Botschafter des Heils in Christo 1867
Die kananäische Frau
In dieser sehr inhaltsreichen Stelle der heiligen Schrift enthüllen sich vor unseren Blicken zwei Herzen, nämlich das Herz des Menschen und das Herz Gottes. Zuerst erblicken wir das Herz des Menschen, ungeachtet der dichten Decke religiöser Gebräuche, welche es verhüllen, und dann tritt das Herz Gottes, trotz der durch die Haushaltung gebotenen Schranken, die es in seinem Lauf hemmen, in den Vordergrund. Die Enthüllung des Ersteren finden wir in den Versen 1–20; die Enthüllung des Letzteren in den Versen 21–28. Richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand und zwar mit dem Verlangen, dass der Geist Gottes dessen Schönheit uns entfalten, und dessen Kraft auf unsere Seelen anwenden möge.
In Kapitel 14 sehen wir, wie der Herr Jesus mit der Speisung einer hungrigen Menge und mit der Heilung vieler Kranken beschäftigt ist. Er begegnet aller Art menschlichen Elends. Das war das Werk, welches Ihm geziemte. Um es zu verrichten, war Er vom Himmel gekommen. Wir lesen: „Und als Jesus herausging, sah Er viel Volks, und ward innerlich bewegt über sie, und heilte ihre Kranken“ (Kap 14,14). Und weiterlesen wir: „Und als sie hinübergefahren waren, kamen sie in das Land Genezareth. Und als Ihn die Männer jenes Ortes erkannten, schickten sie in jene ganze Umgegend und brachten zu Ihm alle die Siechen, und baten Ihn, dass sie nur den Zipfel seines Kleides anrühren dürften. Und so viele anrührten, wurden geheilt“ (Kap 14,34–36).
Das war die Arbeit, welche dem liebenden Herzen Jesu angemessen war. Es war seine Freude, dem Elend des Menschen zu begegnen. Aber sobald wir unser Auge auf Kapitel 15 richten, so finden wir etwas ganz Verschiedenes. Hier gibt es ein ganz anderes Werk zu verrichten. Hier bedarf es nicht der Abhilfe menschlichen Elends, sondern des Entlarvens menschlicher Heuchelei. Mit einem Wort: Wir stehen vor der Enthüllung des Herzens des Menschen; und wir gewähren hier das durchdringende Auge Christi, welches den Menschen trotz aller Krümmungen, Labyrinthe und scheinbarer Decken verfolgt, durch welche derselbe sein Gewissen vergeblich vor dem Licht göttlicher Gegenwart und göttlichen Gerichts zu verbergen trachtet, während der Herr bemüht ist, ihn in der Gegenwart Gottes bloß zu stellen. Und warum? Welt sich der Mensch dort nicht eher zu Haus fühlen kann, als bis er seinen ihm gebührenden Platz als Hilfsbedürftiger eingenommen hat. In demselben Augenblick, wo ich zu einem wirklichen Gefühl meines Elends gelange, fühle ich mich in der Gegenwart Gottes zu Haus. Welch eine kostbare Wahrheit!
„Zu der Zeit traten Schriftgelehrte und Pharisäer, die von Jerusalem waren, zu Jesu und sagten: Warum übertreten deine Jünger die Überlieferung der Ältesten? denn sie waschen ihre Hände nicht, wenn sie Brot essen“ (Kap 15,1–2). Welch ein Unterschied, wenn der Mensch seine Religiosität, oder wenn er sein Elend vor Jesu bringt! Ersteres ist stets mit Bloßstellung und Tadel begleitet; Letzteres findet immer eine ungeschmälerte Gnade und eine unumschränkte Hilfe. Die Pharisäer und Schriftgelehrten erscheinen hier mit ihrer Religiosität vor Christus und führen die Verordnungen der Ältesten als ihre Autorität an. Wie viel weiser hätten sie gehandelt, wenn sie ihr Elend und ihre Sünden, welche das Zeugnis Gottes aufdeckte und enthüllte, vor Jesu gebracht hätten! Seine Sünden vor Jesu zu bringen und dadurch von ihrer schweren Bürde gänzlich befreit zu werden, ist der passendste Weg, den je ein Sünder einschlagen kann; und nichts ist törichter, als wenn er hingegen seine Sünden unter dem Deckmantel religiöser Vorschriften vor Jesu zu Verbergen trachtet; denn wie ehrwürdig und anziehend diese Vorschriften auch sein und welch kräftige Stützen sie auch durch die Überlieferungen und Lehren der Menschen finden mögen, so muss dennoch unbedingt das Herz getroffen werden. Unter allen Umständen muss das Gewissen einmal früher oder später in das Licht gebracht sein. Die Decke muss entfernt werden, damit die durchdringenden Strahlen göttlichen Lichts in das menschliche Herz hineinströmen und alle seine Gräuel offenbar machen können.
