten. Sie spricht von Weggang und Rückkehr, von Leid und Freude, von Trauer und Glück, von Tod und Leben. Und trotzdem ist es mehr als das. Das Buch ist mehr als ein geschichtliches Buch irgendwann in der Zeit der Richter.
Das Buch Ruth ist für jeden, der es liest, von großer praktischer Relevanz, denn es enthält viele Lektionen für das tägliche Leben des Christen1 – sei er jung oder älter. Darüber hinaus macht uns das Buch Ruth unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus groß. Wir lernen Ihn in seiner Gnade und seiner Erlöserherrlichkeit kennen. Das Buch Ruth gehört zu den Schriften, die von unserem Herrn zeugen (Joh 5,39)2. Das ist vielleicht der größte Wert dieses kleinen Buches.
Der geschichtliche Hintergrund
Die Ereignisse im Buch Ruth führen uns in die traurige Zeit des Buches der Richter (Kap 1,1), eine Zeit, in der jeder in jeder Hinsicht – sittlich, moralisch, zivilrechtlich, religiös – tat, was ihm selbst gefiel (vgl. Ri 17,6 und 21,25). Der Wille Gottes wurde an die Seite gestellt und durch den eigenen Willen ersetzt. Das mag uns bekannt vorkommen, denn so ähnlich wie damals leben viele Menschen heute. Sie nennen sich Christen (so wie die Leute damals zum Volk Israel gehörten) und doch gleichen sie einer Mogelpackung. Sie fragen nicht nach Gottes Willen, sondern tun das, was ihnen gefällt (2. Tim 3,1–9). Gerade in dieser Zeit lebt Ruth, die mit Boas in Kontakt kommt und damit das Bild eines zum Glauben gekommenen Menschen ist, der den Herrn Jesus kennenlernt. Man hat das Buch Ruth mit einer Lilie in einem Dornenfeld verglichen. Statt Szenen des Abfalls, der Untreue und Unmoral (Buch der Richter) erleben wir Szenen der Hingabe, Treue, Reinheit und Liebe.
Der geschichtliche Hintergrund wird vielen Lesern wahrscheinlich bekannt sein. Deshalb nur ganz kurz:
Elimelech – ein vermutlich nicht ganz armer Mann – aus Bethlehem-Juda trifft die folgenschwere Entscheidung, seine Heimatstadt Bethlehem wegen einer Hungersnot zu verlassen. Seine Familie (Frau und Kinder) nimmt er mit. Sie gehen nach Moab, in der Hoffnung, dort Brot zu finden. Der Weg endet im Desaster. Sie erfahren die Wahrheit der Worte Salomos: „Da ist ein Weg, der einem Menschen gerade erscheint, aber sein Ende sind Wege des Todes“ (Spr 14,12; 16,25). Der Vater und beide Söhne sterben. Noomi bleibt als Witwe mit ihren beiden Schwiegertöchtern Ruth und Orpa zurück.
Dann kommt die Nachricht, dass Gott seinem Volk wieder Brot gegeben hat. Noomi macht sich auf die Reise, um nach Bethlehem zurückzukehren. Ihre beiden Schwiegertöchter gehen mit ihr. Doch unterwegs trennen sie sich. Orpa kehrt – wenn auch unter Tränen – in ihre Heimat zurück, während Ruth durch nichts zu bewegen ist, ihre Schwiegermutter zu verlassen. Sie geht mit ihr. Ihre Entscheidung steht fest.
In Bethlehem angekommen, sorgt Ruth für den Lebensunterhalt beider Frauen. Sie geht auf ein Feld, um Ähren aufzusammeln. Unter der Vorsehung Gottes trifft sie „zufällig“ auf ein Feld, das einem Verwandten ihres Schwiegervaters – nämlich Boas – gehört. Dort wird sie reichlich gesegnet. Und nicht nur das. Durch den Segen lernt sie den kennen, der den Segen gibt. Weil Boas ein Verwandter ist, kommt er als Löser für das verloren gegangene Erbteil in Frage3. Boas löst allerdings nicht nur das Erbteil, sondern vor allem Ruth. Er gewinnt sie lieb, und sie wird seine Frau. Der erste Sohn, der geboren wird, ist einer der Großväter des Königs David.
