Befreit für Gott
Eine Auslegung über Römer 5-7

Einleitung

Befreit für Gott

Ein sehr geschätzter Bruder des 19. Jahrhunderts aus England hat einmal zu jungen Leuten gesagt: „Beschäftigt euch immer wieder mit Römer 1 bis 8!“ – Wir müssen wohl alle zugeben, dass wir das viel zu wenig tun. Doch es würde unseren Glauben stärken, unsere Heilsgewissheit vertiefen, unsere Dankbarkeit vergrößern und unsere ganze Lebensweise positiv beeinflussen. Aus diesem Grund wollen wir uns jetzt einmal besonders mit den Kapiteln 5 bis 7 des Römerbriefes befassen.

Es sind mit Abstand die schwierigsten Passagen dieses Briefes. Deshalb brauchen wir sowohl zur Erklärung als auch zum Verständnis dieser Kapitel in besonderem Maß die Hilfe des Herrn. Sie sind nicht deshalb so schwierig, weil wir die Gedankenführung nicht verstehen könnten, sondern weil unsere Erfahrungen, die wir täglich mit uns machen der Lehre dieser Kapitel direkt zu widersprechen scheinen.

Bevor wir in die Einzelheiten gehen, ist sicher ein allgemeiner Überblick nützlich. Wir haben zwei herausragende „Lehrbriefe“ im Neuen Testament: den Brief an die Römer und den an die Epheser. Und dann haben wir einen dritten Brief, den Kolosserbrief, der die beiden in wunderbarer Weise miteinander verbindet.

Die Lehre des Römerbriefes

Um die Verbindung dieser drei Briefe besser verstehen zu können, ziehen wir einen Vergleich mit dem Volk Israel. Wie wir wissen, lebte es viele Jahre unter der Knechtschaft Ägyptens. Die geistliche Übertragung davon finden wir im Römerbrief. Dort sieht uns der Geist Gottes als „Sklaven der Sünde“ (Röm 6,17) und in der Sünde lebend. Nachdem aber das Werk des Herrn Jesus für uns geschehen ist und wir daran geglaubt haben, sind wir der Sünde gestorben (Röm 6,10.11). Das ist das große Thema der vor uns liegenden Kapitel. Wir lernen hier, was Gott mit dem „alten Menschen“ getan hat: Er hat ihn „mitgekreuzigt“ (Röm 6,6). Auch das sehen wir bildlich beim Volk Israel: Nachdem sie das Passahlamm gegessen hatten, zogen sie durch das Rote Meer und waren dadurch befreit von der Macht des Pharaos. Und dann bringt uns der Römerbrief bildlich in die Wüste. Dort leben wir im Land des Todes und wandeln in „Neuheit des Lebens“ (Röm 6,4).

Der Epheserbrief dagegen sieht uns zunächst „tot in Vergehungen und Sünden“ (Eph 2,1). Doch nachdem das Werk des Herrn Jesus geschehen ist und wir es angenommen haben, leben wir jetzt mit Christus. Die Reihenfolge von „Tod“ und „Leben“ ist also genau umgekehrt wie im Römerbrief. Auch bringt uns der Epheserbrief nicht in die Wüste, sondern aus der Wüste durch den Jordan in das Land der Verheißung oder anders gesagt: in das Land der Lebendigen. Wir sind nicht nur mit Christus gestorben, sondern auch mit Ihm auferweckt und in Ihm versetzt in die himmlischen Örter (Eph 2,5.6).

Dazwischen liegt nun der Brief an die Kolosser. Er steht sozusagen mit einem Bein auf dem Römerbrief und mit dem anderen auf dem Epheserbrief. Wir werden dort zum einen als lebend auf der Erde gesehen (vgl. Kol 2,20), und zum anderen sind wir „tot in den Vergehungen“ (Kol 2,13). Um den Kolosserbrief zu charakterisieren, könnten wir sagen: Einst lebte ich in der Welt und jetzt lebe ich mit Christus. Wir sind mit Ihm gestorben und mit Ihm auferweckt (Kol 2,20; 3,1), aber noch nicht versetzt in himmlische Örter. Wir suchen noch das, was droben ist, wo der Christus ist. Wir sind gleichsam in demselben Zustand wie der Herr, als Er nach seiner Auferstehung noch 40 Tage auf der Erde lebte (Apg 1,3). Ebenso war Israel, nachdem es durch den Jordan gezogen war, zunächst noch in Gilgal, dem Ort der Beschneidung, und hatte das Land noch nicht in Besitz genommen.