Das ist eine höchst ernste Wahrheit. Es ist nutzlos, das Waschen meiner Hände vorzunehmen, während mein Herz voller Unreinigkeiten ist. Es ist äußerst töricht, über das Reinigen der Becher und Schüsseln viel Aufhebens zu machen, während meine Wege verkehrte sind in dem Angesicht Gottes. Alle äußeren Anordnungen des Menschen können beobachtet, seine Überlieferungen beachtet und seine Vorschriften hochgeschätzt werden, ohne dass das Gewissen, betreffs der großen Sündenfrage, je in der Gegenwart Gottes gewesen ist. Ich kann mit Sorgfalt die Überlieferungen der Ältesten befolgen und nichtsdestoweniger die Gebote Gottes vernachlässigen. Und also verhielt es sich bezüglich der Schriftgelehrten und der Pharisäer. „Warum übertretet auch ihr das Gebot Gottes um eurer Überlieferung willen? denn Gott hat geboten und gesagt: Ehre Vater und Mutter! – und: Wer Vater oder Mutter flucht, soll des Todes sterben! Ihr aber sagt: Wer irgend zu dem Vater oder der Mutter sagt: Gabe sei, wodurch du irgend von mir Nutzen haben könntest – und er wird keineswegs seinen Vater und seine Mutter ehren ... und ihr habt das Gebot Gottes ungültig gemacht um eurer Überlieferung willen“ (V 3–6).
Hier stellt unser Herr das Wort Gottes als den einzigen Maßstab des Wandels auf. Es ist dasselbe Wort, welches am letzten Tage richten wird; und es ist dasselbe Wort, welches jetzt leiten und herrschen muss. Wo werden die Überlieferungen der Nettesten sein, wenn alles, um offenbart zu werden, vor dem Richterstuhl Christi erscheinen wird? Werden sie an jenem Tag den Maßstab des Gerichts bilden? Keineswegs. Nun, welchen Wert haben sie denn jetzt? In der Tat einen höchst geringen; und wenn sie vollends mit dem Wort Gottes im Widerspruch stehen, so darf man sich nicht einen Augenblick mit ihnen befassen. Der vor uns liegende wichtige Abschnitt der heiligen Schrift belehrt uns in der deutlichsten Weise, dass es der Grundsatz der Heuchelei ist, wenn jemand, anstatt durch die Gebote Gottes geleitet zu werden, durch die Vorschriften und Lehren der Menschen beherrscht wird. „Heuchler! Wohl recht hat von euch geweissagt Jesajas, indem er sagt: Dieses Volk naht sich mit ihrem Mund und ehrt mich mit den Lippen; aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, lehrend als Lehren Menschengebote“ (V 7–9).
Man merke sich hier die göttliche Beschuldigung! „Ihr Herz ist weit entfernt von mir.“ Das war das Geheimnis von allem. Der Herr Jesus heftet sein durchbohrendes Auge auf das Herz des Menschen und offenbart in der klarsten Weise, wo und was es ist. „Es ist weit entfernt von mir“, sagt Er. Ja, fern von Ihm und begraben unter einer ungeheuren Masse abergläubischer Gebräuche und menschlicher Vorschriften. Die deutlichste Vorschrift des Gesetzes Gottes war geradezu durch eine gutscheinende Vorschrift des „Korban“ bei Seite gesetzt, als ob Gott irgendeine „Gabe“ annehmen wollte oder könnte, welche auf eine offenkundige Übertretung seines ewigen Gesetzes gegründet war. Ebenso richteten sie ihre Aufmerksamkeit mit einer ängstlichen Gewissenhaftigkeit auf das Waschen ihrer Hände vor dem Essen, während ihr Herz gleichsam der Käfig jedes unreinen und hassenswerten Vogels war. Welch ein Betrug! Gewaschene Hände und ein beflecktes Herz! Äußere Dinge genau beobachtet, und das Inwendige gänzlich Vernachlässigt! Speise und Getränke, Becher und Schüsseln, Tassen und Tische sorgfältig in Acht genommen, und das Gesetz Gottes über Bord geworfen, und das Herz bis an den Rand angefüllt mit Üppigkeit und Eitelkeit! So ist der Mensch. Sein Herz ist von Gott weit entfernt. Seine Religion ist eine Masse von Widersprüchen von Anfang bis zu Ende.
