Einführung in den Brief an die Kolosser
Wie jeder Brief des Neuen Testaments hat der Kolosserbrief seine besondere Absicht und Entstehungsgeschichte. Nachstehend deshalb einige einleitende Gedanken zu diesem Brief von Paulus, die sich mit folgenden Themen beschäftigen:
- Die Stadt Kolossä
- Die Entstehung der Versammlung in Kolossä
- Der Verfasser des Briefes und die Umstände seiner Verfassung
- Der besondere Charakter des Briefes
- Der Anlass und der Zweck des Briefes
- Die Probleme der Kolosser und das Heilmittel zur Lösung
- Die Struktur und Gliederung des Briefes
- Ein Vergleich der Briefe an die Kolosser und an die Epheser
1. Die Stadt Kolossä in Phrygien
Kolossä war zur Zeit des Neuen Testaments eine kleine und nicht sehr bedeutsame Stadt in der Landschaft Phrygien im Süden Kleinasiens im oberen Lykostal (heutige West-Türkei). Die Stadt lag an einer Handelsstraße, die nach Ephesus und Milet führte. Die Stadt hatte bereits im 5. Jahrhundert vor Christus eine gewisse Bedeutung. Zur Zeit des Neuen Testaments spielte sie jedoch keine besondere Rolle und stand ganz im Schatten der deutlich größeren und bekannteren Nachbarstädte Laodizea und Hierapolis. Laodizea war eine reiche und einflussreiche Stadt. Hierapolis war bekannt für seine heiße Quellen und seine Wollherstellung. In allen drei Orten gab es Versammlungen.
In der Landschaft Phrygien gab es mindestens drei ethnische Gruppen:
- Die eingeborenen Phryger
- Griechen, die sich dort vornehmlich als Händler niedergelassen hatten
- Juden, die dorthin umgesiedelt waren und eine nicht unbedeutende Kolonie bildeten.
Neben dem griechischen und jüdischen Einfluss gab es in Phrygien einen relativ starken Einfluss durch einen orientalisch geprägten Mystizismus. Diese Einflüsse spielten auch unter den Gläubigen eine Rolle, wie der Brief zeigt.
Die Stadt wird in der Bibel nur in dem Brief selbst erwähnt. Die Landschaft Phrygien wird dreimal genannt. In Apostelgeschichte 2,10 waren Phrygier in Jerusalem, als der Heilige Geist auf diese Erde kam. Wir gehen davon aus, dass es sich entweder um Juden oder um Proselyten aus Phrygien handelte. Apostelgeschichte 16,6 und Apostelgeschichte 18,23 erwähnt diese Landschaft ebenfalls und macht deutlich, dass Paulus auf seiner ersten und zweiten Missionsreise in dieser Gegend unterwegs war – allerdings ohne dabei Kolossä besucht zu haben.
2. Entstehung der Versammlung in Kolossä
Die Bibel berichtet darüber nichts Konkretes, so dass wir auf gewisse Mutmaßungen und Überlieferungen angewiesen sind. Paulus war jedenfalls auf seinen beiden ersten Missionsreisen offensichtlich nicht in Kolossä gewesen (vgl. Kap 2,1). Einige Ausleger vermuten, dass Juden, die zu Pfingsten (Apg 2) in Jerusalem das Wort gehört hatten, das Evangelium in Kolossä verbreitet haben. Aus Apostelgeschichte 18,23 kann man jedoch entnehmen, dass zum Zeitpunkt der zweiten Missionsreise noch keine Versammlung in Kolossä war, denn es heißt ausdrücklich, dass Paulus alle Jünger in Phrygien befestigte, ohne dass Kolossä erwähnt wird. Andere Ausleger denken daran, dass Menschen aus Kolossä Paulus an anderen Orten in der Gegend gehört hatten. Apostelgeschichte 19,9-10 zeigt, dass Paulus zwei Jahre lang in Ephesus lehrte und dass dort viele aus Kleinasien das Evangelium hörten. Kolossä lag knapp 200 km östlich von der Hafenstadt Ephesus. Diese Erklärung scheint am wahrscheinlichsten zu sein.
