Botschafter des Heils in Christo 1883
An dem Brunnen zu Sichar
Es ist überaus köstlich für ein Herz, das den Herrn Jesus liebhat, Ihn auf seinem Weg durch diese Welt zu begleiten und in allen seinen Worten und Handlungen die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater hervorstrahlen zu sehen. Wie bewunderungswürdig ist seine Weisheit, mit der Er allen entgegentrat! Er hatte niemals ein und dieselbe Antwort für diejenigen, welche in seine Nähe kamen. O nein, seine Worte waren stets dem Zustand der Seele völlig angepasst; sie enthielten gerade das, was die betreffende Seele bedurfte. Wenn wir z. B. das unserer Betrachtung vorliegende Kapitel mit dem vorhergehenden vergleichen, so werden wir finden, wie völlig verschieden der Herr zwei Fälle behandelt, die allerdings in sich selbst verschieden waren, deren Verschiedenheit aber, nach unserem natürlichen Verstande zu urteilen, gerade die entgegengesetzten Antworten von Seiten des Herrn erfordert hätte. In dem dritten Kapitel teilt uns der Evangelist mit, wie Nikodemus, ein Leiter des jüdischen Volkes, ein Lehrer in Israel, ein geachteter, religiöser Mann, zu dem Herrn kommt, um von Ihm, als einem Lehrer, „von Gott gekommen“, zu lernen. Er erkennt die göttliche Macht, die in Jesu und durch Ihn wirkte, völlig an; und obwohl er furchtsam bei der Nacht kommt, so zeigt er doch gerade dadurch, wie viel er durch sein Kommen aufs Spiel setzt, wie sehr er seinen Ruf bei dem Volk gefährdet. Trotzdem aber kommt er, um ehrerbietig anzuerkennen, dass der verachtete Nazarener „ein Lehrer ist, von Gott gekommen“, und um sich, obwohl er selbst ein Lehrer ist, als ein unwissender Schüler zu seinen Füßen niederzusetzen.
Sollten wir nicht denken, der Herr würde einem solchen Mann sogleich sein ganzes Herz erschlossen und ihn aufs Freundlichste ermuntert haben? Gerade das Gegenteil ist der Fall. Die ersten Worte des Herrn an Nikodemus sind: „Du musst von neuem geboren werden.“ Das ist nicht die freundliche Stimme des Evangeliums. Es ist ganz falsch, zu denken, dass es in dem Evangelium irgendein: „Du musst“, geben könnte. Sobald es heißt: „Du musst“, ist es kein Evangelium mehr. Was soll ein Mensch tun, um dieser neuen Geburt teilhaftig zu werden? Was hat sein ganzes vergangenes Leben für einen Wert? Nicht den geringsten. Was soll er tun in Bezug ans die Zukunft? Er muss alles von Neuem beginnen; aber wie? Um ein neues Leben führen zu können, muss er erst von neuem geboren werden. Was aber kann ein Mensch in dieser Sache tun? Er hat nichts zu tun mit seiner natürlichen Geburt. Was könnte er im Blick auf die geistliche Geburt tun? – Nichts, gar nichts!
Der Mensch steht vor einer verschlossenen Tür. Doch warum, möchtest du fragen, verschließt der Herr die Tür vor einem Mann wie Nikodemus? Ich will dir sagen, weshalb. Nikodemus war ein Pharisäer, einer der Führer Israels, welche das Volk ganz verkehrt leiteten; er war ein Mann, der mit all seiner Aufrichtigkeit, seiner Ehrbarkeit und seinem Verlangen, belehrt zu werden, tatsächlich nicht wusste – trotz der Schriftstellen, auf welche der Herr ihn hinwies – was nötig war, um in das Reich Gottes einzugehen. Er gehörte zu einer Klasse von Menschen, welche vor Gott hintreten und in gewissem Sinn aufrichtig, obwohl in großer Selbsttäuschung, sagen konnten: „O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin, wie die übrigen der Menschen: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche, ich verzehnte alles, was ich erwerbe“ (Lk 18,11–12). War es nicht wahr, was dieser Mann sagte? Ganz gewiss; der Herr sagt kein Wort, dass es nicht wahr sei. Und warum hätte er es nicht sagen sollen? Er macht keinen Anspruch auf Vollkommenheit, noch sagt er, dass das, was er getan, ohne die Hilfe Gottes geschehen sei. Er dankt Gott dafür: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin, wie die übrigen der Menschen.“ Er war nicht nur ein sittenreiner, sondern auch ein religiöser Mensch. Er war hingebend und selbstverleugnend, denn er verzehntete alles, was er erwarb, und fastete zweimal in der Woche.
