70 Jahre Gefangenschaft in Babel
70 Jahre Gefangenschaft in Babel
70 Jahre Gefangenschaft in Babel
Frage:
Der Prophet Jeremia erwähnt zweimal eine Periode von siebzig Jahren, in denen die Juden dem König von Babel dienen sollten (vgl. Jer 25,11.12; 29,10). In 2. Chronika 36,21 ist ebenfalls von 70 Jahren die Rede und es wird dort Bezug genommen auf das Wort des Herrn durch den Mund Jeremias „… bis das Land seine Sabbate nachgeholt hätte. Alle Tage seiner Verwüstung hatte es Ruhe, bis siebzig Jahre voll waren“. Ein weiterer Hinweis findet sich in Daniel 9,2. Dort liest Daniel in den Schriften von der Zahl der Jahre, „… bezüglich derer das Wort des Herrn an den Propheten Jeremia ergangen war, dass nämlich 70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“. Schließlich erwähnt der Prophet Sacharja ebenfalls eine Periode von 70 Jahren, in der Gott „zornig“ über Jerusalem und die Städte Judas war (Sach 1,12). Kann man davon ausgehen, dass es sich jeweils um die gleiche Zeitperiode handelt (die sogenannte siebzigjährige Gefangenschaft der Juden in Babylon) oder geht es – wie ich kürzlich in einer christlichen Zeitschrift gelesen habe – um unterschiedliche Perioden von 70 Jahren? Und wenn es die gleiche Zeitperiode ist, wann genau haben diese 70 Jahre begonnen und wann sind sie zu Ende gegangen?
70 Jahre im Exil
Es ist tatsächlich so, dass es einige Ausleger gibt, die von verschiedenen Perioden von 70 Jahren ausgehen. Manche unterscheiden zwei (andere sogar drei) verschiedene Perioden. Auf die Details möchte ich an dieser Stelle nicht eingehen, denn ein sorgfältiger Vergleich der verschiedenen Stellen macht hinreichend klar, dass es sich nicht um verschiedene Perioden von 70 Jahren handeln kann. Jeremia spricht in seinen Weissagungen in der Tat zweimal (Kapitel 25 und 29) von siebzig Jahren. Sowohl in 2. Chronika 36 als auch in Daniel 9 wird dabei eindeutig auf den Propheten Jeremia hingewiesen, d.h. diese beiden Referenzstellen können sich nicht auf eine andere (fiktive) Periode von weiteren 70 Jahren beziehen. Nimmt man die angeführte Stelle in Sacharja 1 dazu, rundet sich dieses Bild ab. Die 70 Jahre im Exil waren eine Strafe Gottes für sein abtrünniges irdisches Volk (in diesem Fall über die beiden Stämme Juda und Benjamin). Die Schriften bewährter Ausleger wie W. Kelly, J.N. Darby und andere lassen ebenfalls keinen anderen Rückschluss zu.
Der Beginn der 70 Jahre
Die Frage, wann die 70 Jahre genau begonnen haben, ergibt sich deshalb, weil es insgesamt drei Deportationen von Juden nach Babel gegeben hat, von denen die Bibel berichtet. Soweit es aufgrund externer Quellen (Historiker und Bibelausleger) möglich ist, lassen sich diese 70 Jahre relativ gut historisch nachweisen. Wenn man die Daten sorgfältig miteinander vergleicht, bekommt man folgendes Bild (alle Jahreszahlen beziehen sich auf die Zeit vor der Geburt Christi1):
- 606/605: Erste Deportation der Juden aus Jerusalem nach Babel unter König Jojakim. Mit diesem Jahr beginnen die 70 Jahre der Gefangenschaft und in Babel. Darauf bezieht sich Daniel 1,1.
- 598/597: Zweite Deportation der Juden nach Babel unter König Jojakin. Den biblischen Bericht dazu finden wir in 2. Könige 24,8–16.
- 587/586: Dritte Deportation der Juden und endgültige Zerstörung von Jerusalem und Tempel unter König Zedekia. Davon lesen wir in 2. Chronika 36, 17–21
- Wir lernen für uns, dass Gott immer zu seinem Wort steht, sowohl im Segen als auch im Gericht. Gott hatte seinem irdischen Volk das Gericht angedroht, wenn sie sich von Ihm abwenden würden. Seine Geduld war sehr groß, doch der Tag kam, so Gott das erfüllte, was Er gesagt hatte. Der Grundsatz Gottes lautet: „Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten! Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten“ (Gal 6,7).
Das Ende der 70 Jahre
2. Chronika 36,22 spricht von dem Ende der 70 Jahre: „Und im ersten Jahr Kores‘, des Königs von Persien2 – damit das Wort des Herrn durch den Mund Jeremias erfüllt würde –, erweckte der Herr den Geist Kores‘, des Königs von Persien…“. Gott selbst legt den Endpunkt – das erste Jahr des Perserkönigs Kores im Jahr 536 v.Chr. – fest und lässt damit zugleich den Beginn der 70 Jahre festlegen, nämlich die erste Deportation von Juden nach Babylon im Jahr 606/605 v. Chr.