„Und Er rief die Volksmenge zu sich und sprach zu ihnen: Hört und versteht!“ (V 10) Wie würdig und erhaben klingen diese Worte! „Hört und versteht!“ Das sind die beiden Worte, welche stets mit dem Wort Gottes in Verbindung stehen müssen. Dieses Wort ist nicht den schwankenden, trüben, Ungewissen Überlieferungen der Menschen gleich. Seine Stimme ist klar, seine Sprache deutlich, seine Unterweisungen sind ungeziert und rein. Es kann von einem Kind gehört und verstanden werden. Wer unter jener Volksmenge hätte die deutlichen Worte: „Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund ausgeht, das verunreinigt den Menschen“ (V 11), missverstehen können? Diese Wahrheit ist deutlich und unwiderlegbar. Ein jeder, dessen Verständnis nicht durch die Nebel menschlicher Überlieferung verdunkelt Ist, versteht sie völlig. Jedes Gewissen, wenn es nicht durch Unterwerfung unter eine falsche Autorität betäubt ist, fühlt ihr Schwert.
Aber die Pharisäer ärgerten sich über diese einfache Erklärung. Das hatte seinen Grund. Und warum? Es war der Todesstoß des Pharisäismus. Äußere Dinge zu beobachten und das Herz unberührt zu lassen, das ist der Geist des Pharisäismus, der zu allen Zeiten herrscht. Dieses System behauptet stets, dass die Befleckungen von außen kommen, während die Wahrheit Gottes sie als von innen kommend bezeichnet. Daher fasste die einfache Erklärung Christi den Pharisäismus bei der Wurzel an und bereitete seinen Anhängern keinen geringen Anstoß. Aber wie kräftig sind die Worte des Herrn, wenn Er sagt: „Jegliche Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden. Lasst sie; sie sind blinde Leiter der Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, so werden beide in die Grube fallen“ (V 13–14).
Welch ernste Worte! „Jegliche Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden.“ Nichts, außer dem Werk Gottes, wird bestehen. Die üppigste Pflanze aus der Pflanzung des Menschen wird verdorren und ausgerottet werden. Mag sich auch ein großes Gepränge von Blüten, welche die herrlichste Frucht versprechen, dem Auge zeigen, so bleibt es dennoch gewiss, dass, wenn die Pflanzung nicht durch die Hand Gottes geschehen ist, sich alle Erwartungen in Nichts auflösen werden. Nur die Pflanzen Gottes werden bestehen. Sie werden jeden Sturm überleben. „Die gepflanzt sind in dem Haus Jehovas, werden blühen in den Vorhöfen unseres Gottes. Sie treiben noch im Alter, sind saftvoll und grün“ (Ps 92,13–14). Wie sehr unterscheidet sich dieses alles von der blinden Leitung der Blinden, wobei beide in die Grube fallen! O welch eine erhabene Segnung, welch eine heilige Sicherheit, gepflanzt zu sein durch die Hand Gottes und nicht blindlings geleitet zu werden durch die Hand eines blinden Menschen! Möge der Herr in seiner überschwänglichen Gnade es allen meinen Lesern gestatten, dass sie es erkennen!
Wir dürfen indessen nicht vergessen, dass in dem vor uns liegenden Schriftabschnitte der Herr das menschliche Herz ans Licht stellen will. Es hat uns bisher gezeigt, wo es ist; und jetzt ist Er im Begriff, uns zu zeigen, was es ist. „Petrus aber antwortete und sprach zu Ihm: Deute uns dieses Gleichnis. Jesus aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Vernehmt ihr noch nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in einen heimlichen Ort ausgeworfen wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen; und diese Dinge verunreinigen den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerung. Diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen; aber mit ungewaschenen Händen essen, verunreinigt den Menschen nicht“ (V 15–20).
Hier ist also das Herz des Menschen völlig zur Schau gestellt. Jede falsche Decke äußerer Gebräuche ist entfernt; alle verfinsternde Nebel, welche eine bloße Religion menschlicher Vorschriften umringt, sind hinweggerollt; und hier zeigt sich, in ihrer scheußlichen Hässlichkeit und in ihrer erschreckenden Gottlosigkeit, die Quelle all jener unreinen und entsittlichenden Einflüsse, welche den Horizont dieser Welt fast seit sechstausend Jahren verdunkelt haben. Wir mögen es „Korban“ (Gabe) nennen; wir mögen uns auf die Überlieferungen der Ältesten berufen; wir mögen uns im Kreis Ehrfurcht einflößender Vorschriften bewegen; – aber ach! man blicke nur auf das Herz! Was können wir dazu sagen? Man denke nur an das im Licht göttlicher Gegenwart zur Schau gestellte, menschliche Herz! Wie schrecklich! Wie niederschmetternd! Nichts könnte mich befähigen, einen Blick in mein Herz ertragen zu können, als nur ein Blick in das Herz Jesu – in das Herz Gottes selbst.
