Gesetz und Gnade
Mitschriften von Vorträgen über den Galaterbrief
Galater 1
Der Römerbrief und der Galaterbrief behandeln beide dasselbe große Thema, nämlich den Weg der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott. Es gibt jedoch einen bedeutenden Unterschied zwischen den beiden Briefen. Im Römerbrief legt der Apostel dar, was das Evangelium tatsächlich ausmacht – die Kraft Gottes zur Erlösung eines jeden, der glaubt, weil darin die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben offenbart ist. Im Galaterbrief hingegen hatte er mit solchen zu tun, die das Evangelium der Gnade Gottes empfangen und versucht hatten, das Evangelium mit den Werken des Gesetzes zu verbinden und es eben dadurch zunichte zu machen. Daher finden wir in diesem Brief viel Strenge. Bei keiner anderen Gelegenheit setzt Paulus seine apostolische Autorität derart stark durch.
„Paulus, Apostel, nicht von Menschen noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat, und alle Brüder, die bei mir sind, den Versammlungen von Galatien: Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus“ (Gal 1,1–3).
Der Apostel war nicht von Menschen ausgesandt worden, noch hatte er seine Berufung von Menschen empfangen. Er beharrt hier auf der Besonderheit seines Apostelamtes. Ungleich den Zwölfen kam seine Berufung direkt vom auferstandenen Christus. Sie kam direkt vom Himmel, nachdem Jesus sein Werk vollendet hatte; wie der Apostel selbst den Ältesten von Ephesus bekundet: „Damit ich meinen Lauf vollende und den Dienst, den ich von dem Herrn Jesus empfangen habe, zu bezeugen das Evangelium der Gnade Gottes“ (Apg 20,24). Gott scheint die Entwicklungen der heutigen Tage vorhergesehen zu haben, indem Er durch die Auswahl des Apostels Paulus jeden Anschein einer apostolischen Nachfolge im Keim erstickt hat.
Nachfolge im Dienst, und insbesondere im Dienst für die Wahrheit des Evangeliums, war dem Apostel sehr wertvoll. Daher verbindet er sich selbst mit den Brüdern, um ihre absolute Zustimmung zu dem zum Ausdruck zu bringen, was er hier darlegt. Galatien war eine große Provinz, in der es mehrere Zusammenkommen von Christen gab, und er richtet seinen Brief an die Versammlungen von Galatien. In Apostelgeschichte 16,6 wird erstmals erwähnt, dass der Apostel Galatien besucht, und in Apostelgeschichte 18,23 finden wir, dass er durch die galatische Landschaft und Phrygien reiste und alle Jünger befestigte. Petrus wendet sich ebenfalls an die „Fremdlinge von der Zerstreuung von ... Galatien“ (1. Pet 1,1). Dies ist der einzige Fall, in dem der Apostel sich an mehrere Versammlungen einer Provinz wendet. Seine anderen Briefe, außer denen, die sich an einzelne Personen richten, sind an die eine Versammlung einer bestimmten Stadt adressiert. Die Art der apostolischen Ansprache in den einzelnen Briefen sowie Weise, auf die der Apostel sein Amt vorstellt, sind einer genaueren Untersuchung wert. Im Philipperbrief stellt er sein Apostelamt überhaupt nicht vor, sondern bedient sich, wie ich glaube, eines nach seinem Ermessen höheren Titels des Knechtes Christi Jesu.
„Der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters, dem die Herrlichkeit sei von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen“ (Gal 1,4–5).