Folgende Jahreszahlen helfen uns weiter:
- 539 v.Chr.: Die Stadt Babel fällt und wird eingenommen. Die Meder und Perser übernehmen die Regierung über das babylonische Reich, das damit zu einem gewissen Ende gekommen ist3.
- 538/537 v.Chr.: Das erste Jahr von König Darius, dem Meder, beginnt4. Er regierte zeitgleich mit dem persischen Großkönig Kyros II (oder Kyros der Große), wobei die Perser in dieser Doppelherrschaft die Oberhand übernahmen. Kores Herrschaft über Persien dauerte insgesamt von 560–530 v.Chr. Man gewinnt beim Lesen des Bibeltextes (besonders Dan 6,1.29; 10,1) den Eindruck, dass zunächst Darius mit der Verwaltung über Babel betraut war, bevor dann Kores selbst die unmittelbare Herrschaft über Babel übernahm5.
- 536 v.Chr. erfolgte dann – im ersten Jahr von Kores als Herrscher über Babel – der Befehl, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Davon lesen wir dreimal (2. Chr 36,22; Esra 5,2.13; 6,3). Offensichtlich ist Gott dieses Datum sehr wichtig. Durch Jesaja lässt Gott sowohl den Namen als auch seinen Befehl viele Jahre vorher voraussagen: „… der von Kores spricht: Mein Hirte und der all mein Wohlgefallen ausführt, und zwar, indem er von Jerusalem sagen wird: Es werde aufgebaut!, und vom Tempel: Er werde gegründet“ (Jes 44,28).
Ebenso wie es drei Deportationen nach Babel gab, berichtet die Bibel von drei Rückführungen aus Babel. Mit der ersten Rückführung endet die 70-jährige Gefangenschaft. Das bedeutet nicht, dass alle Juden aus Babel zurückkehrten, sondern es war nur ein kleiner Teil (deshalb sprechen Ausleger zu Recht von einem „Überrest“):
- 536 v.Chr.: König Kores von Persien gibt den Befehl, den Tempel in Jerusalem wieder zu bauen. Ein Teil der Juden (42.360 Personen) kehrt unter der Führung von Josua und Serubbabel zurück (Esra 2,64). Den biblischen Bericht dazu finden wir in Esra 1. Im Zentrum dieser Rückkehr steht der Bau des Tempels. Damit endet die von Jeremia vorausgesagte Zeit von 70 Jahren.6
- 458 v.Chr.: Es erfolgt eine zweite Rückkehr von Juden nach Jerusalem unter dem Schriftgelehrten Esra. Den biblischen Bericht dazu finden wir in Esra 7. Insgesamt mag es sich um ca. 4.000 Personen gehandelt haben, d.h. es waren deutlich weniger als bei der ersten Rückkehr. Im Zentrum dieser Rückkehr steht das Wort Gottes (das Gesetz).
- 445 v.Chr.: Es erfolgt eine dritte Rückkehr nach Jerusalem unter Nehemia. Den biblischen Bericht dazu finden wir in Nehemia 2. Im Zentrum dieser Rückkehr steht der Bau der Mauer Jerusalems. Die Zahl der Rückkehrer scheint noch geringer gewesen zu sein als bei der zweiten Rückkehr.
Wir lernen für uns daraus, dass Gott nicht nur im Gericht, sondern auch in Gnade handelt. Überdies gibt es drei Dinge, die unserem Gott zu allen Zeiten wichtig sind und die einen „Überrest“ kennzeichnen: Erstens geht es um das Interesse am Haus Gottes (damals ein irdisches Haus, heute ein geistliches Haus – die Versammlung/Gemeinde). Zweitens geht es darum, das Wort Gottes ernst zu nehmen (damals das Gesetz, heute die ganze Bibel). Drittens möchte Gott, dass sein Volk sich von dem trennt, was nicht zu Ihm gehört (damals war es eine Mauer, heute geht es um Absonderung von aller Art des Bösen).
Wenn 70 Jahre voll sind
Bei diesen Überlegungen sei eine gewisse Problematik nicht verschwiegen, die dem aufmerksamen Bibelleser auffallen mag. Es geht um die Frage, wie man die Aussagen Jeremias über die Erfüllung der 70 Jahre genau verstehen muss: In Jeremia 25,11–12 lesen wir nämlich „Und dieses ganze Land wird zur Einöde, zur Wüste werden; und diese Nationen werden dem König von Babel7 dienen siebzig Jahre. Und es wird geschehen, wenn siebzig Jahre voll sind, werde ich an dem König von Babel und an jenem Volk, spricht der Herr, ihre Schuld heimsuchen, und an dem Land der Chaldäer; und ich werde es zu ewigen Wüsteneien machen“. Gleiches gilt für Jeremia 29,10: „Denn so spricht der Herr: Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort an euch erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen“. Ganz konsequent gelesen müssten die 70 Jahre danach bereits 539 v.Chr. (mit den Sieg der Meder und Perser über die Babylonier) zu Ende sein.