War das nicht ein sehr ehrenwerter Mann? War er nicht ernst, moralisch, religiös? Und doch, was finden wir? Die Tür wird ihm gegenüber wenn möglich noch fester verschlossen, als vor Nikodemus. „Der Zöllner, von ferne stehend, wollte sogar die Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: O Gott, sei mir, dem Sünder, gnädig!“ Und „dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus.“ Er fand die Tür geöffnet, der Andere fand sie verschlossen. Verstehst du jetzt den Unterschied, mein lieber Leser?
Nikodemus gehörte zu dieser Klasse von Menschen, und was der Herr ihm sagte, war gerade das, was er bedurfte, denn der Herr machte nie einen Fehler. Nikodemus musste lernen, dass alle seine eigene Gerechtigkeit vor Gott nur ein unflätiges Kleid war. „Du hast noch gar nicht angefangen zu leben“, jagt der Herr ihm gleichsam, „du musst von neuem geboren werden.“ Und dasselbe Wort gilt allen, die auf Grund ihrer eigenen Gerechtigkeit vor Gott bestehen wollen. „Aber was muss ich denn tun?“ ruft so mancher ärgerlich aus, wenn man ihn auf die Unzulänglichkeit seiner Werkgerechtigkeit aufmerksam macht. Ach, nichts fällt dem Menschen so schwer, als zu erkennen, dass er gar nichts tun kann, dass er einzig und allein auf Gott geworfen ist. Sein Stolz und sein Hochmut bäumen sich auf gegen diese Erkenntnis.
Sehr bemerkenswert ist es, dass der Herr nur an dieser einen Stelle von der Notwendigkeit einer neuen Geburt redet, und dass es gerade ein Pharisäer ist, dem Er sie vorstellt. Wir erkennen hierin seine göttliche Weisheit. Er will Nikodemus in einen Zustand bringen, in welchem er fähig ist, das Evangelium aufzunehmen. Mit all seiner Ehrbarkeit, mit all seiner Moralität, ja selbst mit all seiner Religion musste Nikodemus von neuem geboren werden.
Wenden wir uns jetzt zu dem 4. Kapitel, so finden wir eine Person von ganz entgegengesetztem Charakter – ein einsames Weib, aber einsam ans offenbar anderen Gründen, als Nikodemus. Er kam bei der Nacht, um seinen Ruf vor den Menschen zu wahren; das Weib kam allein bei Tage, weil niemand mit ihr etwas zu schaffen haben wollte. Der Eine ist ein angesehener Mann und wünscht, seinen ehrbaren Ruf nicht zu verlieren; die Andere ist eine Person, welche ihre Mitmenschen um ihren guten Ruf bringen würde, wenn sie mit ihr umgingen.
Sie kommt allein, aber nicht, um Jesu zu begegnen. Sie sucht Ihn nicht. Sie kommt mit ihrem Wasserkrug, wie sie es vielleicht schon unzählige Male getan hat, um Wasser zu schöpfen. Es war kein Bedürfnis der Seele, das sie zu dem Brunnen führte. Sie war, wie jeder Mensch von Natur, ein geistlich totes, gefühlloses Geschöpf. Welch trauriges Leben sie hinter sich hatte, wissen wir. Woher kommt es nun, dass der Herr sie in einer ganz anderen Weise behandelt, wie den Nikodemus? Wie sollen wir es verstehen, dass Er die Tür angesichts des Pharisäers schließt, während Er sie vor der Sünderin weit öffnet? Gerade deshalb, weil sie eine Sünderin ist – denn für Sünder ist Christus gestorben. Sündern kann Gott Gnade erweisen. Sünder besitzen keine eigene Gerechtigkeit, von der sie erst entkleidet werden müssen, sie haben keinen guten Ruf zu verlieren, für sie gibt es keine Schranken dieser Art, welche sie an der Annahme des Evangeliums hindern. Der Herr selbst erklärt dies sehr deutlich, wenn Er zu den Pharisäern sagt: „Wahrlich, ich sage euch, die Zöllner und die Huren gehen euch vor in das Reich Gottes“ (Mt 21,31). Warum gehen sie vor? Weil Christus für Sünder gestorben ist. Die Liebe Gottes sucht verlorene Sünder.