So beginnt dieses kleine Buch mit dem Hinweis, dass jeder tat, was ihm gerade passte, und es endet mit einem Hinweis auf David, ein Bild unseres Herrn Jesus. Das Buch Richter endet mit der Feststellung, dass kein König in Israel war (Ri 21,25). Das Buch Ruth endet mit dem Namen des Königs nach dem Herzen Gottes (Apg 13,22). Diese Unterschiede müssen jedem aufmerksamen Bibelleser auffallen.
Die handelnden Personen
Abgesehen von den zehn Namen in dem Geschlechtsregister am Ende des Buches werden sieben Personen mit Namen genannt. Es handelt sich um Elimelech, Noomi, Machlon, Kiljon, Ruth, Orpa und Boas. Anonym bleiben der Knecht, der über die Schnitter bestellt ist (Kap 2,5.6) sowie der nähere Blutsverwandte, der Ruth weder lösen konnte noch lösen wollte (Kap 3,12; 4,1–6).
Es ist klar, dass drei Personen die Hauptrolle spielen, nämlich Noomi, Ruth und Boas. Diese drei wollen wir uns kurz anschauen:
- Noomi: Ihr Name bedeutet „die Liebliche“. Das mag sie gewesen sein, bevor sie von Bethlehem wegzog. Danach änderte sich alles. Sie wollte Mara (die Bittere) genannt werden. Erst zum Ende des Buches trägt sie ihren Namen Noomi zu Recht. Sie zeigt uns das Bild eines Gläubigen, der seinen Weg mit dem Herrn verloren hat und ihn dann wiederfindet. Somit wird sie – genauso wie ihre Schwiegertochter – ein Gegenstand der Gnade, d. h. der unverdienten Zuwendung Boas.
- Ruth: Ihr Name bedeutet „Gefährtin, Freundin (oder Schönheit)“: Für Noomi erwies sie sich in der Tat so. Beide Frauen teilen das Leid und die Freude. Boas erkennt ihre Schönheit – und vor allem ihre moralischen Qualitäten. Sie war anders als die meisten jungen Frauen in Bethlehem. Ruth zeigt uns das Bild eines jungen Gläubigen, der sich bekehrt hat und dann den Herrn Jesus immer besser kennenlernt.
- Boas: Sein Name bedeutet „In Ihm ist Stärke“. Boas macht seinem Namen alle Ehre. Er ist ein vermögender Mann, der fähig und willig ist, das Erbteil Elimelechs und Ruth selbst zu erlösen. Er tut es aus Liebe zu Ruth und ist damit ein sehr zutreffendes Bild von dem Herrn Jesus, der uns erlöst und sich mit uns untrennbar verbunden hat – wie ein Mann mit seiner Frau.
Die praktische Bedeutung des Buches Ruth
Das Buch Ruth hat neben der bereits erwähnten historischen und prophetischen Bedeutung vor allem eine große praktische Relevanz für uns als Christen4. Wer das Buch aufmerksam liest, lernt viel. Eine wesentliche Lektion besteht darin, dass wir einerseits immer das ernten, was wir säen (vgl. Gal 6,7), dass aber andererseits Gott in dem Herrn Jesus auf den krummen Lebenslinien eines Menschen immer noch gerade schreiben kann. Wir sind beeindruckt von der Treue und dem gnädigen Eingreifen Gottes. Der wendet sich einer Frau aus Moab zu, die – dem Gesetz folgend – überhaupt kein Anrecht an dem Segen Israels hatte.
- In Elimelech sehen wir das Bild eines Gläubigen, der die Gemeinschaft mit seinem Herrn verlassen hat, der eine falsche Entscheidung trifft, unter der nicht nur er selbst, sondern seine ganze Familie zu leiden hat.
- In Noomi sehen wir die wiederherstellende Gnade im Leben eines Gläubigen. Bei Gott gibt es immer einen Weg zurück. Unser Weg muss nicht in einer Sackgasse enden. Die Gnade bringt das in Ordnung, was wir verdorben haben.
- Orpa zeigt uns das traurige Bild eines Menschen, der in Kontakt mit der göttlichen Wahrheit war, die ersten richtigen Schritte gegangen ist und trotzdem keine Entscheidung getroffen hat.
- Ruth hingegen ist das Bild eines jung bekehrten Gläubigen, der sich mit dem Wort Gottes beschäftigt, so den Herrn Jesus besser kennenlernt und dadurch in eine enge persönliche Beziehung zu Ihm kommt.