Gliederung

Der Römerbrief hat fünf große Hauptteile:

  1. Kapitel 1,1–17: Das Evangelium, die wunderbare Botschaft
  2. Kapitel 1, 18–5,11: Das große Problem unserer Sünden: Wir haben Schuld auf uns geladen, wir haben gesündigt und wir brauchen Vergebung unserer Sünden durch das Blut Christi
  3. Kapitel 5,12–8,39: Das Problem unseres sündigen Zustands: Nicht nur für das, was wir getan haben, sondern auch für das, was wir sind, ist das Opfer des Herrn Jesus auf Golgatha nötig und ausreichend
  4. Kapitel 9–11: Die Vereinbarkeit der Verheißungen Gottes an sein irdisches Volk mit seinen Segenswegen, die Er für alle Menschen bereithält
  5. Kapitel 12–16: Praktische Ermahnungen und Grüße

Im dritten Teil – dem Thema dieses Buches – werden folgende Fragen behandelt:

  • Kapitel 5,12–21: Wie und auf welchem Weg kam der Mensch unter die Macht der Sünde und was ist Gottes Antwort darauf?
  • Kapitel 6: Wie wird der Mensch von der Macht der Sünde befreit?
  • Kapitel 7: Wie wird der Mensch von der Macht des Gesetzes befreit?
  • Kapitel 8: Durch welche Kraft wird der Glaubende befähigt, entsprechend dieser Befreiung zu leben?

Sünden und Sünde

Zunächst möchte ich die beiden großen Mittelteile, in denen es um unsere Sünden (Rom 1,18–5,11) und um die in uns wohnende Sünde geht (Röm 5,128,39), mit Bildern aus dem Alten Testament erklären. Und zwar mit Situationen, wo das Volk Israel dreimal besonders mit dem Tod in Berührung kam.

Die erste Begebenheit steht in 2. Mose 12, wo Gott durch Ägypten ging. Um sich vor dem Gericht zu schützen, mussten die Israeliten das Blut eines ausgesuchten Lammes an die beiden Pfosten und an die Oberschwelle streichen. Dann ging Gott vorüber, und die Erstgeborenen der Israeliten mussten nicht sterben. Sie erfuhren eine Befreiung vor dem Gericht Gottes. Und das ist der Inhalt von Römer 1,185,11. Das ist die Vergebung unserer Sünden. Aber in welch einer Verfassung mögen die Erstgeborenen hinter den Türen gewesen sein? Waren sie völlig glücklich? Nein! Sie hatten nämlich noch keinen wirklichen Frieden. Sie hatten noch nicht die vollständige Errettung und Erlösung – die Errettung aus der Macht des Pharaos (vgl. 2. Mo 15).

Die zweite Situation wird in 2. Mose 14 beschrieben. Da standen die Israeliten vor dem Roten Meer. Ein unüberwindbares Hindernis! Und die Ägypter waren dicht hinter ihnen. Doch dann teilte Gott das Meer und ließ sie auf trockenem Boden hindurchziehen. Da erlebten sie die Befreiung aus der Macht des Pharaos, denn er und sein ganzes Heer wurden von den Fluten des Roten Meeres verschlungen. Jetzt konnten sie am anderen Ufer das Lied der Erlösung singen. Nun erst waren sie ein erlöstes Volk. So haben wir nicht nur die Vergebung der Sünden, sondern sind auch befreit von der Macht der Sünde. Das wird in Römer 5,126,23 erklärt.

Die dritte Begebenheit steht in 4. Mose 21. Da wurden die Israeliten von Schlangen gebissen, deren tödliches Gift nun in ihnen war: das „Gift der Sünde“. Das ist ein Bild der in Römer 7 beschriebenen Not einer bekehrten Seele: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (V. 24).