In Folge dessen ergeht die Einladung Gottes an die ganze Welt. Sie schließt niemanden aus; aber ich kann mich selbst ausschließen. Und ach! Wie mancher tut dies, indem er sich dem Urteil Gottes, dass er ein Sünder, und nichts anderes als ein Sünder ist, nicht unterwerfen will. Die Einladung Gottes richtet sich an alle Sünder, Groß und Klein, ehrbar und gottlos, reich und arm. Er will nicht, dass irgendeiner verloren gehe. Wäre Christus nur für die Ehrbaren und Gerechten gekommen, so könnten nicht alle eingeladen sein. Aber jetzt, da Er für Sünder gestorben ist, wendet sich die Einladung an alle. Aber bedenke es wohl, geliebter Leser, dass der Mensch dahin kommen muss, sich auf den Platz zu stellen, der ihm vor Gott gebührt – auf den Platz eines verlorenen, verdammungswürdigen Sünders – ehe Gott ihn erretten und ihm in Christus einen Platz zu seiner Rechten in den Himmeln geben kann. Es ist ein ewig feststehender Grundsatz bei Gott: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.“ Der Mensch muss sein völliges Nichts erkennen, er muss eine wahre, aufrichtige Stellung vor Gott einnehmen. Gott kann nicht einen Menschen retten mit einer Lüge auf seinen Lippen. Er kann nicht einen Menschen erheben, der sich selbst erhebt. Er kann und will dem vornehmsten der Sünder Gnade, Erbarmen und Liebe erzeigen, aber ach! der Mensch schließt sich selbst davon aus, indem er seine eigenen Bedingungen an die Stelle der göttlichen setzt. Nikodemus wollte auch auf Grund seiner eigenen Bedingungen in das Reich Gottes eingehen, und deshalb ist der Herr genötigt, ihm ein: „Du musst!“ entgegenzustellen; das Weib aber befand sich, als eine Sünderin, auf dem Boden, wo der Herr ihrem Bedürfnis begegnen konnte.
Er sagt zu ihr: „Wenn du die Gabe Gottes kanntest und wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken, so würdest du Ihn gebeten haben, und Er hätte dir lebendiges Wasser gegeben“ (V 10). Welch eine köstliche, gesegnete Versicherung für eine jede Seele, die sich auf demselben Boden befindet, wie jenes Weib! Ja, es ist ganz gewiss: wenn jemand den Herrn Jesus in Wahrheit und Aufrichtigkeit bittet, so wird Er geben. Wer zu Ihm kommt, wird nicht hinausgestoßen. Es ist gar nicht möglich, dass ihm seine Bitte abgeschlagen werben könnte. Der Herr gibt, wenn nur der Mensch den Platz des Empfängers einnehmen und Ihn zu einem Geber machen will, anstatt, wie er es so gern tut, den Platz des Gebers einzunehmen und den Herrn zu einem Empfänger zu machen.
Das Weib versteht nicht, was der Herr mit dem „lebendigen Wasser“ meint. Ihre Gedanken erheben sich nicht über den Brunnen und das Schöpfgefäß in ihrer Hand, und sie fragt deshalb: „Bist du größer, denn unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab? Und er selbst trank aus demselben und seine Söhne und sein Vieh“ (V 12). Sie ist erstaunt, wer dieser Fremdling wohl sein mag, der die Forderungen des Gesetzes ganz außer Acht lässt und sie, ein samaritisches Weib, um einen Trunk Wasser bittet. Sie weiß nicht, was sie von seinen merkwürdigen Worten über die „Gabe Gottes“, welche Gott dem Menschen so bereitwillig anbietet, denken soll. Doch für wie viele ist es auch heute noch eine ganz neue, unbekannte Sache, dass Gott weit mehr bereit ist, zu geben, als der Mensch bereit ist, zu empfangen, und dass in seinem Herzen Liebe ist gegen den Sünder, gegen den, der gar nicht an Ihn denkt, noch nach Ihm fragt! Und dennoch ist es die völlige Wahrheit. Das verlorene Schaf sucht nicht den Hirten, sondern der Hirte das Schaf. Er geht dem verlorenen nach, bis Er es findet, und dann ist die Freude des Himmels nur der Abglanz seiner eigenen Freude. Auf diese Weise können wir auch heute noch dem Herrn zu trinken geben. Wir können die Liebe befriedigen, welche sucht, indem wir ihr erlauben, das mit uns zu tun, was sie zu tun wünscht.