Es ist ebenfalls sehr gut möglich, dass der in Kapitel 1,7 und 4,12 erwähnte Epaphras, ein Gläubiger aus Kolossä, das Instrument Gottes gewesen ist, durch den diese Versammlung entstanden ist. Vielleicht hatte er die Belehrungen von Paulus in Ephesus gehört. Jedenfalls hatte er eine gewisse Rolle, wie die beiden erwähnten Stellen klar machen.
Die Versammlung bestand – wie oft in der Anfangszeit – aus ehemaligen Juden und aus ehemaligen Heiden. Dieser Umstand sorgte immer wieder für gewisse Spannungen in Fragen mit dem Umgang des Gesetzes. Das war in Kolossä nicht anders. Aus Kapitel 2,13 mag man schließen, dass das heidnische Element in dieser Versammlung allerdings recht stark war.
Der Bruder Philemon aus Kolossä war ebenfalls ein Bekannter von Paulus. Auch er mag mit dazu beigetragen haben, dass die Versammlung an diesem Ort entstand. In seinem Haus fanden offensichtlich Zusammenkünfte statt (Phlm 1,2). Aus Vers 22 dieses Briefes können wir ebenfalls entnehmen, dass Paulus die Absicht hatte, die Versammlung in Kolossä zu besuchen.
3. Verfasser und Verfassungsumstände
Da wir von der göttlichen Inspiration der Bibel ausgehen, ist klar, dass Paulus diesen Brief geschrieben hat. Er nennt sich selbst als Autor und es gibt keinen einzigen plausiblen Grund, daran zu zweifeln. Wenn moderne Theologen meinen, das dennoch tun zu müssen, lässt uns das unberührt. Frühe Kirchenväter wie Justin, Irenäus, Tertullian und Clemens von Alexandrien erwähnen oder zitieren diesen Brief als von Paulus geschrieben.
Hinweise in dem Brief selbst (Kap 1,1.23; 4,18) machen deutlich, dass der Brief aus einer Gefangenschaft heraus geschrieben worden ist. Es ist der Gedanke geäußert worden, dass es sich um die Gefangenschaft von Paulus in Cäsarea handeln könnte (Apg 23-25). Dies ist jedoch wenig wahrscheinlich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass es um die erste Gefangenschaft von Paulus in Rom geht, d.h. um die gleichen Umstände, aus denen heraus die Briefe an die Epheser, Philipper und an Philemon geschrieben worden sind. Im Kolosserbrief erwähnt Paulus zwar nicht die Möglichkeit einer baldigen Haftentlassung, allerdings tut er das in Philemon 1,22. Das lässt den Rückschluss zu, dass alle vier Briefe gegen Ende der ersten Gefangenschaft in Rom geschrieben worden sind. Viele Ausleger nennen die Jahre 62/63 als Verfassungszeitraum, andere datieren ihn maximal zwei Jahre früher. Diese Frage ist letztlich nicht entscheidend.
Die Tatsache, dass Paulus aus dem Gefängnis schreibt, zeigt, dass er nicht als jemand schreibt, der das Leben nicht wirklich kennt. Paulus ist kein „Theoretiker“ gewesen, sondern er hatte gelernt, in schwierigen Umständen mit seinem Herrn zu leben und Ihn in allem in den Mittelpunkt zu stellen.
4. Der besondere Charakter des Kolosserbriefes
Wie jeder Brief im Neuen Testament hat der Kolosserbrief seinen besonderen und ihm eigenen Charakter. Dennoch fallen dem aufmerksamen Leser gewisse Ähnlichkeiten mit zwei anderen Briefen auf, nämlich dem Brief an die Römer und besonders dem Brief an die Epheser.
Die beiden Briefe sind kennzeichnend für den Dienst des Apostels der Nationen. Sie zeigen, dass Paulus sowohl Evangelist als auch Lehrer war. Beide Briefe zeigen den natürlichen Zustand des Menschen vor Gott und wie Gott darauf reagiert und das Problem des Menschen löst.
- Der Römerbrief zeigt uns, dass jeder Mensch ein Sünder ist. Erstens hat er viele Sünden begangen und zweitens ist er ein Sklave der Sünde, weil er eine sündige Natur hat. Wir Menschen brauchen deshalb Vergebung unserer Sünden und Rechtfertigung, aber wir brauchen auch Befreiung. Für beides hat Gott die Antwort in dem Tod des Herrn Jesus. Er ist für uns gestorben, um uns vor dem gerechten Gericht Gottes zu schützen und uns aus der Macht der Sünde und des Teufels zu befreien. Einst lebten wir in der Sünde, und dieses Leben ist durch den Tod des Herrn Jesus zu Ende gekommen. Sein Tod wird uns angerechnet. Gott sieht uns der Stellung nach als mit Christus gestorben.
