Botschafter des Heils in Christo 1878
Wo ist die Wohnung des Christen?
„Eins habe ich begehrt von Jehova, um dieses will ich bitten: zu wohnen im Haus Jehovas alle die Tage meines Lebens, um anzuschauen die Lieblichkeit Jehovas, um zu forschen in seinem Tempel. Denn er wird mich bergen in seinem Zelt am Tag des Übels; er wird mich verbergen in dem Verborgenen seiner Hütte; auf einen Felsen wird er mich erhöhen. Und nun wird sich erhöhen mein Haupt über meine Feinde, die um mich her sind, – und Opfer des Posaunenschalls will ich opfern in seiner Hütte: ich will singen und Psalmen singen Jehova“ (Ps 27,4–6).
Diese Worte sind der einfache Ausdruck des Lebens Gottes in der Seele eines Menschen. Es gibt eine Sache, an welche wir, wie ich glaube, nicht genug denken, nämlich dass wir – so wir anders Christen sind – einen göttlichen Grundsatz in uns umhertragen. Es ist höchst wunderbar, zu wissen, dass wir das Leben Jesu besitzen: so wie der Apostel sagt: „Denn wir, die wir leben, werden allezeit dem Tod überliefert um Jesu willen, auf dass auch das Leben Jesu offenbar werde an unserem sterblichen Fleisch“ (2. Kor 4,11). Als Christ ist nicht nur mein Gewissen vor Gott zur Ruhe gebracht, so dass mich dasselbe dort nicht mehr verurteilt, sondern ich habe auch das Leben Jesu in mir. Die wichtige Frage für uns alle ist jetzt nur, in wie weit dieses Leben in uns wirkt und an uns wahrgenommen wird. Überhaupt ist diese Frage von großer Bedeutung in unseren Tagen, wo so wenig Tiefe und Wirklichkeit gefunden wird, und darum auch so wenig Gefühl von der gesegneten und herrlichen Tatsache, ein Gefäß zu sein, in welches das „Leben Gottes“ niedergelegt ist. Man denke, da wir ja nur mit einfachen, täglichen Dingen zu tun haben, z. B. an den heutigen Tag, und man lege sich die Fragen vor: In wie weit hat sich dieses Leben in den Einzelheiten unserer täglichen Verrichtungen offenbart? In wie weit verwirklichen wir das Leben in dem, was von einem Augenblick zum anderen vorkommt? Und wie vieles kommt dabei bloß der Wirkung der Kraft Unserer eigenen Natur auf Rechnung? Ach, oft, wenn der Ernst dieser Fragen mich trifft, muss ich stillstehen und mein Haupt vor Gott tief in den Staub niederbeugen.
Ich habe in Bezug auf diesen Gegenstand die oben angeführten Worte aus Psalm 27 gewählt, weil dieselben das eigenartige Kennzeichen des Lebens Gottes in uns darstellen. „Eins habe ich begehrt von Jehova usw.“ Das ist der einfache, regelrechte Zustand eines Christen – eines Menschen, der das Leben Jesu in sich hat.
Ich setze jedoch vor allen Dingen voraus, dass die Seelen der Leser dieser Zeilen zu vollkommener Ruhe gebracht sind und unbeweglich feststehen auf dem Boden, der die Grundlage des Christentums bildet. Solange noch zwischen einem Gewissen und Gott unaufgelöste Fragen vorhanden sind, ist es nicht am Platz, über andere Dinge zu sprechen; man hat dafür kein Verständnis. Und diesem Übelstand kann man täglich begegnen. Es ist zum Erstaunen, wie gering die Zahl solcher ist, deren Gewissen auf dem unerschütterlichen Fundament des Christentums zu einer unwandelbaren Ruhe gekommen sind. Ich weiß wohl, dass viele die gegründete Hoffnung haben, dass, wenn der Herr sie durch den Tod abrufe, sie nichts zu fürchten haben würden: aber dieses allein ist nicht genug. Wir hätten sicher große Ursache, Gott auch dann zu danken, wenn Er uns nichts anders als dieses gegeben hätte; allein da dieses doch nur der Anfang von dem ist, was Gott für uns bereitet hat, so ist es gewiss nur die List Satans, wenn er uns etwas, das zur Wahrheit gehört, vorenthält, als ob wir nur jenes empfangen hätten. Es ist ein Haupt Kennzeichen unserer Zeit, dass man den einfachen Ausgangspunkt, den Anfang des Christentums als den ganzen Inbegriff dessen bezeichnet, was uns durch die Gnade zu Teil geworden ist. Aus diesem Grund ist dann auch gewöhnlich das eigene Ich zum Mittelpunkt geworden, um welchen sich Jahr aus Jahr ein die Gedanken, Erfahrungen und Neigungen zu bewegen pflegen.