Dieser Vers beinhaltet im Grunde das gesamte Thema des Briefes. Und das ist die Lehrweise des Paulus: Er führt das Thema auf eine sehr zusammenfassende Weise ein und führt dieses dann anschließend im Detail weiter aus. Was hat das Gesetz mit solchen zu tun, für die Jesus sich selbst hingegeben hat, um sie aus der gegenwärtigen bösen Welt herauszunehmen? Für einen Gläubigen ist die Rückkehr zum Gesetz, als ob er in die Welt zurückgeht, aus der Christus sie durch die Hingabe seiner selbst befreit hat. Dies ist von praktischer Bedeutung. Es gibt auch heute viele, die in gleicher Weise eine Befreiung aus dem traditionellen Christentum nötig haben, wie die Galater Befreiung vom Götzendienst brauchten. Wie viele Dinge haben auch wir aus Traditionen heraus und nicht durch das Wort Gottes erhalten. Wir können nicht an der Schrift und an Traditionen festhalten ‒ die Autorität des einen wird zwangsläufig die des anderen aufheben. Das Festhalten an der Schrift wird uns dazu führen, Traditionen loszulassen. Ein Festklammern an Traditionen wird das Wort Gottes außer Kraft setzen. „Christus gab sich selbst für unsere Sünden.“ Wenn ich an die Stellvertretung glaube, dann sehe ich, dass der Herr Jesus Christus sich an meine Stelle gestellt hat und dass ich dadurch nach dem Willen unseres Gottes und Vaters „aus der gegenwärtigen bösen Welt“ herausgenommen (oder gerettet) bin.
„Ich wundere mich, dass ihr euch so schnell von dem, der euch in der Gnade Christi berufen hat, zu einem anderen Evangelium umwendet, das kein anderes ist; nur dass einige da sind, die euch verwirren und das Evangelium des Christus verdrehen wollen“ (Gal 1,6–7).
Der Apostel diente am Evangelium der Gnade Gottes, und seine Arbeit war mühselig, und seine Widrigkeiten schmerzhaft, während er seine Reinheit zu bewahren versuchte. Unter der Leitung des Heiligen Geistes konnte er die Wahrheit des Evangeliums gefährdet sehen, wo andere keinen Schaden wahrnehmen konnten. Wenn wir Hingabe im Dienst zeigen oder die auserlesensten guten Werke als Ergänzung zu dem Werk Christi tun, so ist es nicht das Evangelium. Es waren bestimmte Männer, die glaubten und sagten: „Man muss sie [die Heiden] beschneiden und ihnen gebieten, das Gesetz Moses zu halten“ (vgl. Apg 11 und 15). Es handelte sich um eine Gefahr, die nicht von außen, sondern direkt aus der Mitte der Versammlung aufkam. Das fünfzehnte Kapitel der Apostelgeschichte könnte gut die Magna Charta der Christen genannt werden. Die Lehrer dort sagten: „Wenn ihr nicht beschnitten werdet nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht errettet werden“ (Apg 15,1). Das Evangelium ist unabhängig von solchen Bedingungen und Ausnahmen. Wo immer sie eingeführt werden, untergraben sie das Evangelium der Gnade Gottes. Der Apostel Jakobus lehrt in diesem Kapitel der Apostelgeschichte dieselbe Wahrheit wie Paulus in diesem Brief, nämlich dass der Versuch, dem vollbrachten Werk Christi als der Grundlage der Annahme vor Gott irgendetwas hinzuzufügen, bedeutet, die Brüder zu „verwirren“ und ihre Seelen zu „verstören“ (vgl. Apg 15,24). Es ist Gott, der uns sagt, wie wertvoll das Werk Christi für Ihn ist. Er kennt seinen Wert so, wie wir es nicht tun. Gott stellt das Evangelium so vor, dass es alle Bedürfnisse des Sünders stillt; denn wenn der allwissende Gott das Herz erforscht und die Nieren prüft (Jer 17,10), so kennt derselbe Gott die Kostbarkeit des Blutes Christi und zeugt uns davon. Wie leicht kann der Gläubige das Evangelium verändern, sodass es kein Evangelium mehr ist, zu seinem eigenen und anderer Schaden. Die Religion des Christentums ist nichts als der Fehler der Galater in voller Ausprägung. Sie hat das Evangelium der Gnade Gottes verdreht und es durch eine abgewandelte Satzung von Verpflichtungen ersetzt.
„Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: Er sei verflucht! Wie wir zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wieder: Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt außer dem, was ihr empfangen habt: Er sei verflucht!