- Der Epheserbrief zeigt uns, dass jeder Mensch von Natur aus tot ist für Gott. Damit ist er erstens unbrauchbar für Gott und zweitens kann er selbst nichts an seinem Zustand ändern. Ein Toter braucht neues Leben, und genau dafür hat Gott Sorge getragen. Die Antwort Gottes auf unser Problem im Epheserbrief ist also das Leben. Christus ist zunächst in unseren Tod gegangen. Wir sind mit seinem Tod einsgemacht. Aber dann ist Er auferstanden und in den Himmel zurückgegangen. Das wird nun auf uns angewandt. Wir sind mit Ihm auferweckt und in Ihm versetzt in die himmlischen Örter. Dort ist unser Teil. Dort sind wir gesegnete Menschen. Gott hat uns viel mehr gegeben, als wir als Sünder je brauchten. Wir sind Kinder Gottes, Söhne Gottes, Miterben Christi, und wir bilden mit allen anderen Gläubigen zusammen die Gemeinde (Versammlung) Gottes, die sein Leib ist.
- Der Kolosserbrief enthält Gedanken aus beiden Briefen. Er bildet sozusagen eine „Schnittstelle“ zwischen den beiden genannten Briefen. Das macht ihn besonders, aber auch zu einem Brief, der nicht immer ganz einfach zu verstehen ist. Er zeigt uns erstens, dass der Herr Jesus gestorben ist und die Grundlage für unsere Errettung gelegt hat. Wir sind von Natur aus tot in unseren Vergehungen (Kap 2,13) und leben so, dass wir den Zorn Gottes auf uns ziehen (Kap 3,6). In unserem Tod haben wir (der alte Mensch) unser Ende gefunden. Wir sind mit Christus gestorben und begraben. Der Brief zeigt uns zweitens, dass Christus auferstanden ist und lebt und wir darin ebenfalls mit Ihm verbunden sind. Wir sind sowohl gestorben, als auch lebendig gemacht und auferweckt. Lebendig gemacht zu sein spricht von einem neuen Zustand. Auferweckt zu sein spricht von einer neuen Stellung. Beides haben wir in dem Herrn Jesus. Aber der Kolosserbrief spricht nicht davon, dass wir in Ihm in himmlische Örter versetzt sind. Das finden wir nur im Epheserbrief.
Gott hat in dem Herrn Jesus also etwas völlig Neues geschaffen. Christus ist unser Leben (Kap 3,4) und gleichzeitig ist er in uns „die Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kap 1,27). Er ist die Basis und der Inhalt unseres Lebens auf dieser Erde. Alles dreht sich um Ihn. Wir sind noch nicht am Ziel, sondern leben noch auf der Erde. Deshalb spricht der Kolosserbrief mehrfach von unserer Hoffnung. Wir haben Ihn noch nicht in der Herrlichkeit gesehen wie Er ist. Darauf hoffen wir und orientieren uns jetzt schon. Unsere Hoffnung ist im Himmel (Kap 1,5). Deshalb sinnen wir auf das, was droben ist (Kap 3,2).
Eine Reihe von Bibelauslegern weist mit Recht darauf hin, dass uns diese Wahrheiten in der Geschichte des Volkes Israel von Ägypten bis zum Land Kanaan illustriert werden.
- Israel ist in Ägypten in der Gewalt des Pharao ein Bild des Menschen in der Sklaverei der Sünde und des Teufels. Das Passah zeigt das Werk des Herrn Jesus, um uns vor dem gerechten Gericht Gottes zu schützen. Erst der Durchzug durch das Rote Meer befreite sie endgültig von der Sklaverei. All das illustriert die Wahrheit des Römerbriefes. Das Ende des Lebens in Ägypten war das Rote Meer, ein Bild des Todes des Herrn Jesus. Danach ging er erst einmal in die Wüste. So wandeln wir jetzt in Neuheit des Lebens auf dieser Erde.
- Israel im Land Kanaan ist ein treffliches Bild von dem, was uns der Epheserbrief zeigt. So wie Israel irdische und zeitliche Segnungen hatte, besitzen wir himmlische und geistliche Segnungen. Der Kampf in Epheser 6 erinnert uns an den Kampf, den die Kinder Israel im Land geführt haben.