Bis Römer 5,1 I geht es also um ein Werk Gottes, das außerhalb von uns geschah – zu unseren Gunsten: Unsere Sünden wurden vergeben. Das kann man relativ leicht verstehen. Ein Kind, das schuldig geworden ist, verdient Strafe. Und wenn ihm diese Strafe erlassen wird, dann kann es gut verstehen, dass das Gnade war. So hat auch Gott aus Gnade alle unsere Sünden vergeben. Er konnte das tun, weil ein anderer – der Herr Jesus! – stellvertretend die Strafe dafür getragen hat.

Doch ab Kapitel 5,12 wird es schwieriger. Da geht es besonders um ein Werk Gottes in uns. Da geht es nicht mehr um verübte Sünden, sondern um die in uns wohnende Sünde. Man kann auch sagen: Es geht nicht mehr um die Früchte, sondern um die Wurzel, um die Quelle, aus der die Früchte hervorkommen. Diese Wurzel oder Quelle kann nicht „vergeben“ werden. Ich kann einem Dieb, der mich bestiehlt, vergeben, dass er mich bestohlen hat, aber ich kann ihm nicht vergeben, dass er ein Dieb ist. Und darum geht es jetzt: Es geht um den Zustand des Menschen, den er von Natur aus hat. Diese sündige Natur verspüre ich jeden Tag. In mir ist ein Prinzip, eine Gesetzmäßigkeit zu sündigen, und ich empfinde jeden Tag seine Wirksamkeit.

Kennst du das nicht auch? Du hast dich bekehrt, du bist glücklich, du freust dich, dass deine Sünden vergeben sind, doch nach einiger Zeit stellst du fest: Ich bin noch genauso schlecht wie früher. Ich will etwas nicht tun und tue es doch! Und du kämpfst dagegen, aber du fällst immer wieder in dieselbe Sünde. Geht es nicht manchen von uns oft so? Ich will mich bessern: „Morgen kommt das nicht mehr vor!“ – und dann doch wieder das gleiche Problem. Woran liegt das? Weil ich in mir eine Quelle habe, eine Natur, eine Wurzel, die nichts anderes hervorbringt als Böses. Das ist das Prinzip der Sünde in mir.

Wir brauchen also nicht nur Vergebung der Sünden, sondern wir brauchen auch das Gericht über die in uns wohnende Sünde. Viele Menschen haben bei sich dagegen angekämpft, sind hinter Klostermauern gegangen, haben ihren Leib zerschlagen, haben sich gegeißelt, um die Sünde auszutreiben. Doch das ist nicht der Weg. Nein, Gott hat eine ganz andere, eine wunderbare Antwort darauf. Gott hat seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde gesandt und am Kreuz die Sünde im Fleisch verurteilt (Rom 8,3). Und in einem anderen Vers lesen wir: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht“ (2. Kor 5,21).

Je mehr wir über unseren sündigen Zustand erschrocken sind, desto herrlicher empfinden wir diese Antwort Gottes. Das hat dann eine dreifache Wirkung bei uns:

  • Wir hören auf zu zweifeln, ob wir wirklich bekehrt sind.
  • Wir bekommen Freude.
  • Wir werden fähig, unseren Gott und Vater anzubeten.

Eine neue Natur

Nun noch einen abschließenden Gedanken zu dieser Einleitung. Was brauchten wir eigentlich, um in den Himmel zu kommen? Du würdest bestimmt sagen: „Ich brauchte Vergebung meiner Sünden.“ Das ist richtig, aber das genügt nicht. Was hat der Herr Jesus in Johannes 3 zu Nikodemus gesagt? Wenn du Vergebung deiner Sünden hast, wirst du das Reich Gottes sehen? Nein, sondern Er hat gesagt: „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen“ (Joh 3,3). Das heißt, wir brauchten neues Leben, eine neue Natur. Sonst kann man nicht in den Himmel kommen. H. L. Heijkoop illustrierte das einmal so: „Ich würde ein Schwein, auch wenn es gerade sauber wäre, nie mit in mein Wohnzimmer nehmen. Warum nicht? Das Schwein hat eine Natur, die meinem Wohnzimmer nicht entspricht.“ Wenn wir also nur Vergebung der Sünden hätten, was wollten wir dann im Himmel? Wir hätten eine Natur in uns, die nur böse ist und die das Licht des Himmels scheut. Deshalb sagt der Herr in Johannes 3: Ihr braucht eine neue Natur, ein anderes Inneres. Und das hat der Herr Jesus uns geschenkt.

Nächstes Kapitel »