Ich muss daher voraussetzen, dass meine Leser sich nicht auf dieser gefährlichen Klippe bewegen, sondern das klare Bewusstsein haben, in der Gegenwart Gottes zu sein. Es handelt sich nicht darum, dass uns das Eine und das Andere zuteilgeworden ist, sondern dass wir zu Gott gebracht sind und uns zu Ihm in einem Verhältnis befinden, in welches Er uns nach seinem Wohlgefallen in dem Sohn seiner Liebe hingestellt hat. Und es war sein Wohlgefallen, uns in seine Gegenwart zu stellen, und zwar in der Vollkommenheit und Schönheit des Herrn Jesus selbst. Von diesem Punkt aus wollen wir unsere Betrachtung beginnen.
Was muss nun aber, wenn dieses also ist, der Ausdruck meines Lebens hienieden sein?
Zunächst finden wir dieses gleich im Anfang der oben angeführten Schriftstelle, wo vor der Seele des Gläubigen ein Gegenstand steht, der seine Neigungen ganz einnimmt und beherrscht. „Eins habe ich begehrt.“ Das ist der einfache Ausdruck eines Herzens, welches nur einen Beweggrund, ein Ziel hat, worauf der Herr Jesus anspielt, wenn Er sagt: „Wenn dein Auge einfältig ist“ – d. h. nur auf einen Gegenstand schaut. Dann habe ich nur ein Begehren, welches jedes andere Begehren in sich aufnimmt, nämlich, dass ich möge „wohnen im Haus des Herrn alle die Tage meines Lebens.“ Es braucht hier vielleicht kaum erwähnt zu werden, dass in unserem Psalm ein jüdisches Bild gewählt worden und mithin hier die Rede ist von der Stiftshütte, dem Haus oder dem Tempel, wo die Zeichen der Gegenwart Gottes gefunden wurden. Jedoch dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, dass das Leben Gottes – mag es sich bei einem alt– oder neutestamentlichen Gläubigen finden – stets zu der Quelle zurückgeht, aus welcher dasselbe entsprang: und diese Quelle ist Gott. „Eins habe ich begehrt von Jehova, um dieses will ich bitten: zu wohnen im Haus Jehovas alle die Tage meines Lebens.“
Ist dieses das Begehren auch deines Herzens, mein Leser? In wie weit hat dieses Begehren Einfluss auf deine Neigungen? Welches ist das „Eine“, welches du suchst? Suchst du vielleicht die Gewissheit der Vergebung, die Befreiung von dem Zorn und dem Gericht? Das ist nicht das Begehren, „zu wohnen im Haus des Herrn allezeit.“ Dieses allein drückt den Stempel auf uns. Sei versichert dass der Platz, wo du wohnst, dich kennzeichnet.
Gehören wir der Erde oder dem Himmel an? Nun, niemand kann „himmlisch“ sein, es sei denn, dass er im Himmel wohnt. Leider stellen viele Gläubigen den Himmel bei Seite, bis nach dem Tod. Sie denken an den Himmel als an die Stätte, wo Gott und wo Christus ist, und betrachten ihn als unseren Zufluchtsort, wenn wir diese Erde verlassen. Wenn wir hienieden nicht länger „wohnen“ können, wollen wir in den Himmel. Oder wir wenden uns auch wohl zum Himmel, wenn hienieden alles gegen unsere Wünsche geht und die Beschwerden des Lebens hienieden uns zu überwältigen drohen, gerade so wie jemand, der vor dem Sturm einen Zufluchtsort sucht, den er wieder verlässt, wenn der Sturm vorüber ist. Das ist die natürliche Gesinnung unserer Herzen. In diesem Fall sind unsere Herzen gar nicht oder doch nur in einem geringen Gerade begierig, fortdauernd an dem wundervollen Platze zu sein, wo Gott nicht verhindert wird, sich uns in der unendlichen Fülle seiner Liebe zu offenbaren. Dieses kann Er nicht hienieden tun. Hienieden gewährt Er uns seine Sorgfalt, seine Hilfe, sein Mitgefühl, seine Erquickung; hienieden leitet Er uns an seiner Hand auf jedem Schritt unserer Reise: aber nur droben und nicht hienieden kann Er sich in der oben bezeichneten Weise offenbaren.