Wenn nun aber das Herz völlig ins Licht gestellt und das Gewissen völlig überführt ist, so ist die Seele für die nächste Station ihrer Reise in Bereitschaft gesetzt. Mit anderen Worten: Überführung und Bekehrung sind enge mit einander verbunden. Ein überführter Sünder hat sein eigenes Herz, und ein bekehrter Sünder hat das Herz Gottes kennen gelernt. „Tut Buße und bekehrt euch!“ sagt Petrus. Hier haben wir eine andere Weise, um dieselbe Sache auszudrücken. Es ist das moralische Selbstgericht und die gesegnete Entdeckung Gottes. Ich entdecke mein Ich und verwerfe es; ich entdecke Gott in dem Angesicht Jesu Christi und wende mich mit einem aufrichtigen und vertrauenden Herzen zu Ihm, der ebenso fähig als willig, und ebenso willig als fähig ist, mich zu retten, ungeachtet seiner vollkommenen Erkenntnis alles dessen, was in meinem Herzen ist. Dieses gibt völlige Erleichterung, völlige Freiheit und dauernden Frieden. Es befreit mich von aller verurteilenden Furcht und befähigt mich, mit leichtem Tritt jenen sonnigen Pfad zu betreten, der am Kreuz beginnt und in der Herrlichkeit endet. Ich finde, dass gerade Er, welcher allein fähig war, meine Schuld zu messen und abzuschätzen, und kein anderer es ist, der durch das Blut des Kreuzes diese Schuld völlig getilgt hat. „Ich, ich bin es; ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen, und gedenke deiner Sünden nicht“ (Jes 43,25).
Sage mir, geliebter Leser, verstehst du diese Dinge? Hast du sie an deinem Herzen erfahren? Hat Gott dein Herz aufgedeckt, und hast du das seinige erkannt? Eine ernste, wichtige Fragt Welch bedeutende Folgen hängen von deiner Antwort ab! Fürchte dich nicht. Dein Herz in seinen tiefsten Abgründen und seinen geheimsten Schlupfwinkeln zu untersuchen und zu ergründen. Öffne jede Kammer darin. Schiebe die Vorhänge bei Seite, öffne die Läden, reiß den Schleier hinweg und lass das volle Licht des Himmels in jeden Winkel und in jede Spalte hineindringen. Du kannst nicht zu tief eingraben. Sei versichert, dass Gott unumschränkte Vorkehrungen dafür getroffen hat. Das Evangelium der Gnade Gottes kündigt dir die glorreiche Tatsache an, dass ein die Sünde hassender Gott einem die Sünde tragenden Christus auf dem Kreuz begegnet ist und dort die große Sündenfrage völlig hineingebracht und dauernd beendet hat. Das ist der göttliche Boden des Friedens eines Sünders. Dieses zu erkennen und zu glauben gibt einen Frieden, der durch nichts zu erschüttern ist. Gott hat auf dem Kreuz einen vollkommenen Abschluss mit der Sünde gemacht. Ich bedarf nichts mehr. Ich bin völlig zufrieden gestellt. Kann mein Gewissen mehr, fordern, als die Gerechtigkeit Gottes? Gewiss nicht. Ein gerechter Gott und ein gerechtfertigter Sünder begegnen sich in heiliger Gemeinschaft auf einer blutbefleckten Schwelle. „Gerechtfertigt aus Glauben haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1).
Bevor wir indes in unserer Betrachtung einen Schritt weitergehen, wird es gut sein, für einen kurzen Augenblick einen Rückblick zu tun. Das Herz des Menschen ist, wie wir gesehen haben, völlig ans Licht gestellt und seine Quelle entblößt worden. Der Nebel, womit eine falsche Religiosität es einhüllte, ist hinweg gewälzt durch die Hand des Meisters; und alles ist bloß und aufgedeckt. „Es ist das Herz überaus tückisch und ein heilloses Ding; wer kann es ergründen? Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeglichen nach seinem Tun“ (Jer 17,9–10). Wenn daher die Frage erhoben wird: „Wo ist das Herz?“ so lautet die Antwort: „Fern von Gott.“ Und wenn gefragt wird: „Was ist das Herz?“ so ist die Antwort: „Ein überaus tückisch und heillos Ding.“ Also ist es in Betreff des Herzens eines jeden nicht wiedergeborenen Mannes, Weibes oder Kindes auf dieser Erde. Der Charakter, die Umstände, die Neigungen mögen verschieden sein; aber das Herz ist stets dasselbe. Man darf ihm kein Vertrauen schenken, da es „tückisch“ ist; und wie auch sein äußerer Schein sein mag, so bleibt es doch unverändert ein „heilloses Ding“. Es mag sich nicht völlig entfaltet haben; aber sein tückisches, listiges Wesen ist, beobachtet in der Bemühung, sich zu verbergen, als sein wahrer Zustand erkannt worden. Wenn jemand nicht weiß, dass sein Herz ein heilloses, gottloses Ding ist, so beweist dieses gerade die Tücke dieses Herzens.