Das Herz des Weibes ist gerührt, ihr Interesse ist geweckt, und was noch mehr sagen will – Gott steht vor ihrer Seele. Das Licht, in welchem sie sich selbst kennen lernen soll, bescheint sie. Nur in der Gegenwart Gottes lernen wir, was wir sind. Doch hören wir, was der Herr ihr zur Antwort gibt. „Jesus antwortete und sprach zu ihr: Jeglicher, der von diesem Wasser trinkt, wird wiederum dürften; wer irgend aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle Wassers werden, das in das ewige Leben quillt“ (V 13–14). Jetzt tritt ein Wendepunkt ein. Das Weib, angezogen durch die Freundlichkeit des Herrn, beginnt zu bitten. „Herr, gib mir dieses Wasser“, sagt sie, „damit ich nicht dürste und nicht hierherkomme, um zu schöpfen.“ Indessen weiß sie immer noch nicht, wovon der Herr redet. Die Worte: „Damit ich nicht dürste usw.“ Zeigen dies deutlich. Der Herr entgegnet ihr in seiner gesegneten, wunderbaren Weise: „Gehe hin, rufe deinen Mann und komm hierher.“ Er kennt alle die Geheimnisse ihres Herzens, weiß, weshalb sie zu so ungewöhnlicher Stunde einsam und allein zu dem Brunnen kommt, ja Er wusste dies alles schon, als Er von der Gabe Gottes zu ihr redete, welche Er bereit war, ihr zu geben, wenn sie Ihn nur darum bitten wollte. Und Er zeigt ihr, dass Er alles weih, aber mit welch einer Zartheit tut Er es! Wie ein Arzt berührt Er nur den wunden Fleck und fragt gleichsam: „Gibt es da nicht irgendetwas, was nicht in Ordnung ist?“ Er nennt es nicht, sondern deutet nur leise darauf hin, als wenn Er fragen wollte: Willst du mir nicht Vertrauen schenken? – Anbetungswürdiger Herr!
Indes findet diese Frage keine Antwort, und so muss Er weitergehen und ihr zeigen, dass Ihm ihr ganzes Leben bekannt ist. Aber auch jetzt tut Er es in den einfachsten Worten, indem Er sie weder verurteilt, noch ihr Vorwürfe macht. Er „wirft nichts vor.“ Das Gewissen mochte ihr Vorwürfe machen, und zwar mit allem Recht; der Herr aber trug nur Sorge, sie in die Gegenwart Gottes und seiner Liebe zu bringen, damit sie sich selbst dort in Wahrheit verurteilen lernen möchte. Ach, wie wenig gleichen wir oft unserem geliebten Herrn in der Behandlung der Seelen! Wir sind gleich bereit, sie zu verurteilen, und nichts ist leichter als das; aber dies bringt keine Befreiung. Selten wird jemand unsere Verurteilung annehmen, nie uns dafür danken. Die Seelen müssen dahin kommen, sich selbst zu verurteilen, aber dazu haben sie etwas anderes nötig, als unsere Verurteilung.
Der Herr sucht vor allem das Vertrauen des Weibes zu gewinnen und sie in das Licht Gottes zu stellen, so dass es für sie die einfachste und natürlichste Sache ist, zu diesem Herrn ihre Zuflucht zu nehmen, sobald das Geheimnis ihres Lebens offenbar wird. Es ist ihr ganz klar, dass der Fremdling, der da vor ihr sitzt, nicht ihr Feind ist. Seine Worte geben Zeugnis davon, dass Er nicht gegen sie ist. Sicher ist Er gegen die Sünde, nicht aber gegen sie. Und ebenso ist Gott auch heute nicht der Feind des Sünders, nein, Er liebt ihn und geht ihm nach, um ihn zu erretten. Obwohl der Herr das Leben des Weibes kannte, so hatte Er ihr doch schon gezeigt, dass Er für sie war. Er hatte sie eingeladen, eine Gabe von Ihm anzunehmen. Wird sie jetzt jene Worte über das lebendige Wasser besser verstehen, nachdem sie entdeckt hat, dass Er alles weiß und dass Er ein Prophet ist? Das letztere muss sie anerkennen, und sie tut es mit den Worten: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.“ Sie läuft nicht weg. Sie hat Ihn um eine große, geheimnisvolle Gabe gebeten, und Er hat ihr die Versicherung gegeben, dass sie dieselbe erhalten soll. Sie fühlt sich angezogen von seiner Liebe, und es dämmert in ihr das Bewusstsein, dass Er und die Gabe, von welcher Er redet, doch mehr sein müssen, als sie anfänglich gedacht hat. Er hat ihr soeben eine Last gezeigt, die entfernt werden muss, wenn ihr irgendeine Segnung von Gott zu teil werden soll, und sie wendet sich an Ihn mit einer Frage, die für sie keineswegs unwichtig war. Sie stellt sie auch nicht, um dadurch den Anklagen ihres Gewissens zu entgehen. Sie fragt den Herrn, wie man Gott nahen solle: „Unsere Väter haben auf diesem Berg angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten müsse“ (V 20).