Wie notwendig ist es daher, ununterbrochen im Haus des Herrn zu wohnen! Welch ganz andere Erfahrungen würden wir machen, wenn wir dort mit unseren Herzen stets verweilten! Es genügt nicht, dort dann und wann einen Besuch zu machen, oder dorthin zu flüchten, um vor einem Sturm geschützt zu sein, sondern wir sollten das Haus des Herrn mit all den damit verbundenen Lieblichkeiten als unsere „Heimat“ kennen. Nicht die Not ist es, die uns in unsere Heimat zurücktreibt, sondern das Anziehende der Heimat selbst lässt uns dort so gern verweilen. Kennst du die Vortrefflichkeit dessen, der dort wohnt? Es ist nicht eine Lehre oder ein System, sondern eine lebendige, göttliche, anbetungswürdige, erhabene Person, die auf unsere Neigungen Anspruch macht – eine Person, die durch ihre Vortrefflichkeit und Schönheit mein Herz an sich zu ketten weiß. Nicht durch die Not werde ich aus allem, was mich hier umgibt, hinweggetrieben, sondern ich werde durch die Schönheit und Herrlichkeit jener Stätte angezogen, wo Christus vor Gott alles ist, und wo es das Wohlgefallen Gottes ist, sich in seiner ganzen Fülle zu erkennen zu geben. Das ist der Ort, wo ich zu wohnen, zu verweilen begehre, und den ich als meine Heimat zu kennen wünsche.
In Christus, als Er als Mensch auf dieser Erde wandelte, sehe ich diesen Grundsatz in seiner ganzen Vollkommenheit. In Johannes 3,13 lesen wir: „Niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel, als der aus dem Himmel herabgestiegen ist, der Sohn des Menschen, der im Himmel ist.“ Man beachte es wohl, dass es heißt: „der im Himmel ist“, und nicht: „der im Himmel war.“
Dieser vollkommene Mensch, der Zugleich der mächtige Gott, der Schöpfer und Erhalter aller Dinge war, wandelte auf seinem von Licht umstrahlten Pfade hienieden in fortdauernder Gemeinschaft mit allem, welches jener gesegneten Stätte angehörte, von wo Er kam und wohin Er ging. Er sagte: „Ich weiß, woher ich gekommen bin und wohin ich gehe“ (Joh 8,14). Um dieser Hoffnung willen kennzeichnete sich sein Wandel durch eine völlige Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit, woran es bei uns oft so sehr mangelt. Oder wandeln auch wir unsere Pfade wie Menschen, welche wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen? Zeigt sich dieses täglich in unseren Arbeiten, in unserem Haus, in unserem Verkehr unter einander? Wenn das der Fall ist, dann wird auf alles der Stempel des Himmels gedrückt sein, als ein Beweis, dass wir im Haus des Herrn wohnen, und dass wir wissen, woher wir gekommen sind und wohin wir gehen.
Der Herr Jesus hatte hienieden die Gefühle eines Menschen und wandelte, dem Vater gegenüber, in der völligsten Abhängigkeit und in dem vollkommensten Gehorsam; aber Zugleich finden wir bei Ihm die vollkommenste Ruhe in den Umständen des Lebens. Man lese Matthäus 11, wo alles und ein jeder gegen Ihn war. Johannes der Täufer wankte in seinem Glauben an Ihn; die Städte, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, verwarfen Ihn: kein Lichtpunkt war hienieden zu entdecken, an welchem ein menschliches Herz sich hätte emporrichten können. Und dennoch hören wir Ihn sagen: „Ich danke dir, Vater!“ Welch eine bewundernswürdige Vollkommenheit! Während Er, umgeben von allem, was gegen Ihn war, mit seinem Fuß die Erde berührte, weilte sein Herz droben beim Vater, dessen köstliche Gedanken und Ratschlüsse es zu Lob und Dank stimmen konnten.