Denn suche ich jetzt Menschen zufriedenzustellen oder Gott? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefallen wollte, so wäre ich Christi Knecht nicht“ (Gal 1,8–10).
Es ist ein ernster Gedanke, dass der Apostel in solcher Art von einem Engel spricht. Engel verkündigten die Geburt Jesu. Engel versorgten Ihn in der Wüste. Ein Engel stärkte Ihn in seiner Qual in Gethsemane. Engel waren am Auferstehungsmorgen an seinem Grab und verkündigten die frohe Kunde: „Er ist auferstanden.“ Engel erleichterten die verwirrten Männer von Galiläa durch die Ankündigung, dass der Jesus, den sie nicht mehr sahen, so wiederkommen sollte, wie sie Ihn hatten fortgehen sehen. Jesus wurde von Engeln gesehen; doch Engel schmeckten nie von seiner errettenden Gnade. Sie können die Wirksamkeit seines Blutes sehen und sagen: „Würdig ist das Lamm, das geschlachtet worden ist, zu empfangen Macht und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Herrlichkeit und Segnung“ (Off 5,12). Doch sie können nicht sagen: „Denn du ... hast [uns] für Gott erkauft, durch dein Blut“ (Off 5,9). Somit ist ein verlorener und verdorbener Sünder durch die Erlösung in eine größere Nähe zu Gott gebracht als ein ungefallener Engel. Und es ist die Erfahrung dieser so erstaunlichen Gnade, die einen, vergleichsweise gleichgültig in anderen Hinsichten, sensibler für die Wahrheit des Evangeliums macht als den größten Menschen oder sogar einen Engel, der diese Gnade nie geschmeckt hat.
Gibt es bei uns ein solches Empfinden für den Wert des Evangeliums? Gibt es einen solchen Eifer für die Wahrheit des Evangeliums in unseren Tagen? Der Eifer des Apostels für das Evangelium ging so weit, dass er sagen konnte: „Aber wenn auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium verkündigte außer dem, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: Er sei verflucht!“ Wird eine solche Treue das Gefallen der Menschen erregen? Was sagt der Apostel? „Denn suche ich jetzt Menschen zufrieden zu stellen oder Gott?“ Das heißt, um in dieser Redeweise zu bleiben: Suche ich die Anerkennung von Gott oder von Menschen? Die Botschaft des Evangeliums ist da ganz klar: Die Selbstverleugnung muss eine Selbstverleugnung in jeglicher Hinsicht sein – des schlechten Ich, des guten Ich, des religiösen Ich. Das missfällt den Menschen. Darin liegt der Anstoß des Kreuzes. Es gibt keine Gelegenheit zur Kultivierung von Einzigartigkeit in der Verkündigung des Evangeliums. Es sollte einfach und ernst gepredigt werden, und es ist in sich selbst anstößig genug, weil es alle Ausflüchte in Lügen hinwegfegt. Es ist ein ernstes Wort: „Wenn ich noch Menschen gefallen wollte, so wäre ich Christi Knecht nicht.“
„Ich tue euch aber kund, Brüder, dass das Evangelium, das von mir verkündigt worden ist, nicht nach dem Menschen ist. Denn ich habe es weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch Offenbarung Jesu Christi“ (Gal 1,11–12).
