Das wahrhaftige Licht
Eine Auslegung zum Johannesevangelium
Einleitung
Das Johannesevangelium ist das Evangelium, das vorrangig die Herrlichkeit des Sohnes Gottes offenbart. Die anderen drei Evangelien stellen andere Herrlichkeiten unseres Herrn vor:
- Matthäus zeigt uns Ihn als Messias in seiner amtlichen Herrlichkeit.
- Markus beschreibt Ihn als Diener in der Herrlichkeit seiner Erniedrigung.
- Lukas stellt Ihn als Sohn des Menschen in seiner moralischen Herrlichkeit vor.
Johannes aber hat das große Vorrecht, Ihn als Sohn Gottes in seiner persönlichen Herrlichkeit zu beschreiben.
Christus wird uns als eine göttliche Person gezeigt, und das beinhaltet die Offenbarung aller Personen der Gottheit. Das Evangelium beginnt, indem es uns die Herrlichkeiten des Sohnes beschreibt; im weiteren Verlauf werden uns dann das Herz des Vaters (Kap. 1,18), die Hand des Vaters (Kap. 5,17) und das Haus des Vaters (Kap. 14,1–3) offenbart; daran anschließend finden wir eine umfassende Darstellung des Heiligen Geistes.
Außerdem stellt uns dieses Evangelium einen neuen Menschen nach einer völlig neuen Ordnung vor: Der Herr spricht von sich selbst als dem „Sohn des Menschen, der im Himmel ist“ (Kap. 3,13), dem Sohn des Menschen, „der aus dem Himmel herabkommt“ (Kap. 6,33.50) und dem Sohn des Menschen, der „dahin auffahren wird, wo er zuvor war“ (Kap. 6,62). Christus wird uns hier also von zwei Seiten gezeigt: Er ist der eingeborene Sohn, der den Vater offenbart – und als Sohn des Menschen stellt Er den Menschen einer neuen Ordnung vor: ein Mensch, der auf der Erde wandelt und im Himmel wohnt.
Um diese unterschiedlichen Herrlichkeiten Christi herauszustellen, verwendet Johannes verschiedene Bilder:
- In Johannes 2 ist Christus der Tempel, in dem die Herrlichkeit Gottes wohnt;
- in Johannes 6 ist Er das wahre Brot, das aus dem Himmel gegeben wird, um den Hunger der Menschen zu stillen;
- in Johannes 8 und 9 ist Er das Licht der Welt, das die Menschen aus der Dunkelheit herausführt;
- in Johannes 10 ist Er der Hirte, der seine Schafe aus dem alten jüdischen Schafhof herausbringt und in einer neuen (christlichen) Herde zusammenführt;
- in Johannes 11 ist Er die Auferstehung und das Leben, um Menschen vom Tod zu erretten;
- in Johannes 12 ist Er das Weizenkorn, das stirbt, damit eine Saat aufgehen kann, die Ihm gleich ist;
- in Johannes 15 ist Er der wahre Weinstock, damit seine Jünger Frucht für den Vater hervorbringen.
Dieses Evangelium hat somit die großartige Absicht, uns die Herrlichkeit des Sohnes Gottes als eine göttliche Person vorzustellen. Damit ist klar, warum es in diesem Evangelium kein Geschlechtsregister gibt und weder die Geburt noch die frühen Jahre des Herrn beschrieben werden. Diese Einzelheiten, obwohl sie für den Glauben kostbar und wichtig sind, passen nicht in ein Evangelium, das die Herrlichkeit seiner Person als Sohn Gottes vorstellt. Als göttliche Person steht Er hier über jedem Geschlechtsregister; im Markusevangelium dagegen nimmt Er als Diener einen so niedrigen Platz ein, dass ein Geschlechtsregister dort ebenfalls nicht notwendig ist.