Geliebter Leser! Wir sind zu nichts Geringerem berufen; und wenn dieses Leben Gottes in unseren Seelen wirksam ist, dann ist auch dieselbe Gesinnung vorhanden. Möge der Herr diese bei uns bewirken und lebendig erhalten, damit von uns gezeugt werden kann: „Siehe, ein Volk, das sich bewegt inmitten aller Sorge und Mühe dieser Erde, bei welchem jedoch dieses alles nur dazu dient, jenes herrliche Leben Jesu in einem sterblichen Leib umso heller hervorstrahlen zu lassen; – wahrlich, sie wohnen alle die Tage ihres Lebens im Haus des Herrn.“
Wiederum richte ich an dich und an mich selbst die Frage: „In wie weit haben wir dieses heute verwirklicht?“ Wird wohl einmal gesagt: „Ich danke Gott, dass ich mich außerhalb der irdischen Zustände bewegen darf?“ Außerhalb? Inwiefern? Allein mit dem Leib, oder auch mit dem Geist und den Gedanken? Darauf kommt es an. Mancher befindet sich, was sein Bekenntnis betrifft, außerhalb der Welt; aber wenn mein Geist sich darin verirrt hat, meine Gedanken davon eingenommen sind, meine Neigungen davon angezogen werden, dann wohne ich nicht im Haus des Herrn. Ich kann dann sagen, dass ich hier und dort nicht hingehe: aber ich bin vielleicht nur dem Leib nach nicht dort, wohl aber mit meinen Gedanken. Es gibt auch nichts, was mich von der Welt getrennt halten kann, als wenn ich mich an der Quelle befinde, aus der mein Leben entsprungen ist. Wenn das Leben nicht durch seine Quelle unterhalten und befriedigt wird, so ist es ein kränkelndes, schwaches Leben, d. h. es ist verhindert, sich offenbaren zu können.
Es ist ein vielbezeichnender Ausdruck, wenn wir lesen: „Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen“ (2. Kor 4,7). Es ist etwas höchst Wunderbares, dass Gott einen Schatz in ein solch gebrechliches. Gefäß legt. Doch wenn auch das Gefäß zerbricht, so bleibt doch der Schatz gleich wertvoll. Durch nichts anders aber kann dieser verborgene Schatz offenbar werden, als dadurch, wenn ich wohne im Haus des Herrn. Dort finde ich Kraft und Frische, um allen Stürmen Widerstand zu bieten. Ja, die Stürme selbst sind das Mittel, um die Macht jener Ruhe ans Licht zu stellen, die ich in der Stätte besitze, wo es Gott gefällt, sich mir zu erkennen zu geben. In diesem Fall kenne ich den Himmel jetzt, und nicht erst nach meinem Tod. O geliebte Freunde! Würde es uns nicht eine Freude sein, sagen zu können: „Ich lebe jetzt jeden Tag mit dem Herrn inmitten aller Schwierigkeiten und Prüfungen, die zu dieser armen Erde gehören, und wodurch ich umso besser mit Ihm bekannt werde?“ Möchten wir nicht gern ausrufen: „Ich kenne Ihn, habe Gemeinschaft mit Ihm, erfreue mich in Ihm in jener herrlichen Stätte, wo Ihn nichts verhindert, mich zu segnen, und wo mich nichts verhindert, um gesegnet zu werden?“ Ja, dort kann Gott mir begegnen in der Vollkommenheit seiner Liebe, und dort kann ich eingehen in die Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit. Dort wohnt Gott, und auch ich wohne dort. Bedenken wir, dass Er, im Blick auf die durch Christus vollbrachte Erlösung, nichts anders im Einklänge mit dem Ausdruck seines eignen Herzens findet, als dass wir „wohnen im Haus des Herrn.“ Er gebe, dass wir dieses Haus als unsere Heimat, als den Ruheplatz unserer Seelen, als unsere herrliche Wohnung erkennen, wo wir wirkliche Gemeinschaft haben.