- Israel am Jordan, bzw. auf der anderen Seite des Jordan in Gilgal ist eine Illustration dessen, was wir im Kolosserbrief lernen. Wir sind befreit und mit dem auferstandenen Herrn verbunden, der unser Leben ist. Wir sind aber in Ihm noch nicht in die himmlischen Örter versetzt. Der Kolosserbrief spricht von der Beschneidung (Kap 2,11), die das Volk Israel in Gilgal erlebte. So haben wir das Todesurteil Gottes über die Sünde anerkannt, das am Kreuz an unserem Herrn vollzogen wurde. Er hat unser Gericht getragen.
Fassen wir es ganz kurz zusammen:
- Der Römerbrief zeigt, dass wir einst in der Sünde lebten und nun der Sünde gestorben sind.
- Der Epheserbrief zeigt, dass wir geistlich tot waren und nun mit Christus leben und mit Ihm in die himmlischen Örter versetzt sind.
- Der Kolosserbrief zeigt, dass wir einst in der Welt lebten und nun mit Christus und im Aufblick zu Ihm leben.
Menschen, die vor ihrer Bekehrung nur nach den Grundsätzen dieser Welt lebten (und gar nicht anders konnten), leben jetzt nach den Grundsätzen des neuen Lebens, das Christus selbst ist. Wir haben ein ganz neues Leben angefangen (den neuen Menschen angezogen) und das alte Leben nach den Grundsätzen dieser Welt hinter uns gelassen (den alten Menschen mit seinen Handlungen abgelegt). Dieses Leben hat Christus zum Inhalt und wird von Ihm geprägt. Christus ist nicht nur unser Leben droben bei Gott (das ist Er auch), sondern Er ist das Leben in uns hier auf der Erde und gleichzeitig unsere Hoffnung im Himmel.
5. Der Anlass und Zweck des Briefes: Gefahrenpotentiale bei den Kolossern
Wenn Paulus zu Papier und Tinte griff und – unter der Leitung des Heiligen Geistes – einen Brief schrieb, hatte das immer einen konkreten Hintergrund oder Anlass. In vielen Fällen waren es besondere Gefahren, die Paulus veranlassten, etwas zu schreiben. Jedenfalls reflektieren die Briefe des Neuen Testaments in der Regel an dem geistlichen Zustand der Empfänger. So ist es auch hier.
Die Gläubigen in Kolossä waren – wie jeder Gläubige – Kinder ihrer Zeit, d.h. sie wurden durch ihr Umfeld beeinflusst. In Kolossä gab es die oben erwähnten Einflüsse der griechischen und orientalischen Kultur durch die Philosophie und es gab die gesetzlichen Einflüsse der jüdischen Kultur durch falsche Lehrer, die unter den Gläubigen auftraten. Beim Lesen von Kapitel 2 werden beide Gefahren deutlich.
- Philosophische Strömungen: Die Gefahr bestand, dass die Kolosser sich philosophischen Einflüssen öffneten. Dabei ging es wohl weniger darum, den christlichen Glauben aufzugeben, als vielmehr um den Versuch, den christlichen Glauben durch die Philosophie dieser Welt zu bereichern. Es gab Philosophen, die ihnen höhere und bessere Kenntnis versprachen. Dabei ging es um bestimmte Verhaltensregeln und vor allem um die Beschäftigung mit der unsichtbaren Welt1. Die Geringschätzung der Materie spielte eine große Rolle und in Verbindung damit die Askese. Eine Folge davon war, dass man sich von gewissen Speisen oder von der Ehe enthalten sollte.
- Jüdische Strömungen: Wie fast in jedem Brief an Versammlungen, wo viele Gläubige aus den Juden kamen, spielt dieser Punkt eine große Rolle. Wir sehen das besonders im Galaterbrief, aber auch im Brief an die Römer oder Philipper. Jüdische Lehrer forderten die Gläubigen auf, sich beschneiden zu lassen und das alttestamentliche Gesetz zu halten. Damit wurde dem Fleisch (der alten Natur) ein Platz eingeräumt, der ihm nicht zukommt, und das Werk des Herrn Jesus am Kreuz wird in seiner Vollgültigkeit in Frage gestellt.