Sicher hat schon mancher Fragen über gottesdienstliche Formen als ein willkommenes Ausfluchtsmittel benutzt, wenn das Gespräch eine zu ernste Wendung für ihn nahm. Doch dies war durchaus nicht der Fall bei der Samariterin. Ihr Leben war vor ihren Augen aufgedeckt worden; sie hatte den Herrn als einen Propheten anerkannt, und der Gottesdienst oder die Anbetung war für sie, wie es heute noch für so viele ist, ein Mittel, wodurch sie einen beleidigten Gott zu versöhnen gedachte. Die Weise Jakobs, das Herz seines Bruders Esau zu gewinnen, gefallt immer noch dem natürlichen Menschen, selbst wenn es sich um weit wichtigere Dinge und eine weit höhere Person handelt. „Ich will sein Angesicht versöhnen mit dem Geschenk, das vor mir hergeht“, sagt Jakob, „und danach will ich sein Angesicht sehen; vielleicht wird er mich annehmen“ (1. Mo 32,20). Ach, wie mancher führt auch heute Gott gegenüber eine ähnliche Sprache! Aber ein solcher bleibt in Bezug auf seine Annahme von Seiten Gottes in derselben Ungewissheit wie Jakob. Ein „vielleicht“, oder ein „ich hoffe“ ist das Höchste, wozu er gelangt. Eine feste, unerschütterliche Gewissheit, eine beständige Freude über seine Errettung und Annahme sind ihm völlig unbekannte Dinge. Mit Zittern und Zagen muss er dem Augenblick seiner Begegnung mit Gott entgegensehen. Denn wie kann er jemals wissen, wann er genug getan hat? O, mein lieber Leser, wenn deine Religion von dieser Art ist, so hast du allen Grund, zu erschrecken. Denn nimm einmal an, dass das, was du für genügend hältst, Gott zu befriedigen, in den Augen dessen, der Herzen und Nieren prüft und vor dem die Himmel nicht, rein sind, keine Anerkennung fände? Willst du dein ewiges Glück von einem „vielleicht“ abhängig machen? Schlage diesen Weg nicht ein, ich bitte dich. Deine Ungewissheit muss dir ja schon zeigen, dass du den Friedensweg Gottes noch nicht betreten hast. Denn ein jeder, der auf diesem Weg wandelt, genießt wahren Frieden und wahre Ruhe.