- Boas ist – wie schon angemerkt – ein herrliches Bild von unserem Herrn, der uns in seiner unbegreiflichen Gnade begegnet ist, der uns erlöst hat, der uns segnet und uns in die engste persönliche Verbindung mit sich selbst bringt, die wir uns nur denken können.
Das Buch Ruth behandelt darüber hinaus eine Vielzahl von praktischen Themen, die mit dem Alltagsleben des Christen zu tun haben. Sie betreffen u. a. das persönliche Leben, das Familienleben, das Berufsleben, die Hingabe an und den Dienst für den Herrn und den Umgang mit Gottes Wort. Wir werden auf einige dieser Punkte zurückkommen.
Boas – ein Bild unseres Herrn
Man kann lange darüber nachdenken, wer eigentlich die Hauptperson im Buch Ruth ist. Ist es Ruth oder ist es Boas? Für beide Ansichten gibt es gute Argumente. Für mich ist es Boas, denn ohne ihn hätte es für Ruth keinen guten Ausgang gegeben. So oder so lohnt es sich, diesen Mann, der ein Bild von unserem Herrn Jesus ist, etwas näher zu besehen.
Er wird in Kapitel 2,1 als ein Verwandter Elimelechs vorgestellt, als ein vermögender Mann. Im Verlauf der Geschichte lernen wir, dass er allen Bedürfnissen Ruths entspricht, sie erlöst und zu seiner Frau nimmt. Das alles spricht von dem Herrn Jesus:
- Boas ist ein Verwandter Elimelechs: Das erinnert daran, dass der Herr Jesus das geworden ist, was wir waren, nämlich ein Mensch – natürlich im Gegensatz zu uns ohne Sünde (Heb 4,15). Nur weil Boas mit Elimelech verwandt war, konnte er Ruth lösen. Der Herr Jesus konnte uns nur erlösen, indem Er Mensch wurde. Der eine Mittler zwischen Gott und Menschen ist niemand anderes als der „Mensch Christus Jesus“ (1. Tim 2,5). Um uns Menschen an dem Segen Gottes teilhaben zu lassen, hat der Herr Jesus sich unendlich tief erniedrigt und ist Mensch geworden. Anders als Boas musste der Herr Jesus allerdings mit seinem Leben bezahlen, um uns zu erlösen. Er ist das geworden, was wir waren, damit wir Anteil an Ihm haben konnten.
- Boas war reich und vermögend: Boas war Großgrundbesitzer, der offensichtlich über ein gutes Vermögen verfügt. Er war deshalb in der Lage, das Lösegeld zu bezahlen, das für Ruth nötig war. Ruth war der Inbegriff von Elend und Not. Sie konnte nichts einfordern. Sie war völlig auf Hilfe von Dritten angewiesen. Diese Hilfe fand sie bei Boas. Doch Boas schenkte ihr weit mehr, als sie sich erträumen konnte. Das erinnert uns an den Herrn Jesus, der reich ist für alle und der sich uns gnädig zugewandt hat, um uns zu helfen. Paulus spricht in Epheser 1,7 von der Erlösung durch sein Blut – und zwar nach dem „Reichtum seiner Gnade“. Er hat uns mehr geschenkt, als wir nötig hatten. Er hat uns nicht nur erlöst (so groß das ist), sondern eng mit sich selbst verbunden.
Das Buch Ruth macht uns die Erlöserherrlichkeit unseres Heilandes besonders groß. Deshalb lohnt es sich, beim Lesen ein besonderes Augenmerk auf Boas zu richten. Der Herr Jesus hat uns erlöst (1. Pet 1,18.19). Dafür hat Er den hohen Preis bezahlt, den niemand als nur Er bezahlen konnte. Wir gehören heute zu den glücklichen Erlösten des Herrn.
Boas hatte erstens das Recht, Ruth zu lösen, weil er ein Verwandter Elimelechs war. Zweitens war er fähig, sie zu lösen, weil er reich war. Und drittens war er bereit, Ruth zu lösen, weil er sie liebte. Fällt es uns schwer, darin den Herrn Jesus zu sehen? Er hat uns nicht nur erlöst, weil niemand anders es konnte, sondern Er hat es getan, weil Er dich und mich geliebt hat (Gal 2,20). Das ist etwas, was unser Fassungsvermögen einfach übersteigt. Dafür können wir Ihm nur danken, Ihn loben und anbeten.