Aber – der Herr sei dafür gepriesen! – es darf der Sünder auf ein anderes Herz seinen Blick richten, wenn er anders die Wahrheit in Betreff seines eigenen kennen gelernt hat; und das ist das Herz Gottes, offenbart in Christus Jesus. Welche Gnade! Dürfte ich nur in mein eigenes tückisches und heilloses Herz hineinschauen, so würde ich höchst bedauernswürdig sein. Aber Er, der allein im Stande war, mein Herz gänzlich zu prüfen, hat mir das seinige vollkommen offenbart. Das ist genug. Die Untersuchung des Herzens des Sünders und die Offenbarung des Herzens Gottes – dieses sind die beiden großen und allerwichtigsten Punkte. In ersterem findet sich nichts, als das Böse; in letzterem die vollkommene Liebe – eine Liebe, die trotz allem Bösen hervor geströmt ist – eine Liebe, die sich dadurch verherrlichte, dass sie das Gericht über das Böse ausführte und eine gänzliche Befreiung von seiner Macht bewirkte. Wenn daher jemand durch die erleuchtende und überführende Macht des Heiligen Geistes geleitet worden ist, einen klaren, nüchternen Blick in sein eigenes Herz tun zu können, so befindet er sich eben in der Stellung, sich der Enthüllung des Herzens Gottes erfreuen zu dürfen.
Wir wollen jetzt einmal sehen, wie dieses alles in der vor uns liegenden rührenden und belehrenden Geschichte des kanaanitischen Weibes einen Ausdruck findet. „Und Jesus ging aus von dannen und entwich in die Gegenden von Tyrus und Sydon. Und siehe, ein kanaanitisches Weib, die von jenen Grenzen herkam, rief zu Ihm und sagte: Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist übel besessen“ (V 21–22). Wir befinden uns hier in einer ganz anderen Atmosphäre. Unser hochgelobter Herr hat aller Religiosität des Menschen, allen Vorschriften, allen Überlieferungen, allen Waschungen, aller Heuchelei desselben den Rücken gewandt; und Er betritt eine Region, wo Er nicht dünkelhaften Ansprüchen des Menschen, sondern wirklich gefühltem Elend begegnet. Das war der rechte Platz für Christus. Das arme kanaanitische Weib kannte und kümmerte sich wenig um die Überlieferungen der Nettesten. Welchen Nutzen hätten diese ihr auch bringen können? Sie fühlte den Druck der Macht Satans. Konnten menschliche Anordnungen und Vorschriften diese Macht hemmen? Gewiss nicht. Nur Jesus vermochte es. Andere mochten mit dem Waschen der Becher und Schüsseln beschäftigt sein; aber für das unglückliche Weib war ein solches Tun nutzlos. Sie begehrte nach etwas anderem, nach wirklicher Hilfe. Sie verlangte nach Christus; und zu Ihm führte ihr Weg.
O möchten doch Taufende in diesen unseren Tagen fühlen, was das arme, kanaanitische Weib fühlte! Wahrlich, wir befinden uns in einer Zeit menschlicher Anordnungen und Vorschriften; in einer Zeit religiöser Überlieferungen, in einer Zeit, wo Gebote und Lehren der Menschen das Übergewicht haben. Eine fleischliche Frömmigkeit gibt sich in ihren zehntausend Achtung gebietenden Formen kund und übt einen mächtigen Einfluss über das gesetzliche und religiöse Gemüt aus. Aber bei all diesem bleibt das arme Herz unbefriedigt; die Not findet keine Abhilfe, das Elend keine Milderung. O möchten daher jene Tausende, die unter dem Druck der Sünde seufzen, nur geradezu zu Jesu kommen und bei Ihm alles finden, dessen sie in Zeit und Ewigkeit bedürfen! Niemand außer Jesu kann dem Hilflosen Sünder Ruhe und Frieden geben.
Wir haben indessen bereits bemerkt, dass in dem vor uns liegenden Schriftabschnitt das Herz Jesu, insoweit es das kanaanitische Weib betraf, hinter der durch die jüdische Haushaltung gebotenen Schranke verborgen war. Ein kanaanitisches Weib hatte keine Ansprüche an den „Sohn Davids“; und dennoch gebraucht sie, indem sie sich an Ihn wendet, gerade diesen Titel. Ohne Zweifel gab es Liebe in dem Herzen Jesu für ein armes Geschöpf, welches in einfachem Glauben zu Ihm kam. Aber als „Sohn Davids“ stand Er hinter jener erhabenen jüdischen Umzäunung, welche Ihn dem heidnischen Auge entzog. Er war ein „Diener der Beschneidung um der Wahrheit. Gottes willen, die Verheißungen der Väter zu bestätigen“ (Röm 15,8). Nicht ein Jota, nicht ein Titel durfte in den Händen eines solchen treuen und herrlichen Dieners an jener Verheißung unerfüllt bleiben; und wenn daher das kanaanitische Weib Ihn in keinem erhabeneren Charakter, als dem eines Dieners der Beschneidung erblicken konnte, so musste Er unbedingt in gänzlichem Schweigen verharren. „Er aber antwortete ihr nicht ein Wort“ (V 23). Der Sohn Davids hatte keine Antwort für eine Kanaaniterin. Er musste für die Wahrheit Gottes einstehen und die den Vätern gemachten Verheißungen bestätigen. Und mit diesen Verheißungen hatte sie durchaus nichts zu schaffen. Er konnte einer Kanaaniterin keine Hilfe leisten auf Kosten des Samens Abrahams.