Mir scheint, dass man diese Aussagen unbedingt mit 2. Chronika 36,20–21 verbinden muss und dann hat man eine gute Erklärung. Dort heißt es: „Und die vom Schwert Übriggebliebenen führte er nach Babel weg; und sie wurden ihm und seinen Söhnen zu Knechten, bis das Königreich der Perser zur Herrschaft kam; damit erfüllt würde das Wort des Herrn durch den Mund Jeremias, bis das Land seine Sabbate nachgeholt hätte. Alle Tage seiner Verwüstung hatte es Ruhe, bis siebzig Jahre voll waren“. Hier ist die Rede von dem Königreich der Perser, das die Babylonier ablöste. Offensichtlich gibt es eine kurze Übergangszeit, die man berücksichtigen muss. Dabei ist bemerkenswert, dass Darius als König der Meder bezeichnet wird (was er tatsächlich war), während Kores eindeutig persischer Herkunft war. Deshalb dauern die 70 Jahre, bis das Königreich der Perser (unter Kores) faktisch an die Macht kam. Darius der Meder wird hier offensichtlich wie einer der Könige von Babel gesehen.
Fazit
Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die 70 Jahre, von denen wir mehrfach im Alten Testament lesen, sich auf die gleiche Periode beziehen, nämlich auf das Exil der Juden in Babylon. Es kann ebenfalls keinen Zweifel geben, dass die Zeit um 606/605 v.Chr. begann und dass sie um 536/535 v.Chr. zu Ende ging. Gott hatte im Gericht und in Gnade gehandelt. Die Zeit für sein Handeln liegt exakt fest und so wie Gott es vorausgesagt hat, tritt es ein. Das gilt genauso für alle anderen Voraussagen, die wir in der Bibel finden. Gott behält immer die Kontrolle über das, was auf der Erde geschieht und darüber, wie es geschieht.
Fußnoten
- 1 Man muss dabei berücksichtigen, dass es in den genannten Jahreszahlen manchmal gewisse kleine Abweichungen von einem Jahr (maximal zwei) geben kann. Diese kleinen Differenzen ergeben sich u.a. dadurch, dass in den meisten Fällen das erste Regierungsjahr eines Königs das Jahr seiner Thronbesteigung ist. Die babylonische Zählweise weicht jedoch von dieser Regel ab, d.h. das Thronbesteigungsjahr wird nicht mitgezählt. So lesen wir z.B. in Jeremia 25,1 von dem „vierten Jahr Jojakims“ (jüdische Zählweise), während in Daniel 1,1 vom „dritten Jahr Jojakims“ die Rede ist (babylonische Zählweise).
- 2 Gemeint ist nicht das erste Regierungsjahr Kores als Regent über Persien, sondern der Beginn seiner Regierung über Babylon. König von Persien war er seit 560/559 v.Chr.
- 3 Babel ist das erste der vier Weltreiche, über die der Prophet Daniel in seinen Weissagungen ausführlich spricht. Als Weltreich hörte Babel zu diesem Zeitpunkt auf zu existieren. Als persische Provinz existierte Babel weiter.
- 4 Dieser König Darius ist nicht mit dem Darius zu verwechseln, von dem wir in den Büchern Esra, Haggai und Sacharja lesen.
- 5 In Daniel 9,2 lesen wir von dem ersten Jahr von Darius und dort steht das Ende der Gefangenschaft kurz bevor. Der Bibeltext sagt: „Im ersten Jahr seiner (Darius) Regierung verstand ich, Daniel, in den Schriften die Zahl der Jahre, bezüglich derer das Wort des Herrn an den Propheten Jeremia ergangen war, dass nämlich 70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“. Daraus kann man entnehmen, dass sie zu diesem Zeitpunkt (also 538/537 v. Chr.) noch nicht ganz vollendet waren (sie sollten vollendet werden), aber die Erfüllung stand kurz bevor (536 v.Chr).
- 6 Es sei nicht verschwiegen, dass einige Gelehrte der Ansicht sind, dass die Zeit der 70 Jahre mit der Zerstörung des Tempels 586 v.Chr. begonnen hat. Da zwischen 586 v.Chr. und 536. v.Chr. jedoch nur ca. 50 Jahre liegen, muss man in diesem Fall die genannte Zeit (70 Jahre) entweder symbolisch auffassen oder die Vollendung des Tempels in 516 v.Chr. als Enddatum ansehen. Beide Sichtweisen ergeben jedoch wenig Sinn. Es gibt keinen vernünftigen Grund, die mehrfach erwähnten 70 Jahre symbolisch zu deuten. Darüber hinaus zeigt ein sorgfältiger Vergleich der verschiedenen Bibelstellen, dass die 70-jährige Gefangenschaft nicht bis zur Vollendung des Tempelbaus gedauert haben kann, sondern bis zur ersten Rückkehr der Juden durch den Erlass von Kores, den Tempel wieder aufzubauen.
- 7 Es ist klar, dass es sich um mehrere Könige handelt. Es müssen m.E. allerdings nicht zwingend die babylonischen Könige gewesen sein. Kores und Darius waren ebenfalls „Könige von Babel“.