In dieser Mischung aus einer vornehmlich griechisch-philosophischen und einer eher jüdisch-gesetzlichen Beeinflussung wuchs ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential für diese Gläubigen, die an und für sich in einem guten geistlichen Zustand waren. Wir können nicht sagen, dass die Gläubigen dort bereits ein Opfer der gezielten Angriffe geworden waren, aber immerhin bestand die Gefahr. Hinter beiden Tendenzen stand der Teufel, dessen Ziel es immer ist, den Herrn und sein Werk in Misskredit zu bringen und den Gläubigen zu schaden.
Die Gefahrenquellen für uns mögen heute andere sein, die Stoßrichtung des Feindes bleibt unverändert. Es geht immer gegen Christus, gegen sein Werk vom Kreuz und gegen sein Volk. Für uns mögen es heute nicht gnostische Lehren sein, die das Materielle verachten. Dennoch gibt es auch heute viele völlig abwegige Gedanken über die Entstehung, den Sinn und das Ziel menschlicher Existenz. Das ist nichts anders als philosophisches Gedankengut, möglichst in einer christlichen Verpackung. Hinzu kommen die Gefahren aus der christlichen Tradition und einer falsch verstandenen Gesetzlichkeit, die das Fleisch in den Vordergrund stellt. Dabei ist offenkundig, wie sehr sich im Lauf der Jahrhunderte christliche und jüdische Tradition vermischt haben. Der Teufel wird alles versuchen, damit er dem Herrn Jesus den Platz wegnimmt, der Ihm allein gehört. Der Glaubensblick auf Ihn soll verdunkelt werden, in dem andere Dinge in den Vordergrund kommen. Das Wort von Paulus an die Korinther ist sehr aktuell: „Ich fürchte aber, dass etwa, wie die Schlange Eva durch ihre List verführte, so euer Sinn verdorben und abgewandt werde von der Einfalt gegenüber dem Christus“ (2. Kor 11,3).
6. Das göttliche Heilmittel: Christus
Wo immer es eine Gefahr gibt, gibt es auch ein Heilmittel. Paulus begegnet der Gefahr unter den Kolossern nicht zuerst, indem er das Verkehrte in allen Details erläutert. In Kapitel 2 spricht er über die Gefahren, aber zuerst tut er etwas ganz anderes. Er stellt das Vorzüglichere vor, nämlich die Größe und Herrlichkeit des Herrn Jesus selbst. Paulus verhält sich hier wie ein Vater, der sein Kind mit einem scharfen Messer spielen sieht. Statt ihm das Messer mit Gewalt wegzunehmen und dabei eine Verletzung zu rikieren, wird ein weiser Vater seinem Kind einen besonders schönen Gegenstand hinhalten. Das Kind wird das Messer loslassen und nach dem Gegenstand greifen, den der Vater ihm anbietet. So geht Paulus fast in allen Briefen vor. Eine Ausnahme bildet – aus gutem Grund – der Galaterbrief.
Kaum ein Brief im Neuen Testament zeigt uns die Herrlichkeit des Herrn Jesus so deutlich wie der Kolosserbrief. Das ist eine wunderschöne Art der Korrektur. Paulus schweigt die Gefahr nicht tot, zeigt aber die Herrlichkeit des Herrn Jesus als Schlüssel zur Lösung des Problems. Unsere Probleme heute mögen anderer Natur sein. Das Heilmittel ist kein anderes, weder für Probleme im persönlichen noch im gemeinsamen Leben als Gemeinde (Versammlung). Max Billeter schreibt sehr treffend: „Allein das Bewusstsein von der Größe und Herrlichkeit unseres Herrn Jesus kann uns vor den Verführungen der Welt bewahren und unsere Herzen und Gewissen neu auf Ihn ausrichten“2. Wir müssen immer unseren Herrn vor unseren geistlichen Augen haben.