Die Jünger, gänzlich unfähig, die tiefen Geheimnisse zu ergründen, die den Geist ihres göttlichen Meisters erfüllten und in seinem Dienst ihren Ausdruck fanden, „traten zu Ihm und baten Ihn und sagten: Entlass sie!“ (V 33) Ach, wie wenig kannten sie Ihn! Wie hätte Er ein solch armes, mühseliges und beladenes Geschöpf von sich weisen können? Wie? Der Sohn Gottes sollte aus seiner Gegenwart eine Seele entfernen, die unter dem zermalmenden Druck der Hand Satans lag? Unmöglich. Obwohl Er als „Sohn Davids“ keine Antwort geben konnte, so vermochte Er sie doch nicht als der „Sohn Gottes“ abzuweisen. Wenn Er als der Diener der Beschneidung kein Wort der Erwiderung hatte, so konnte Er sicher als der Diener der Gnade Gottes keine abschlägige Antwort geben. Obwohl Er als Verteidiger der Wahrheit Gottes in seinem Schweigen verharren musste, so konnte Er doch als der Ausdruck göttlicher Liebe keineswegs unerbittlich bleiben. Er hatte eine helfende, segnende Hand für sie; aber sie musste den ihr gebührenden Platz einnehmen und Ihn nicht nur als den Sohn Davids, sondern Ihn als den Herrn aller anschauen. „Ich bin“ – sagte Er – „nicht gesandt, als nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel;“ (V 24) und sie gehörte nicht zu den Schafen Israels, sondern zu dem Geschlecht Kanaan.
Aber der Glaube kann nicht überwunden werden. Er weiß, dass in dem Herzen Jesu eine völlige Segnung vorhanden ist; und er will sie besitzen. Also war es bei dem kanaanitischen Weibe. Sie hatte sich gerüstet, das liebende. Zärtliche Herz Jesu zu erreichen und ließ sich daher nicht abweisen, Die hohe Umzäunung, hinter welcher Er sich befand, hinderte sie nicht. Für sie gab es keine Schwierigkeit. Sie fühlte, dass, obwohl sie die Schranken nicht hinweg zu räumen vermochte. Er über dieselben hinweg steigen könnte. Obwohl die Herrlichkeiten des Sohnes Davids nur im Innern der jüdischen Grenzen strahlen konnten, so vermochten doch die Herrlichkeiten des Sohnes Gottes ihren hellen Glanz über die ganze Erde auszubreiten. Alles dieses wusste sie. Ihr Glaube konnte danach greifen. Sie fühlte, dass es dem hochgelobten Herrn durchaus unmöglich sei, ein hilfsbedürftiges Geschöpf aus seiner Gegenwart entfernen zu können. „Sie aber kam und huldigte Ihm und sagte: Herr, hilf mir!“ (V 25)
Hier erreichen wir den hervorragenden Punkt in dieser interessanten Erzählung. Die Kanaaniterin stellt sich jetzt in die göttliche Gegenwart einfach als eine hilfsbedürftige Seele; und keiner hat dieses je vergeblich getan und keiner wird es je vergeblich tun. O welch eine Tiefe, Macht und Fülle liegt in den Worten: „Herr, hilf mir!“ Sie bilden eine Kette von drei Gliedern. Sobald der Glaube diese kostbare Kette ergreift, ist alles in Ordnung gebracht. Das Wörtchen „hilf“ kann alles in sich fassen, was die Seele hienieden und künftig verlangen kann.
Geliebter Leser! Lass mich hier einen Augenblick verweilen und die Frage an dich richten, ob du jemals wirklich diese dreigliedrige Kette gebildet hast? Haft du durch einfachen Glauben den Herrn Jesus an das eine Ende und dich an das andere Ende, und das „Hilf“ in die Mitte gesetzt? Wenn dieses je geschehen, dann ist alles geordnet – göttlich und ewig geordnet. Du hast Ihn an den rechten Platz als den Helfer, und dich an den rechten Platz als Hilfsbedürftigen gesetzt; und alles, was du begehrst, ist unfehlbar gesichert. Das Wörtchen „hilf“ fasst nicht nur alles das in sich, was du wünschest oder bedarfst, sondern alles, was Christus geben kann und geben will. Präge dieses tief in deine Seele ein. In demselben Augenblicke, wo der Sünder den ihm geziemenden Platz vor Gott einnimmt, gibt es dort nichts als Heil und Rettung für ihn. Auch findet er dort nicht nur ein solches Heil, wie es ihm zu empfangen geziemt, sondern vielmehr ein solches, wie es zu geben Gottes würdig ist. Das ist eine große und wunderbare Tatsache, welche mit großer Kraft die moralische Größe des Evangeliums der Gnade Gottes erläutert. Möge der Sünder daher, und zwar als Sünder, seinen wahren Platz vor Gott einnehmen, und die ganze Sache wird bald in Ordnung gebracht sein. Gott ist sein Heiland, und er ist gerettet – gerettet nach dem Maß der Vollkommenheit der Person und des Werkes Christi.