Wir erfahren im Johannesevangelium, dass das Wort Fleisch wurde – doch nicht mit dem Ziel, Christus mit dieser Erde oder dem Volk Israel in Verbindung zu bringen. Der Schreiber hat nicht die Absicht, zu zeigen, dass sich die Verheißungen des Alten Testaments erfüllen; es wird auch nicht vorausgesagt, dass in der Zukunft ein Königreich errichtet werden wird; noch belehrt es über die gegenwärtige Gestalt dieses Königreichs. Nichts davon! Diese Wahrheiten sind an ihrem Platz notwendig und wichtig – doch sie reichen bei weitem nicht an das großartige Thema von Johannes heran: Die Herrlichkeit des Sohnes Gottes. Der Sohn Gottes ist gekommen: Er hat die Personen der Gottheit, aber auch einen neuen Menschen offenbart – und so die alte jüdische
Ordnung beiseitegesetzt und das Christentum eingeführt. Dieses Evangelium zeigt uns deshalb von Anfang an, dass sowohl das Volk Israel als auch die Welt als Ganzes in ihrer Verantwortung gescheitert sind; sie stehen unter Gericht und werden beiseitegesetzt, damit das Christentum eingeführt werden kann. Darüber hinaus wird das Christentum hier nach den Gedanken Gottes beschrieben – und nicht nach dem Verfall, wie er zum Zeitpunkt der Abfassung bereits eingetreten war. Denn Johannes hat sein Evangelium wahrscheinlich erst geschrieben, als der von dem Apostel Paulus vorhergesagte Verfall bereits im christlichen Bekenntnis Einzug gehalten hatte. Dieses Evangelium erhebt uns also über die Welt und lenkt uns weg vom Judentum wie auch von der verderbten Christenheit. Hier sollen wir den Segen kennenlernen, den Gott mit dem Christentum verbindet und der sich allein auf die Person des Sohnes Gottes gründet.
Ein Christentum, das Christus als Grundlage hat, muss zwangsläufig auch das Wesen Christi haben, denn „wie der Himmlische, so sind auch die Himmlischen“ (1. Kor 15,48). Kapitel für Kapitel sehen wir deshalb, wie die alte Ordnung beiseitegesetzt und etwas völlig Neues eingeführt wird:
- In Johannes 1 macht das mosaische Gesetz Platz für die „Gnade und Wahrheit“, die durch Jesus Christus geworden ist;
- in Johannes 2 wird der Tempel in Jerusalem durch den Tempel seines Leibes ersetzt;
- in Johannes 3 treten an die Stelle von „irdischen Dingen“ die „himmlischen Dinge“;
- in Johannes 4 wird das natürliche Wasser aus dem Brunnen von der Quelle des Wassers des Lebens abgelöst;
- in Johannes 5 werden der Teich und die heilende Bewegung des Wassers durch die machtvolle Stimme des Sohnes Gottes beiseitegesetzt;
- in Johannes 6 macht das natürliche Brot Platz für das wahre Brot aus dem Himmel;
- in Johannes 8 und 9 wird die Dunkelheit durch das Licht vertrieben;
- in Johannes 10 wird der jüdische Schafhof durch die christliche Herde abgelöst und
- in Johannes 11 wird der Tod durch das Leben überwunden.
So sehen wir, wie Stück für Stück Altes vergeht und alles neu wird. Die Ewigkeit löst die Zeit ab – und das Himmlische das Irdische. Wir werden gedanklich in eine Ewigkeit zurückgeführt, als es noch keine Zeit gab; zugleich werden wir mitgenommen, um schon jetzt außerhalb der irdischen Begrenzungen etwas von der Freude des Vaterhauses zu schmecken.
Was für ein Segen, dass wir uns in diesem Evangelium mit göttlichen Personen beschäftigen dürfen, bei denen es kein Versagen gibt, nachdem sich gezeigt hat, dass in den Händen der Menschen alles verloren ist. Wir sehen hier die Absichten Gottes, denen kein Verfall etwas anhaben kann, und wir werden zu Schauplätzen geführt, wo keine Spur menschlichen Versagens jemals zu finden ist.
Beim Lesen dieses Evangeliums kommen wir von Anfang an in Berührung mit ewigen Dingen und himmlischen Schauplätzen und befinden uns in unmittelbarer Gemeinschaft mit göttlichen Personen. Dennoch können wir uns ohne Furcht bewegen, weil diese herrliche Person, der ewige Sohn Gottes, uns so nahe gekommen ist, dass Er neben einer einsamen Sünderin an einem Brunnen Platz nahm und einen seiner Jünger in seinem Schoß ruhen ließ. Er wohnte so wahrhaftig unter uns Menschen, dass Er jemanden um einen Schluck Wasser bat, dass Er sich herabließ, anderen die Füße zu waschen, oder wiederum für andere ein wärmendes Feuer anzündete und sie zu einer Mahlzeit einlud, die Er zubereitet hatte.