Wir haben seit den Tagen des Apostels bis heute reichlich Erfahrung damit, was das Evangelium „nach dem Menschen“ ist. Es würde die Gnade Gottes gänzlich zunichtemachen. Das Evangelium ist der Ausdruck der Gedanken und Wege Gottes an den Menschen als überführten Sünder, und seine Gedanken und Wege sind höher als unsere Gedanken und Wege. Selbst die erfahrensten Christen erleben es als ein immerwährendes Kämpfen und Ringen, ihre fleischlichen Gedanken zu zerstören und jeden Gedanken unter den Gehorsam des Christus zu stellen. Die Gedanken Gottes gegen uns sind Gedanken der Gnade, der Liebe, und des Friedens; doch wir sehen Ihn oft als einen strengen und harten Lehrer. Der Apostel ist außerordentlich darauf bedacht, dass er sein Evangelium direkt vom verherrlichten Christus empfangen hat. Als der Herr ihm auf dem Weg erschien, gab Er ihm den Auftrag: „Ich bin Jesus, den du verfolgst; aber richte dich auf und stelle dich auf deine Füße; denn dazu bin ich dir erschienen, dich zu einem Diener und Zeugen zu bestimmen, sowohl dessen, was du gesehen hast, als auch dessen, worin ich dir erscheinen werde“ (Apg 26,15.16). Der Apostel hatte das Evangelium durch direkte Offenbarung vom Herrn empfangen; und auch wir brauchen den „Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst“ (Eph 1,17). Auch heute noch gefällt es Gott, dies vor Weisen und Verständigen zu verbergen und es Unmündigen zu offenbaren (vgl. Lk 10,21). Und er, der aus eigener Erfahrung weiß: „Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (Röm 5, 20), ist in Besitz der höchsten Weisheit, sogar der Weisheit Gottes.
„Denn ihr habt von meinem ehemaligen Wandel in dem Judentum gehört, dass ich die Versammlung Gottes über die Maßen verfolgte und sie zerstörte und in dem Judentum zunahm über viele Altersgenossen in meinem Geschlecht, indem ich übermäßig ein Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen war“ (Gal 1,13–14).
In diesen Versen zeigt uns Paulus, dass es eine außerordentliche Kraft gewesen muss, die ihn befreit hatte von seiner traditionellen Religion, welche ihn dazu getrieben hatte, „gegen den Namen Jesu, des Nazaräers, viel Feindseliges tun zu müssen“ (Apg 26,9). Er, der so ausgiebig im Judentum unterrichtet worden war, brauchte die Erscheinung etwas weitaus Herausragenderem, um ihn von seiner Religion zu befreien, die er aus „väterlicher Überlieferung“ empfangen hatte, und ihm ihre Nichtigkeit und Kraftlosigkeit zu zeigen. Dies ist wichtig. Wir betrachten das Evangelium oft als eine Abhilfe, zu der wir notwendigerweise Zuflucht nehmen müssen. Doch Paulus betrachtete es im Vergleich zu einer früheren Offenbarung Gottes, die in der Tat ihre Herrlichkeit hatte, aber die vor der vortrefflichen Herrlichkeit, dessen Diener er war, dahinschwand – das „Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes“ (1. Tim 1,11). Saulus von Tarsus erkannte sich selbst als versierten und eifrigen religiösen Fanatiker, sowie als ersten der Sünder, als er sich selbst im Licht der Herrlichkeit Jesu sah. Und so muss es immer sein. Wie aufrichtig wir in unseren religiösen Überzeugungen auch gewesen sein mögen, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit Gott, sondern mit einer Tradition waren, werden wir im Licht der Wahrheit Gottes zu der Erkenntnis gebracht, dass genau in dem, worin wir uns am meisten rühmten, wir am meisten im Widerspruch zu Gott waren. „Es kommt aber die Stunde“, sagt der Herr, „dass jeder, der euch tötet, meinen wird, Gott einen Dienst zu erweisen“ (Joh 16,2). Die größten Gegner der Lehre der Gnade sind die, die ihre Religion aus der Tradition empfangen haben anstatt vom Wort Gottes.
„Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte, ging ich sogleich nicht mit Fleisch und Blut zu Rate und ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging fort nach Arabien und kehrte wieder nach Damaskus zurück“ (Gal 1,15–17).