Einteilung und Gliederung
Man kann das Buch Ruth auf unterschiedliche Weise einteilen. Denken wir an Ruth selbst, können wir die vier Kapitel wie folgt zusammenfassen:
- Kapitel 1: Ruth ist eine Fremde, die unterwegs ist und eine wichtige Entscheidung trifft
- Kapitel 2: Ruth ist eine Ährenleserin, die mit großem Fleiß auf dem Feld arbeitet und gesegnet wird
- Kapitel 3: Ruth ist eine Bittende, die auf der Tenne des Boas ist und dort auf seine Anweisung wartet
- Kapitel 4: Ruth ist Ehefrau und Mutter, die bei Boas ihre Erfüllung findet
Aus göttlicher Sicht finden wir in Kapitel 1 die rettende Gnade, in Kapitel 2 die unterweisende Gnade, in Kapitel 3 die ruhebringende Gnade und in Kapitel 4 schließlich die Frucht der Gnade.
Wenn man die Ereignisse berücksichtigt, die in den einzelnen Kapiteln mitgeteilt werden, kann man das Buch wie folgt strukturieren:
Kapitel 1: Von Bethlehem nach Moab und zurück
- Verse 1–5: Eine folgenschwere Entscheidung
- Verse 6–14: Ruth und Orpa
- Verse 15–18: Ruths Glaubensbekenntnis
- Verse 19–22: Zurück in Bethlehem
Kapitel 2: Auf dem Feld des Boas
- Vers 1: Boas
- Verse 2.3: Ruth setzt ihre Entscheidung um
- Verse 4–13: Ruth begegnet Boas
- Verse 14–16: Pausenzeit
- Verse 17–23: Ruth kehrt zu Noomi zurück
Kapitel 3: Auf der Tenne des Boas
- Verse 1–5: Ein guter Rat von Noomi
- Verse 6–13: Zu den Füßen von Boas
- Verse 14–18: Sechs Maß Gerste
Kapitel 4: An der Seite von Boas
- Verse 1–8: Der andere Blutsverwandte
- Verse 9–12: Ruth wird gelöst
- Verse 13–17: Boas heiratet Ruth und bekommt einen Sohn
- Verse 18–22: Von Perez bis David
Dieser Einteilung werden wir im weiteren Verlauf folgen.
Fußnoten
- 1 Das Buch Ruth hat darüber hinaus eine prophetische Bedeutung für das Volk Israel. Es beschreibt in bildhafter Sprache ein Stück der Geschichte des irdischen Volkes Gottes – seine Entfernung von Gott, den Verlust aller Anrechte an dem Segen Gottes und schließlich die Annahme durch den Messias auf der Grundlage der Gnade. Wer daran interessiert ist, kann von dem gleichen Verfasser auf Bibelkommentare.de eine ausführlichere Einführung in das Buch Ruth lesen. Dort wird dieser Punkt gesondert behandelt. Noch ausführlicher sind die beiden Auslegungen von W. J. Hocking (The Book of Ruth, in: www.stempublishing.com) und F. W. Grant (The Book of Ruth, in: The Numerical Bible). In dieser Bibelarbeit klammern wir den prophetischen Aspekt bewusst aus und konzentrieren uns auf die praktischen Aspekte.
- 2 Die Schriften des Alten Testaments sprechen in unterschiedlicher Art und Weise von unserem Herrn. Zum einen gibt es eine Vielzahl von direkten Weissagungen, die sich bei der Geburt, im Leben, im Sterben und in der Auferstehung des Herrn Jesus erfüllt haben. Zum anderen gibt es eine Reihe von Personen, die etwas von den Wesenszügen unseres Herrn vorschatten (z.B. Joseph, Mose, Aaron, Josua, David, Salomo und viele andere). Boas gehört ebenfalls dazu. Hinzu kommen die Opfertiere, bestimmte Gegenstände (z.B. die Bundeslade) oder Ereignisse (z.B. der Durchzug durch das Rote Meer und den Jordan), die uns auf den Herrn Jesus hinweisen. Man geht wohl kaum zu weit, wenn man sagt, dass es kein Blatt der Bibel gibt, in dem wir nicht unseren Herrn finden können.
- 3 Vgl. dazu die Vorschrift in 3. Mose 25,25
- 4 Es gibt gute Auslegungen zum Buch Ruth, die gerade diese praktische Seite behandeln (z. B. H. Smith, Das Buch Ruth)