Doch kehren wir zu unserem Kapitel zurück. Der Herr beantwortet die Frage des Weibes in einer Weise, welche zeigt, dass Er sie nicht für eine unwichtige oder unpassende hält. Die Stunde nahte heran, wo es sich bei der Anbetung nicht länger um Jerusalem oder irgendeinen anderen Ort auf dieser Erde handeln sollte. „Es kommt aber die Stunde und ist jetzt, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater im Geist und in Wahrheit anbeten werden“ (V 23). Um Gott anbeten zu können, muss man Ihn kennen. Es ist völlig unmöglich, einen unbekannten Gott wirklich anzubeten, weil die Anbetung eine Sache des Herzens ist. Sie besteht nicht in einem Beugen meiner Knie vor Gott, noch in gewissen Gebräuchen, die ich bei dem Gebet beobachte, sondern in dem Ausschütten meines Herzens in aufrichtigem Lob und Dank gegen Gott. Um Gott anbeten zu können, muss ich etwas in Ihm sehen, was meine Anbetung wachruft; mit einem Wort, ich muss Ihn kennen. Viele Tausende der bekennenden Christen glauben, Gott anzubeten, wenn sie – vielleicht mit andächtigem Ernst – ihre auswendig gelernten Gebete hersagen; sie denken selbst, Gott damit wühlzugefallen. Ach, sie haben nicht das geringste Verständnis über den Charakter einer wahren Anbetung Gottes. Vielleicht nennen sie Gott ihren „Vater“ und reden Ihn mit diesem Namen an, aber sie tun es, weil sie so gelehrt worden sind, nicht aber weil sie Ihn in diesem köstlichen, innigen Verhältnis kennen gelernt haben. Um den „Vater“ im Geist und in Wahrheit anbeten zu können, muss vorher die Frage der Annahme geordnet sein. Ist diese nicht geordnet, wie kann sich ein sündiger Mensch wohl fühlen in der Nähe eines heiligen Gottes? Es geht ihm wie jenem Sohn, der seinem Vater solange Jahre gedient hatte und für den dennoch Musik und Reigen in seines Vaters Haus eine ganz fremde Sache war. Fragt man einen solchen: „Haft du Frieden mit Gott? Erfreust du dich der Liebe seines Vaterherzens und all der herrlichen Dinge, die Er für dich in Christus Jesus bereitet hat?“ so wird er, wenn er anders aufrichtig ist, antworten: „Nein, das sind mir ganz unbekannte Dinge.“ „Wie?“ muss man unwillkürlich weiter fragen, „du sagst, du hast Gott schon solange gedient, und du kennst Ihn nicht einmal?“
„Ihr betet an – ihr wisst nicht was“, sagt der Herr, „wir beten an und wissen was denn das Heil ist aus den Juden.“ Hörst du das, mein lieber Leser? Gott ist gekannt, der Vater ist gekannt – wodurch? Durch das Heil, durch die Errettung. Erkennst du nicht, dass, wenn Gott nicht als ein Heiland Gott gekannt ist, Er gar nicht gekannt werden kann? Wie kennst du Ihn? Als einen Richter, vor dem du einst erscheinen musst, wo es sich dann herausstellen wird, ob du angenommen oder verworfen bist? Das ist nicht Errettung. Mutzt du vor Gott, als deinem Richter, erscheinen, so bist du trotz alles deines Tuns verloren. Die Errettung ist sein, nicht dein Werk. Der Mensch kann sich nicht selbst retten, ein anderer muss ihn retten, und dieser andere ist Gott, ein Heiland Gott. Gott hat ein Heil, eine ewige Errettung vorgesehen. Christus vermag völlig zu erretten alle, die durch Ihn zu Gott kommen. Und nicht allein das; was diese Errettung so überaus köstlich macht, ist, dass sie uns Gott zum Vater gibt und uns fähig macht, Ihn im Geist und in Wahrheit anzubeten.
Was musste das Herz des verlorenen Sohnes empfinden, als er in die Nähe des Vaterhauses kam, und – anstatt des erwarteten kalten Empfangs, der väterlichen Vorwürfe und im besten Fall der Aufnahme als ein Tagelöhner – die überströmende Liebe des Vaterherzens fand, die Küsse des Vaters fühlte und die Worte aus seinem Mund vernahm: „Bringt das vornehmste Kleid her und zieht es ihm an, und gebt einen Ring an seine Hand und Sandalen an seine Füße, und bringt das gemästete Kalb her und schlachtet es, und lasst uns essen und fröhlich sein!“ (Lk 15,22–23) Ähnliches erfährt auch der Sünder heute, wenn er von seinen bösen Wegen umkehrt und zu Gott seine Zuflucht nimmt, wenn er findet, dass Gott ihm gerade da begegnet, wo er ist, dass Er für ihn ist, für ihn, den Verlorenen, ja dass Er ihn, den Hassenswürdigen, liebt mit einer unaussprechlichen, vollkommenen Liebe. Die Erkenntnis und der Genuss Gottes wird jenen „Quell des lebendigen Wassers“ in ihm hervorsprudeln lassen. Die Seele ist befriedigt, ihr Durst ist für immer gestillt, und sie trägt das erquickende Lebenswasser stets mit sich umher.