In Vers 15 scheint der Apostel auf Jeremia 1,5 anzuspielen. „Bevor ich dich im Mutterleib bildete, habe ich dich erkannt, und bevor du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt. Zum Propheten an die Nationen habe ich dich bestellt.“ Paulus war zu einem Apostel für die Nationen gemacht worden, durch eine so deutliche Handlung der souveränen Macht Gottes, wie Jeremia zu einem Propheten an die Nationen gemacht worden war. Gott hatte sowohl den einen als auch den anderen ohne jegliches vorheriges Training in ihren jeweiligen Dienst berufen. Der eine sollte den Zorn Gottes über die Nationen ankündigen; der andere sollte denselben Frieden durch Jesus Christus verkündigen. Doch die Berufung des Apostels durch die Gnade Gottes wurde von einer innerlichen Offenbarung der Herrlichkeit des Sohnes in seiner Seele begleitet. Es gab in der Tat eine äußerliche Offenbarung, die sowohl andere als auch ihn selbst beeinflusste: Seine Begleiter fielen „zur Erde nieder“ (Apg 26,4), wie auch er selbst. Sie „standen sprachlos, da sie wohl die Stimme hörten, aber niemand sahen“ (Apg 9,7). Doch wie beeindruckt und erstaunt sie auch gewesen sein mögen; was auch immer darauffolgend in ihnen bewirkt worden sein mag, zu diesem Zeitpunkt gefiel es Gott, seinen Sohn allein in Paulus zu offenbaren.
Es ist eines der Sehnsüchte des menschlichen Herzens, „Zeichen und Wunder“ zu sehen (Joh 4,48), aber es liegt nichts Rettendes in solchen Erscheinungen. Ja, vielmehr wird die Offenbarung des Herrn Jesus in Herrlichkeit ohne irgendeine innere Offenbarung der Seele das Gericht für die Welt sein. Doch jetzt zeigt sich der Herr Jesus Christus in einigen in der Welt, ohne sich der Welt selbst zu zeigen. „Die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich“ (Joh 14,9). Dies ist ein entscheidender Unterschied zwischen der Versammlung und der Welt. Die Versammlung frohlockt durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in etwas Unsichtbarem, nämlich Jesus, und liebt seine Erscheinung, dass sie Ihn sehen mag, wie Er ist, und für immer bei Ihm sein wird. Die Welt wird Ihn in der Tat auch sehen, doch nur um ihr eigenes Urteil von seinen Lippen zu hören.
Die traditionelle Religion von Paulus, dem Pharisäer, brach unter dieser inneren Offenbarung zusammen. Er erkannte ihre Nutzlosigkeit, und konnte sie nur noch als Verlust anstatt als Gewinn betrachten, für die Erkenntnis Christi Jesu, des Herrn. Er zog „nicht Fleisch und Blut zu Rate“; denn er hatte das Zeugnis in sich selbst, in der gesegneten Hinlänglichkeit Jesu des Gekreuzigten, aber nun auferstanden und verherrlicht zu seinem eigenen Nutzen. Es ist immer gefährlich, sich mit Fleisch und Blut bezüglich dessen zu beraten, was Gott offenbart hat. Dies sehen wir auch bei einem anderen Apostel. Der Vater, nicht Fleisch und Blut, hatten Petrus die Herrlichkeit der Person Jesu offenbart. Aber Petrus beriet sich mit Fleisch und Blut, und es widerstrebte ihm, dass eine so herrliche Person wie der Sohn des lebendigen Gottes leiden müsse. Wie anders redet er, als er, geleitet durch den Heiligen Geist, sagt: „Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe“ (1. Pet 3,18). Die ersten Gedanken des Glaubens sind richtig. Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet; er beriet sich mit Fleisch und Blut, doch welches Leid und welche Not brachte er in der Sache Hagars über sich selbst. So ist es auch in Bezug auf uns. Wir empfangen das Zeugnis Gottes über seinen Sohn Jesus Christus, und finden Frieden mit Gott als unser Teil, aber wir sind versucht, mit Fleisch und Blut zu Rate zu gehen. Wir fordern gewissermaßen Beweise von uns selbst, die sich für uns als nicht zufriedenstellend herausstellen, anstatt in dem Beweis Gottes an uns in der Gabe und dem Werk seines Sohnes zu ruhen, in all seiner Hinlänglichkeit, unsere Bedürfnisse zu stillen. Kein Beweis, den wir aus uns selbst erzeugen könnten, könnte je zufriedenstellend sein, weil er immer von dem Bewusstsein der Unvollkommenheit begleitet sein wird. Die Seele kann nur in dem Zuflucht finden, was vollkommen, vollständig und vollendet ist. Und dies ist das Werk Christi am Kreuz; und Gott ruft uns auf, im Vertrauen darauf zu ruhen. In dem Moment, in dem wir unseren Verstand zu Rate ziehen, werden unsere Seelen dunkel.