Doch zu welchem Zweck müssen wir dort wohnen? Etwa um dem Sturm, den Mühsalen, den Prüfungen und den Kämpfen dieser Welt entrückt zu sein? Durchaus nicht. Der Zweck ist, „die Lieblichkeit des Herrn anzuschauen.“ Köstliche Wahrheit! Eine Sache wird dort von meiner Seele angeschaut; eine Sache zieht dort die Neigungen meines Herzens an, nämlich „Seine Lieblichkeit.“ Ich schaue Ihn an, der dort wohnt. Mein Auge ruht dort auf einer Schönheit, welche ich nicht eher in Wahrheit kenne, als bis ich sie durch den Glauben sehe. Schon ein flüchtiger Anblick dessen, was droben ist, verscheucht alle irdischen Dinge aus meinen Augen. Ein kurzes Anschauen der Lieblichkeit des Hochgelobten verwandelt das Herrlichste, was diese Erde darzubieten vermag, in ein Etwas, das als arm und verwerflich an unserem Herzen vorüberzieht. Gewiss, ein jeder, welcher Christus droben anzuschauen versteht, kümmert sich wenig um die Dinge der Erde, mit denen er sich nicht mehr im Einklänge fühlt. Er kann sagen: „Die Stätte, wo Gott selbst ist, ist auch die Stätte, wo ich zu verweilen begehre, und wo ich meine Befriedigung finde.“
Man denke sich den Fall, dass ein Engel in diese Welt herabstiege, würde er sich nicht in einer anderen Weise hienieden bewegen, als wir? Glaubst du nicht, geliebter Leser, dass, wenn ein Bote Gottes, einer jener dienstbaren Geister, welche vor Gott stehen, auf die Erde käme, derselbe hier verweilen würde, wie jemand, der den Grundsätzen, den Gewohnheiten und Reizen dieser Erde fremd ist? Ja, du glaubst es. Wohlan, ein Engel ist nicht, was wir sind. Ein Engel ist nicht ein Glied jenes Leibes, wovon der verherrlichte Jesus das Haupt ist. Ein Engel ist nicht ein Kind Gottes, ein Erbe Gottes und ein Miterbe Christi. Ein Engel würde nicht sagen können: „Er liebt mich und hat sich für mich dahingegeben.“ Ein Engel gehört nicht zu denen, die Jesus betrachtet als seine Braut, welche bei Ihm sein soll, um seine Herrlichkeit anzuschauen. Ist für unsere Herzen der Gedanke nicht anziehend, dass Gott an den Engeln vorüberging, und dass Er auf eine nichtige Erde hinabstieg und sich dort verachteter, elender und armer Geschöpfe annahm, um an ihnen die erhabene Herrlichkeit seiner Gnade zur Schau zu stellen und in ihnen das Leben seines Sohnes zu offenbaren? Kann es etwas Ergreifenderes geben, als zu denken, dass Er uns in Gnaden angenommen und uns, indem Er uns mit Christus in der Herrlichkeit vereinigte und uns mithin von der Welt absonderte, zu wirtlichen Gliedern des Leibes Christi gemacht hat, um uns dann in die Welt zu senden, damit wir die Grundsätze des Himmels, dem wir angehören, darstellen sollten? Wunderbar!
Wandeln wir hienieden als solche, die einem anderen Land angehören? Teilen wir den Wohlgeruch dieses Landes einem jeden mit, der mit uns in Berührung kommt? Ach, wie vieles, was von der Welt ist, erlauben wir uns oft! Wie vieles zeigt sich noch jeden Tag bei uns, welches zu dem gehört, wovon wir nach unserem Bekenntnis abgesondert sind! In welch geringem Maß offenbaren wir die herrlichen Grundsätze des neuen Landes, der neuen Heimat, des neuen Genusses, wozu Gott uns gebracht hat! Wie sehr werden oft die jüngeren Seelen unter uns durch die armseligsten, nichtigsten Dinge, die in dieser Welt gefunden werden, angezogen! Hätten sie nur ein wenig die Freude, das Glück und die Herrlichkeit droben, wo Christus ist, gekostet, so würden sie sicher, als des Betrachtens unwürdig, an alle dem vorübergehen, was der Teufel hier und dort zur Schau stellt, um die Sinne zu reizen und zu befriedigen. Und wir, die wir bereits zu höheren Jahren gekommen sind, welches Beispiel geben wir ihnen? Können wir sagen: „Seht auf uns, wie ihr uns zum Vorbild habt?“ Ach, auch wir zeigen nur zu wenig, dass unser Herz droben lebt und dass wir wissen, woher wir gekommen sind, und wohin wir gehen. Wenn wir aber hienieden nicht wandeln als solche, die von Ihm ausgegangen sind und Ihm angehören, so können wir weder seine Zeugen, noch seine Knechte sein. O möchte Er durch sein Wort doch unser Gewissen treffen: denn dadurch bringt Er uns in seine Gegenwart und zieht uns zu sich.