Fragst du, wo dieser Ort ist, an welchem sich Gott und der Sünder begegnen können? Begehrst du zu wissen, was Gott getan hat, um den Sünder segnen zu können? O, dann blicke auf das Kreuz. Da ist der Ort, wo Gott und der Mensch zusammentreffen: der Mensch in seinem Elend und Verderben, „fern von Gott und ohne Hoffnung in dieser Welt“ – Gott in seiner überströmenden Gnade und Liebe, und zugleich in seiner unbeflecklichen Heiligkeit und Gerechtigkeit. Der Mensch ist in der Tat unter dem Fluch, und der Zorn Gottes ruht auf ihm. Wäre es sonst nötig gewesen, dass der Herr Jesus den Fluch auf sich nahm? Warum musste der gepriesene Sohn Gottes in der tiefsten Seelennot schreien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er hätte diesen schrecklichen Platz nicht einzunehmen brauchen, wenn es wirklich wahr wäre, dass der Mensch, wie so viele sagen und denken, zwar nicht gut genug für den Himmel, aber auch nicht böse genug für die Hölle sei. Kannst du, geliebter Leser, auf das Kreuz blicken und sagen: „Dort starb Christus für mich?“ – „Er starb für alle“, antwortest du vielleicht. Doch dann möchte ich dich fragen: wenn Er für alle starb, wenn Er den Platz des Gerichts einnahm für alle, welcher Platz gebührt dann diesen allen? Willst du einen Unterschied machen zwischen Sündern, deren Errettung und Hinführung zu Gott, dem Vater, einen solchen Tod nötig machten? Willst du noch länger dafür streiten, dass du doch noch lange nicht so schlecht seist, wie mancher andere? Vielleicht ist es so, vielleicht bist du vor vielen groben Sünden durch die Gnade Gottes bewahrt geblieben; aber was hilft es dir, wenn nach allem das Kreuz des Missetäters sowohl dein wie jener Platz ist?
Ach, bedenke doch, dass es nicht ein Feind ist, der zu dir redet über deine Sünden und über deinen verlorenen Zustand. Es ist die göttliche Liebe, die für dich herniedergekommen ist und dir gerade durch das Opfer, welches sie für dich bringen musste, sagt, was du bist. „Denn die Liebe des Christus dringt uns, indem wir also urteilen: dass, wenn einer für alle gestorben ist, somit alle gestorben sind“, d. h., dass sie sich alle unter dem Urteil des Todes befinden (2. Kor 5,14). Du bist gerade der Sünder, der einen solchen Tod nötig machte. Gerade für solche, wie du bist, ist Christus gestorben. Das Kreuz ist der Ort, wo du Gott begegnen kannst, und wenn du heute im Glauben deinen Blick auf das Kreuz richtest, so wirst du sehen, wie Gott dort für dich ein vollkommenes Heil bereitet hat. „Das Wort ist treu und aller Annahme wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten“ (1. Tim 1,15). Kannst du mit dem Apostel hinzufügen: „von welchen ich der Erste bin“, so hast du das erste Anrecht auf dieses Werk. Bist du ein Sünder? Das ist alles, was Gott braucht. Nimm einfach und aufrichtig diesen Platz vor Gott ein; aber füge nichts hinzu. Sage nicht: „ich bin ein ehrbarer Sünder“; für solche ist Christus nicht gestorben. Dem Sünder bietet Gott Gnade und Vergebung an. Ja, der Vater sucht aus der Mitte der Sünder solche, die Ihn im Geist und in Wahrheit anbeten. Der Herr sagt dies zu dem Weib. Der Mensch sucht Gott nicht, sondern der Vater sucht den Menschen, den Verlorenen.