Paulus ging nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor ihm Apostel waren, um entweder eine Bestätigung der Wahrheit des Evangeliums oder ihre Befugnis zur Verkündigung des Evangeliums zu erhalten. Er hatte beides direkt vom auferstandenen Jesus empfangen. Stattdessen ging er nach Arabien, in die Wüste. Er brauchte den Rückzug, um allein mit Gott zu sein, um die wunderbare Wahrheit zu verarbeiten, die er empfangen hatte. Dies ist für uns alle der Beachtung wert, insbesondere jedoch für Jungbekehrte, die versucht sein mögen, um Öffentlichkeit bemüht zu sein, wenn sie den Rückzug brauchen. Aus der Wüste geht Paulus nicht nach Jerusalem, sondern kehrt nach Damaskus zurück – an den Ort seiner wunderbaren Umkehr.
„Darauf, nach drei Jahren, ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennen zu lernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Ich sah aber keinen anderen der Apostel, außer Jakobus, den Bruder des Herrn. Was ich euch aber schreibe, siehe, vor Gott! – ich lüge nicht. Darauf kam ich in die Gegenden von Syrien und Zilizien. Ich war aber den Versammlungen von Judäa, die in Christus sind, von Angesicht unbekannt; sie hatten aber nur gehört: Der, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zerstörte. Und sie verherrlichten Gott an mir“ (Gal 1,18–24).
Je mehr wir die Schritte des Paulus betrachten, nachdem ihm der Herr auf dem Weg erschienen war, desto mehr werden wir das Evangelium der Gnade verstehen, das er verkündete, und in dessen Predigt er frohlockte. Wie traurig ist es für solche, die anderen das Evangelium verkündigen, wenn sie seine Gnade nicht ebenso oft erfahren, wie sie es verkündigen. Das wunderbare Evangelium des gepriesenen Gottes – je mehr es gekannt wird, desto mehr wird man darin Erfüllung finden.
Nun haben die persönlichen Ereignisse in der Geschichte des Paulus, die uns in Vers 20 so ernst vor Augen gestellt werden, sicherlich die Absicht, uns die Natur des Evangeliums zu lehren, das er verkündigte. Paulus, ein erfahrener Jünger, sowohl in Bezug auf das Gesetz als auch auf die Traditionen, die Menschen ihm hinzugefügt hatten, zeigt uns in seiner Person, dass die Gnade Gottes ihn in der Offenbarung seines Sohnes in ihm von dem befreit hatte, was sein früherer Stolz gewesen war. Wie gänzlich müssen demnach das Gesetz und das Evangelium einander entgegenstehen.
Wieder blieb er gezielt einige Jahre von Jerusalem fern, das als das große religiöse Zentrum angesehen werden kann, um zu zeigen, dass er von dort her nichts empfangen hatte. Und als er nach Jerusalem ging, um Petrus zu besuchen, war es nicht, um von dem Apostel Vollmacht zu erhalten, sondern um Gemeinschaft mit ihm im Dienst zu haben. Die deutliche Art, auf die Paulus von sich selbst redet, dass er die Versammlung verfolgt hat, zeigt ihn uns als ein Beispiel dessen, was die Gnade des Evangeliums bewirken kann. Wenn er das Evangelium der Gnade Gottes anderen verkündigte, so wies er immer auf sich selbst als den brüllenden Löwen hin, der durch die Offenbarung des Herrn Jesus in ihm in ein Lamm verwandelt worden war. Und er sah in anderen, die sein Evangelium empfingen, das, was andere in ihm sahen – ein auserwähltes Gefäß der Gnade, und gab Gott die Ehre für ihre Verwandlung, sowie andere Gott in ihm verherrlichten.