Doch der Psalmist wünscht nicht bloß die Lieblichkeit Jehovas anzuschauen, sondern auch „zu forschen in seinem Tempel.“ Es ist dieses sehr beachtenswert; denn ich glaube, dass es unter uns wenige Forscher dieser Art gibt. Wir lesen oft viel und vielerlei, jedoch vielleicht sehr wenig in dem Wort Gottes. Und nichts hat mehr zur Verarmung der Seelen unter den Kindern Gottes gedient, als das Beiseitestellen dessen, was Gott geschenkt hat. Der Teufel zeigt sich in dieser Beziehung sehr wirksam. Durch allerlei Kunstgriffe sucht er die Schärfe, die Kraft des Wortes Gottes abzustumpfen, und zwar nicht etwa dadurch, dass er uns zu einer offenbaren Verachtung des Wortes verleitet, sondern dadurch, dass er unsere Gedanken und Neigungen mit etwas anderem beschäftigt und uns auf diese Weise dem Einfluss der Wahrheit entzieht. Und unübersehbar ist der Schaden, wenn es ihm gelingt, uns dahin zu bringen, dass wir aufhören, in den Mitteilungen und Offenbarungen Gottes zu forschen und darüber nachzusinnen, um die gesegnete Person dessen besser kennen zu lernen, der der Gegenstand, das Ziel und die Wonne Gottes ist. Wenn wir nicht lernen, bei allem still zu stehen, was Gott uns in Güte über die Person Christi in seinem Wort mitgeteilt hat, wenn wir nicht „forschen in seinem Tempel“, dann wird sich in unseren Herzen bald eine große Dürre und Leere zeigen. O möge der Herr uns durch seinen Geist schenken, dass wir mit Begierde in seinem Wort forschen!
Wie sehr sind diejenigen unter den Kindern Gottes zu beklagen, die von ihren Angelegenheiten so sehr in Anspruch genommen sind, dass sie ihre Zeit in dem Gewühl und Lagen weltlicher Dinge durchbringen müssen und ihnen fast kein freier Augenblick zum Forschen übrigbleibt! Wir fühlen in dieser Beziehung viel zu wenig für einander. Es ist in der Tat überraschend zu bemerken, wie wenig wir uns in Bezug auf diese Dinge um einander bekümmern, als ob ein jeder auf sich allein angewiesen wäre, während uns doch die Schrift ermahnt: „Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das der Anderen.“ Wie wenig beten wir für einander! Wie wenig trägt Einer den Anderen vor Gott auf dem Herzen! Viele Kinder Gottes befinden sich in einer dienstlichen Stellung und sind so völlig an ihren irdischen Beruf gekettet, dass wir wohltun, im Geist uns in ihre Umstände zu versetzen. Lasst uns trachten, ihnen zu helfen, sie durch unsere Fürbitte auf ihren ungestümen Wegen zu stärken und zu unterstützen: denn sicher leidet jede Seele Gefahr, die keine Zeit findet, um mit Gott allein zu sein und „in seinem Tempel zu forschen.“
Nun noch ein kurzes Wort über die folgenden Verse. Wir lesen: „Er wird mich bergen in seinem Zelt, am Tag des Übels.“ Sicher würden wir alles Vorhergegangene mit den „Tagen des Übels“ in Verbindung gebracht und etwa gesagt haben: „Wie herrlich ist es in dem Haus des Herrn zu wohnen, seine Lieblichkeit anzuschauen und in seinem Tempel zu forschen, wenn wir uns in den Tagen des Übels befinden.“ Doch das ist nicht die Ordnung Gottes. Er stellt uns dieses alles als den einzig richtigen Zustand des Lebens Gottes in uns vor Augen. Um die „Tage des Übels“ haben wir uns dann nicht zu kümmern; denn „Er wird uns in seinem Zelt verbergen.“ Wenn es mein einziges Begehren ist, im Haus des Herrn zu wohnen, dann kann ich in den Tagen des Übels ruhen. Er verbirgt mich. Nie herrlich! Was könnte ich Besseres verlangen, als dass Er mich verbirgt „in dem Verborgenen seiner Hütte?“ Beim Herannahen eines Sturmes renne ich nicht ängstlich umher, um Schutz zu suchen, sondern ich bin bei Ihm sicher und ruhig; und Gott wirkt für mich. Er verbirgt mich, Er hält mich aufrecht, Er nimmt alles auf sich, Er erhöht mich auf einen Felsen.