„Ich weiß“, antwortet das Weib, „dass der Messias kommt, der Christus genannt ist; wenn jener kommt, wird Er uns alles verkündigen.“
„Jesus spricht zu ihr: Ich bin es, der mit dir redet.“
Welch eine Botschaft für das arme Weib! Das Kreuz war zwar noch nicht; aber der lange erwartete Messias, der Christus, war da; Er saß neben ihr am Rand des Brunnens und redete mit ihr, der großen Sünderin, obwohl Er ihre ganze Vergangenheit kannte, in solch unbegreiflicher Güte und Huld. Er verkündigte ihr die Gnade, welche allein ihrem traurigen Zustand begegnen konnte. Sie nimmt diese Gnade auf, sie glaubt dem Wort des Herrn, sie trinkt das Wasser des Lebens, welches Er ihr reicht, und es wird in ihr „Zu einer Quelle Wassers, das in das ewige Leben quillt.“
Welch eine liebliche Szene! Ja, mein lieber Leser, Christus ist es, den du nötig hast. Fühlst du dich beleidigt, wenn du die Evangelien öffnest und findest Ihn in der Gesellschaft von Sündern? Sagst du mit den selbstgerechten Pharisäern: „Dieser nimmt die Sünder auf und isst mit ihnen?“ Oder ist dir die Botschaft, dass Er gekommen ist, zu suchen und zu erretten, was verloren ist, köstlich, köstlicher, als dem verschmachtenden Wüstenwanderer das Wasser der Oase? Hast du diesen Christus kennen gelernt, der Sünder aufnimmt und niemanden von sich stößt, der zu Ihm kommt, ja alle einladet – weil alle Sünder sind – zu Ihm zu kommen? Kennst du den, der gesagt hat: „Kommt her zu mir, alle Mühselige und Beladene, und ich werde euch Ruhe geben? Was auch euer Leben, eure Erfahrungen, eure Gefühle sein mögen, kommt her zu mir!“ Was kann ein Sünder anders haben, als schlechte Gefühle und schlechte Erfahrungen? Was ist ein Sünder anders, als ein Mensch von schlechtem Lebenswandel?
Der Herr hatte zu dem Weib geredet, obwohl Er alle ihre Umstände kannte, und Er war der Christus, der lebendige Ausdruck dessen, was Gott ist. Alles war da für sie, und sie hatte nach der Fülle seiner Gnade von Ihm empfangen. Und jetzt läuft sie fort, um den Leuten in der Stadt – denen, die sie sehr gut kannten – zu sagen, dass sie einen Menschen gefunden, der ihr alles gesagt habe, was sie getan habe. Sie denkt nicht mehr daran, weshalb sie gekommen ist, noch fragt sie danach, was die Leute von ihr sagen werden – nur ein Gegenstand erfüllt ihr ganzes Herz: sie hat jemanden gefunden, der ihr alles gesagt, was sie getan hat. Ein jeder, der an sich selbst erfahren hat, was es heißt, mit allen seinen Sünden vor Gott gewesen zu sein, wird die Gefühle, welche das Herz des Weibes erfüllten, verstehen. Wenn einmal zwischen Gott und mir die Rede über meine Sünden gewesen und kein Rückhalt mehr im Herzen vorhanden ist, so kann ich auch vor anderen rückhaltlos mein Leben aufdecken. Doch kannst auch du sagen, mein lieber Leser: „Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe?“ Neun du es sagen kannst, wenn du mit allen deinen Sünden in seiner Gegenwart gewesen bist, so wirst du auch hinzufügen können: „Er hat mir alles vergeben, hat meine Sünden für immerdar hinweggetan und mir, dem Sünder, nichts als Liebe bewiesen.“
Doch noch eins. Wenn unser Herz voll von Freude ist, so ist es das seinige noch weit mehr. Wie wunderbar ist der Gedanke, dass, wenn Er uns gegeben hat, wir auch Ihm gegeben haben! Als die Jünger aus der Stadt zurückkehrten und Ihn aufforderten, Speise zu sich zu nehmen, wollte Er nicht essen. Der gute Hirte hatte sein Schäflein gefunden, und jetzt brauchte Er keine. Speise mehr. Wenn die Freude eine gewisse Höhe erreicht, so benimmt sie uns Hunger und Durst. So war es bei unserem gepriesenen Herrn. Einer armen Sünderin begegnet zu sein und sie zur Ruhe und zu dem Vater gebracht zu haben, war Speise und Trank für Ihn und erfüllte sein Herz mit tiefer, unaussprechlicher Freude. Und immer noch ist Er derselbe – gestern, heute und in Ewigkeit derselbe Jesus!
Ach, zu seinen Jüngern musste Er sagen: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt.“ Wie wenig kennen auch wir oft diese Speise! Wie wenig Interesse findet sich in unseren Herzen zu armen, verlorenen Seelen, wie wenig Liebe zu unserem Gott und Vater! Möchte doch die Erfahrung seiner Liebe auch in unseren Herzen eine wahre, brennende Liebe zu Ihm, sowie zu den Gegenständen seiner Liebe entzünden! Möchten wir mehr und mehr erfahren, wie köstlich es ist, den Willen dessen zu tun, der auch uns gesandt hat, und sein Werk zu vollbringen!