In dem Brief wird unser Herr insgesamt 45-mal erwähnt, d.h. relativ zu Länge des Briefes gesehen häufiger als in fast allen anderen Briefen (mit Ausnahme des Philipperbriefes). Seine Titel und Vorzüge stehen dabei erstens mit dem in Verbindung, was Gott in Ihm sieht. Er ist z.B. der wahre Gott, der Sohn der Liebe des Vaters, das Bild des unsichtbaren Gottes und der Sohn zur Rechten Gottes. Zweitens sehen wir seine persönliche Herrlichkeit in Verbindung mit dem, was Er sich erworben hat. Er ist z.B. der Erlöser, der Versöhner, der Erstgeborene aller Schöpfung und der Erstgeborene aus den Toten. Drittens sehen wir Herrlichkeiten, die besonders mit der neuen Schöpfung zu tun haben. Er ist z.B. das Haupt des Leibes der Versammlung. Wichtig ist, dass Er in allem den Vorrang hat (Kap 1,18).
Erneut hilft uns das Alte Testament mit einer zutreffenden und anschaulichen Illustration. In 2. Könige 4,39-41 wird von einem Prophetensohn berichtet, der wilde Koloquinten in einen Topf warf und dadurch die komplette Mahlzeit vergiftet hatte. Die anderen riefen erschrocken: „Der Tod ist im Topf“. Erst als sie auf Veranlassung Elisas Mehl in den Topf warfen, konnten sie die Nahrung genießen. Die wilden Koloquinten können wir mit den Gefahren vergleichen, vor denen Paulus die Kolosser warnt. Die Beschäftigung mit falschen Lehren ist für das geistliche Leben des Christen tödlich. Das gilt für unser persönliches wie für unser gemeinschaftliches Leben als Gemeinde (Versammlung). Das Mehl spricht von der reinen und herrlichen Person unseres Herrn. Wenn wir Ihn hineinbringen, sind wir auf der sicheren Seite.
7. Struktur und Gliederung
Die ersten beiden Kapitel (bis 2,19) legen die lehrmäßige Grundlage. Paulus zeigt uns, was Christus für Gott und für uns ist. Er beschreibt seine Größe und Herrlichkeit, sein Werk und unsere Vollendung in Ihm. Ab Kapitel 2,20 bis zum Ende geht es um das praktische Auslegen der Stellung, in die wir gebracht sind.
Kapitel 1 zeigt uns den Herrn Jesus als den geliebten Sohn des Vaters, den Schöpfer und Erhalter des Universums und den Erlöser. Ihm gehört jeder Vorrang.
Kapitel 2 warnt uns vor den genannten Gefahren. Menschliche Philosophie und religiöse Traditionen helfen uns nicht, den Herrn Jesus besser zu kennen. Sie schaden uns nur. Allein in Ihm sind „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ (Kol 2,3) zu finden. Die Fülle der Gottheit wohnt in Ihm (Kol 2,9).
Der praktische Teil beschäftigt uns mit der Motivation zu einem Leben in Übereinstimmung mit unserer Stellung. Der Herr Jesus ist der Ursprung, die Kraftquelle und das Ziel des Glaubenslebens. Das soll in unserem Leben sichtbar werden und zwar im Umgang mit anderen Menschen, in Ehe, Familie, Arbeitsleben usw. Der Brief schließt mit persönlichen Mitteilungen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Brief ein wenig zu gliedern. Eine Möglichkeit ist folgende Gliederung in zwei große Teile:
Teil 1: Die Herrlichkeit des Herrn Jesus für Gott und die Gläubigen und sein Werk im Blick auf uns (Kapitel 1,1 bis 2,19)
- Kapitel 1,1–8: Grüße und Einleitung
- Kapitel 1,9–23: Die Herrlichkeit und Größe des Herrn Jesus
- Kapitel 1,24–2,3: Christus und der Dienst von Paulus
- Kapitel 2,4–19: Warnungen vor Gefahren, die uns von dem Herrn Jesus ablenken
Teil 2: Das tägliche Leben derer, die mit Christus gestorben und auferweckt sind (Kapitel 2,20 bis 4,18)
- Kapitel 2,20–22: Mit Christus gestorben
- Kapitel 3,1–11: Mit Christus auferweckt
- Kapitel 3,12–4,6: Der Christ in seinen Lebensbeziehungen (Ehe, Familie, Beruf, Beziehungen zu Dritten)
- Kapitel 4,7–18: Persönliche Umstände und Grüße
8. Vergleich der Briefe an die Kolosser und an die Epheser
Wie bereits bemerkt, gibt es eine Reihe von Parallelen zum Epheserbrief. In beiden Briefen geht es um Segnungen und Vorrechte der Gläubigen. Beide Briefe sprechen von der Wahrheit der Versammlung (Gemeinde) Gottes.