Aber der Sünder muss sich auf dem rechten Platz befinden. Und welches ist dieser Platz? – Es ist der Platz eines Verlorenen. Sobald er dort gefunden wird, geht die Sündenfrage aus seinen Händen in die Hände Gottes über, und dort wird sie zum Preis der Herrlichkeit Gottes vollständig gelöst und geordnet. Gott ist Verherrlicht, indem Er durch das Wörtchen „hilf“ an den armen, hilflosen, strafbaren Sünder gekettet ist. Sein heiliger Name sei ewig dafür gepriesen! Wer wollte Ihm nicht vertrauen? Wer möchte nicht ans seiner Hand das Hell empfangen? Wer wollte nicht im Augenblick der Not zu Ihm emporblicken, da die Gewährung der Hilfe nicht nur seinen Namen verherrlicht, sondern auch sein Herz erfreut? Möge der Heilige Geist unseren Seelen mehr und mehr die lebendigen Tiefen dieser drei Worte entfalten: „Herr, hilf mir!“ Sie setzen, wie bereits gesagt, Gott in den Ihm gebührenden Platz als den Helfer und den Menschen in den ihm geziemenden Platz als den Hilfesuchenden. Es gibt keine Grenze für das Wörtchen „hilf“; es ist so tief und grenzenlos, als der Vorn, aus dem es hervorsprudelt, und darum muss es dem dringendsten Bedürfnis des Sünders zuvorkommen. Die Quelle der Hilfe ist Gott selbst, und die daraus hervordringenden Ströme stürzen sich in Zehntausend Kanäle, um den verschiedenen Formen menschlichen Elends zu begegnen. Ist mein Gewissen zu Boden gedrückt unter der schweren Bürde der Schuld, so finde ich Hilfe in Jesu – dieselbe Hilfe, deren ich gerade benötigt bin. Sein kostbares Blut reinigt von aller Sünde und gibt dem Gewissen vollkommene Ruhe. Fühle ich die Bürde der innewohnenden Sünde und seufze ich nach dem Sieg über die Gewohnheiten und Versuchungen der Natur, so habe ich mich nur auf Christus zu werfen und in den Geist der Worte einzudringen: „Herr, hilf mir!“ Und also ist es bei jeder Sache. Der Glaube verbindet die Seele mit Christus; und seine ganze Fülle wird mir zu Teil, um mich ihrer bei jeder Gelegenheit bedienen zu können.
Dieses alles ist deutlich in der Geschichte des kanaanitischen Weibes ins Licht gestellt. Der Glaube stellt sie auf ihren wahren Platz; und kaum hat ihr Fuß diesen Platz betreten, so tritt Christus vor das Auge ihrer Seele in der ganzen moralischen Herrlichkeit seiner Person, und in der Allgenügsamkeit seiner Gnade. Ihr Glaube trug das richtige Gepräge. Er bestand die strengste Probe. Sie zeigte sich zubereitet, nicht nur alle Ansprüche auf Jesus, als den Sohn Davids, fahren zu lassen, sondern auch ihren Platz, gleich einem Hund, unter dem Tisch einzunehmen. „Es ziemt sich nicht“, sagt der Herr, „das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen“ (V 36). das hieß den Glauben in den heißesten Schmelztiegel werfen. Der wahre Glaube kann es ertragen, wenn er geprüft wird. Ein echter Klumpen kann dem Feuer Stand halten. Der Herr Jesus wusste, wie Er zu handeln hatte; und Er führte dieses Weib nur auf einen Standpunkt, von wo aus sie einen Blick auf Ihn werfen konnte, auf Ihn, welcher jedes Verlangen ihrer Seele befriedigen konnte. Sie hatte keine Ansprüche auf den „Sohn Davids“, sie hatte kein Anrecht an dem „Brote der Kinder“; sie war ein Hund aus den Heiden. War sie für dieses alles zubereitet? Allerdings. „Ja, Herr!“ – sagte sie – „denn es essen ja auch die Hunde von den Brosamen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen“ (V 27).