Von Befreiung in dem Sinn einer Beseitigung des Übels ist in diesem Vers durchaus nicht die Rede. Es heißt nicht: „Am Tag des Übels wird Gott mich befreien“, sondern: „Er wird mich verbergen.“ Wenn Gott auch unter Israel zuweilen das Meer spaltete und die Felsen zerklüftete, so ist dieses doch in unseren Tagen seine Weise nicht. Er nimmt die Schwierigkeiten nicht hinweg: aber Er verbirgt mich in seinem Zelt und erhöht mich auf einen Felsen. Ist nun jemand, der sich in Schwierigkeiten befindet, zu beklagen, wenn Gott ihn verbirgt? Bieten die Schwierigkeiten Ihm keine Gelegenheit, uns im Verborgenen seiner Hütte zu verbergen? Erst dann folgt die Befreiung: denn wir lesen: „Und nun wird sich erhöhen mein Haupt über meine Feinde, die um mich her sind – und Opfer des Posaunenschalls will ich opfern in seiner Hütte.“ Man beachte es wohl: der Gläubige verlässt nie das Haus des Herrn. Es ist seine Wohnung, die Stätte seiner Anbetung.
Dieses alles finden wir in der vollkommensten Weise bei dem Herrn Jesus, dem vollkommenen Menschen, der alle die Eigenschaften eines Menschen Gottes in dieser Welt offenbarte, als Er dieselbe durchwanderte. Wenn wir die Spuren seines Lebens verfolgen, so finden – wir alles das, was wir hier dargestellt haben, in der ausgeprägtesten Weise. Er war „der Sohn des Menschen, der im Himmel ist.“ Inmitten der Mühsale in dieser Welt, war sein Zufluchtsort der Wille und das Wohlgefallen seines Vaters. Er konnte sagen: „Ich danke dir, Vater, Herr des Himmels und der Erde!“ und später, nachdem Er unter dem schrecklichen Gericht des Kreuzes gewesen war, bezeugte Er: „Inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen.“ Dem Grundsatz nach sind wir, wenn auch in unserem Maß, in dieselbe Stellung berufen. Wir besitzen dasselbe Leben, dieselbe Wohnung, denselben Gott. Auf eine wunderbare Weise vermag Gott einen Menschen zu unterstützen, der dieses herrliche Leben in sich hat, wenn auch alles, wie dieses ein Christ in dieser argen Welt nicht anders erwarten kann, wider ihn ist. Hienieden wirkt uns alles entgegen. Es ist ein Glück, wenn wir gelernt haben, nichts anders zu erwarten, und dennoch nicht weniger gewiss sind, dass unsere Sicherheit im Haus des Herrn zu finden ist.
Wenn wir in 2. Mose 16 und 17 die Geschichte des Volkes Israel lesen, so wird es uns sofort klarwerden, dass man das Leben des Gläubigen mit zwei Worten beschreiben könnte. Bei demselben handelt es sich um Speise und Kampf. Das aus dem Himmel kommende Manna musste die Kräfte der Pilger in der Wüste erhalten; und ihre Kraft musste in dem Kampf geübt werden. Und wie bei Israel, so ist dieses auch bei den Christen der Fall. Christus muss das lebendige, vom Himmel gekommene Brot sein, um das neue Leben in uns zu unterhalten; und wir müssen bei Ihm wohnen in der Herrlichkeit, wo Er ist, um seine Lieblichkeit anzuschauen. In diesem Fall können wir alles um uns her verstehen. Was kümmert mich all das Schöne, was hienieden ist, wenn Er mein Herz befriedigt? Indem ich seine Schönheit anschaue, vermag mich nichts anzuziehen, was diese Erde bietet. Und indem ich in seinem Tempel forsche, bin ich geborgen, wenn die Tage des Nebels hereinbrechen, ja, ich werde „singen und Psalmen singen dem Herrn.“