Dennoch gibt es bemerkenswerte Unterschiede, von denen einige kurz aufgezeigt werden:
- Der Epheserbrief zeigt uns die Versammlung Gottes in ihrem ewigen und zeitlichen Aspekt als die Fülle des Christus. Die Schönheit des Leibes wird besonders in den Vordergrund gestellt. Im Kolosserbrief geht es vordergründig um die Fülle des Hauptes und seine Schönheit. In Ihm wohnte und wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Die Kolosser werden deshalb vor der Gefahr gewarnt, das Haupt nicht festzuhalten (Kap 2,19).
- Der Epheserbrief zeigt uns die Gläubigen, die nicht nur mit Christus auferweckt sind, sondern in Ihm in die himmlischen Örter versetzt sind. Im Kolosserbrief werden wir noch auf dieser Erde gesehen. Die große Wahrheit ist nicht „Wir in Christus“, sondern „Christus in uns“. Deshalb geht es in diesem Brief um unsere Gemeinschaft mit Ihm auf der Erde, während es im Epheserbrief um unsere Gemeinschaft mit Ihm im Himmel geht.
- Der Epheserbrief spricht nicht ausführlich über die Hoffnung der Christen und erwähnt die Rückkehr des Herrn Jesus nicht. Das ist verständlich, weil wir der Stellung nach bereits am Ziel sind. Der Kolosserbrief sieht uns noch auf der Reise. Wir schauen nach vorne und nach oben und tragen die Hoffnung in unserem Herzen.
- Der Epheserbrief spricht wiederholt (eigentlich in jedem Kapitel) von dem Heiligen Geist. Der Geist spricht dort über sich selbst und wir lernen manches über diese göttliche Person. Im Kolosserbrief wird Er – von einer Ausnahme in Kapitel 1,8 abgesehen – nicht erwähnt. Das ist nachvollziehbar, denn Er spricht über die herrliche Person des Herrn Jesus, weil die Briefempfänger gerade das brauchten. Das große Thema ist das Leben, das wir in und mit Ihm haben.
Beide Briefe ergänzen einander. Wir brauchen beide.
Abschluss
Diese kurzen einleitenden Gedanken zum Brief an die Kolosser mögen den Leser anregen sich näher mit dem Brief und seinem Hauptinhalt, der herrlichen Person unseres Herrn Jesus zu beschäftigen. Nur zu gerne möchten wir als Gläubigen dann in unserem praktischen Leben die Stellung ausleben. Wir sind jetzt schon „in Christus“, mit dem Ziel bald mit Ihm offenbart zu werden!
Fußnoten
- 1 Man spricht hier häufig vom Gnostizismus (Gnosis = Erkenntnis). Dabei ist allerdings zu bedenken, dass der eigentliche Gnostizismus erst im 2. Jahrhundert aufkam, so dass man hier höchstens von den Anfängen oder Vorläufern sprechen kann. Die Gnostiker waren eine Sekte, die behaupten, dass Christus weder der Schöpfer, noch der Sohn Gottes ist. Ihrer Lehre zufolge ist die Schöpfung von einem untergeordneten und unvollkommenen Wesen erschaffen worden und folglich sei die Materie als solche als Böse abzulehnen. Gnostiker lehnten das Materielle ab. Nur im „Geistlichen“ könne man zu der Höhe wahrer Erkenntnis kommen. Das Böse in der Materie kann dieser Lehre zufolge nur überwunden werden, wenn man die Materie völlig ablehnt. Daher auch der Hang der Gnostiker zur Askese, die das Ziel hat, den Geist des Menschen von der Mühsal des Körpers zu befreien. Dem Körper werden Übungen der Entsagung auferlegt, um dieses Ziel zu erreichen. Für unsere Zeit heute spielen die Gnostiker keine unmittelbare Rolle mehr, aber einzelne Elemente ihres Lehrsystems finden sich z.B. bei den Anthroposophen wieder, die auch nichts von dem Herrn Jesus als dem Sohn Gottes und der Notwendigkeit der Erlösung durch Ihn wissen wollen. Wir lernen aber, wie Paulus mit dieser Gefahr umging und wenden das auf die Gefahrenpotentiale unserer Zeit an.
- 2 Max Billeter, Der Brief an die Kolosser (Beröa Verlag, Zürich)