Das war in der Tat ein Werk Gottes. Wahrlich, es war ein erfrischender Trunk für den dürstenden Geist des Herrn. Es unterschied sich gänzlich von den Überlieferungen der Ältesten, von dem „Korban“ und den Waschungen der Pharisäer. Dort gab es für das Herz Jesu nichts, was dem Glauben einer armen Sünderin gleich war, die sich nicht darum kümmerte, welchen Platz sie einnehme, wenn dieser Platz nur in seiner Nähe war. Sie wusste und fühlte wohl, dass gerade für einen Hund unter dem Tisch reichlich gesorgt werden würde. Freilich konnte sie keinen Anspruch machen auf irgendein Verhältnis inmitten der jüdischen Haushaltung. Sie durfte kein Stück von dem „Brote der Kinder“ anrühren; aber gab es nicht noch Brosamen für einen Hund? Ja, der Herr sei dafür gepriesen! Es war unmöglich, dass Christus einem hilfsbedürftigen Geschöpf ein Brotkrümchen versagen konnte. Der Glaube triumphierte; und die Tür zur Schatzkammer des Himmels war für ein armes kananäisches Weib weit geöffnet in den herrlichen Worten: „O Weib, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst“ (V 28).
Sicher, das ist genug. Der Glaube hat hier das Herz Gottes erreicht. Er hat seinen Lauf bis zu diesem wunderbaren Höhepunkt fortgesetzt. In dem ersten Teil unserer Betrachtung wurden wir geleitet, das Herz des Menschen zu betrachten; hier wird das Herz Gottes vor unser Auge gebracht. Das Auge Gottes ruht auf dem Herzen des Menschen und deckt es auf als die Quelle des Bösen. Hier aber ruht das Auge des Glaubens auf dem Herzen Gottes und erkennt es als eine Quelle der Güte, als eine stets frische, stets sprudelnde Quelle, aus welcher die Seele mit vollen Zügen trinken kann. „Dir geschehe, wie du geglaubt hast.“ Kostbares Wort! Der Glaube ist der Schlüssel zu den Schätzen des Himmels. Das arme Weib erfasste und gebrauchte diesen geheimnisvollen Schlüssel und erlangte dadurch einen Zugang zu weit überschwänglicheren Reichtümern, als wenn sie das „Brot der Kinder“ hätte anrühren dürfen.
Nichts ist lieblicher, als die Art und Weise, wie dieses höchst begünstigte Weib das Herz Christi erreichte, welches gleichsam hinter jenen Schranken verborgen war, in denen der „Sohn Davids“ – der „Diener der Beschneidung“ – sein besonderes Arbeitsfeld fand. Es ist in der Tat wahrhaft erfreulich, zu bemerken, wie sie die erhabene Tatsache ergreift, dass in Ihm etwas vorhanden war, welches nicht durch die Grenzen der jüdischen Haushaltung beschränkt sein konnte. Ihr Glaube befähigte sie, sich zu Regionen empor zu schwingen, die weit über das Judentum, und was damit zusammenhing hinaus lagen. Sie begehrte nicht, dieses System für einen Augenblick anrühren zu dürfen; sie begehrte nur, das Herz Christi zu berühren – dieses weite, schrankenlose Herz, welches durch kein System unter der Sonne abgesperrt werden konnte. Was sie selbst betraf, war sie zubereitet, irgendeinen Platz, und wenn auch den Platz eines Hundes unter dem Tisch des Herrn einzunehmen. Es kümmerte sie nicht, wo sie war; wenn sie sich nur in seiner Nähe befand. Es wäre für sie kein Gewinn gewesen, sich auf jüdischen Boden zu stellen. Das heiße Verlangen ihres Glaubens führte sie weit über den Dienst des „Dieners der Beschneidung“ hinaus. Sie erreichte Ihn selbst; und in Ihm fand sie alles, was sie wünschte. Sie beugte sich vor dem Zeugnis in Betreff des ihr geziemenden Platzes, indem sie sagte: „Ja, Herr!“; aber sie öffnete Zugleich die Schleusen der Liebe seines Herzens durch die bedeutungsvollen Worte: „es essen ja auch die Hunde von den Brosamen, die von dem Tisch ihrer Herren fallen.“ Die ersteren Worte stellen den Sünder auf den rechten Platz; die letzteren machen für Gott Raum, um mit dem ganzen Reichtum seiner rettenden Gnade eintreten zu können. Jene verzichten auf alle Ansprüche auf dem Grund persönlichen Verdienstes, diese bauen all ihre Erwartungen auf den Grund der unumschränkten Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Nichts kann einfacher sein. Wir finden hier nur eine jener tausend treffenden Erläuterungen derselben großen Wahrheit, die uns auf jeder Seite des heiligen Wortes – vom 1. Buch Mose an bis zur Offenbarung Johannes – gleich einem Sonnenstrahl entgegen leuchtet.