Einführender Vortrag zum Judasbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Judasbrief

Wir kommen jetzt zum letzten der Briefe, die in unserer Bibel stehen, nämlich zum Judasbrief.

Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um in kurzer Form einen Vergleich zwischen einem Teil des zweiten Briefes von Petrus und dem vorliegenden anzustellen. Du wirst dich erinnern, daß ich bei der Beschäftigung mit dem Petrusbrief nicht ausführlich geworden bin.1 Gelehrte Männer haben, wie die meisten von uns wissen, Zweifel aufgeworfen. Wegen Ähnlichkeiten in verschiedener Hinsicht meinten sie, daß Petrus von Judas oder Judas von Petrus Gedanken übernommen haben müsse; und falls dem so ist, kann in Wirklichkeit, wenn einer von den beiden inspiriert ist, der andere es nicht sein.

Geschwister, diese Art von Gedanken und diese Sprache sind das Ergebnis von nichts anderem als ungläubiger Spekulation; und ich möchte noch weiter gehen (denn es ist ernst, die Heilige Schrift so zu behandeln) und darum sagen: Diese Spekulation ist nicht nur ungläubig, sondern auch oberflächlich. Zweifellos gibt es Menschen, welche denken, daß sie durch ihre Zweifel ihre überlegene Weisheit kundmachen. Dennoch muß ich mir die Freiheit nehmen zu sagen, daß eine Infragestellung der Inspiration sowohl vom Zweiten Petrus- als auch vom Judasbrief ihre Unkenntnis über beide aufzeigt. Damit möchte ich keineswegs behaupten, daß diejenigen, die sich solcher Leichtfertigkeit schuldig machen, in allem unwissend sind. Weit davon entfernt! Ein Mensch, der in solche Ansichten hineingezogen worden ist, mag umfassende und hervorragende Kenntnis haben in den Dingen, die sein Leben ausmachen. Es mag sogar bestimmte Teile des Wortes Gottes geben, über welche er wirklich vom Heiligen Geist belehrt ist. Trotz allem entbehren diese Zweifel jeder Grundlage und sind zudem gefährlich und verunehren den Heiligen Geist. Ich bin mir bewußt, daß einige Männer mit Namen von großem Gewicht unter den Protestanten sowie auch andere, die ihnen genau entgegengesetzt eingestellt sind, solche unwürdigen Zweifel bezüglich der Heiligen Schrift vorbringen. Ich beziehe mich jetzt darauf, damit die hier Anwesenden erkennen, daß ich nicht ohne Untersuchung ihrer Einwände und ausführlicher Erwägung ihrer Aussagen gegen die Wahrheit es wage, ein solches ernstes Urteil über ihre Meinung auszudrücken.

Ich hoffe, zeigen zu können, daß Judas nichts von Petrus und noch weniger Petrus etwas von Judas übernommen hat, sondern daß beide inspirierte Männer waren, welche unter der unmittelbaren Anleitung und Kraft des Heiligen Geistes schrieben. Damit möchte ich keinesfalls unterstellen, daß der eine nicht vor dem anderen geschrieben hat und daß der eine nicht gelesen hat, was der andere schrieb. Ob es so oder anders war, tut nur wenig zur Sache. Es ist klar und aufzeigbar, daß der Geist Gottes große Sorgfalt anwandte, auch wenn der eine der beiden Schreiber die Schrift des anderen kannte, unterscheidende Einzelheiten von wesentlicher Bedeutung durch sie mitzuteilen, auch wenn sie manches Gemeinsame vorstellen. Darum verrät der Kritizismus, welcher zu dem Schluß kommt, daß der eine vom anderen abgeschrieben hat, in Wirklichkeit nur seine blinde Inkompetenz. Die Unterschiede sind wenigstens genauso auffallend wie die Ähnlichkeiten und zeigen in ausreichendem Maß, daß Judas nichts von Petrus übernommen hat. Genauso folgt Petrus wie Judas seiner eigenen besonderen Linie – mehr nicht.

Wir haben in den Petrusbriefen gesehen, daß die leitende Wahrheit darin bestand, neben der Gnade Christi die gerechte Regierung Gottes, unter welcher der Erlöste sich befindet, herauszustellen. Wir haben weiterhin gesehen, daß diese gerechte Handlungweise nicht ausschließlich die Erlösten betrifft, sondern auch in ernstester Art die Welt unter ihre Macht bringt, bevor Gott alles abschließen wird. So finden wir in 2. Petrus die zukünftigen Gerichte sogar bis zum Ende des Tausendjährigen Reiches sowie den neuen Himmel und die neue Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, vorgestellt. Daher sind hier die Menschen, welche nach den Grundsätzen des gerechten Gerichts Gottes gerichtet werden, natürlicherweise der Standpunkt, von dem aus der Heilige Geist die Dinge betrachtet. Im Fall der Christen strömt selbstverständlich alles aus der Gnade und durch die Gnade. Aber diejenigen, welche die Gnade Gottes verachtet haben, werden nicht länger mehr Seine Regierung verachten können.

Folglich nimmt der zweite Brief dieses Thema auf und zeigt, daß es heutzutage genausogut falsche Lehrer gibt, wie unter den Juden falsche Propheten waren. Von diesen liefert der Geist Gottes einige sehr ernste Gesichtszüge. Es wird gesagt, daß sie verderbliche Sekten eingeführt haben und sogar den unumschränkten Gebieter, der sie erkauft hat, verleugnen. (2. Petrus 2, 1). Ein Wort hierzu mag einigen Anwesenden hilfreich sein, die vielleicht daran Anstoß nehmen, daß der Herr falsche Lehrer und Ketzer erkauft hat. – Du mußt zwischen Erkaufen und Erlösen unterscheiden!

Niemals wird in der Heiligen Schrift gesagt, daß der Herr einen Irrlehrer oder irgendeinen anderen Menschen, der nicht errettet ist, erlöst hat. Im Wort Gottes gibt es keine Silbe, welche die Gewißheit abschwächt, daß der Gläubige ewiges Leben besitzt. Andererseits wird keineswegs unklarer gelehrt, daß der Herr jeden Menschen – errettet oder nicht, gläubig oder nicht – „erkauft“ hat. Das Endergebnis für einen Menschen hat nichts mit dem „Kauf“ des Herrn zu tun. Er hat die Welt gekauft und alles, was zu ihr gehört. Diese Lehre steht überall – sei es im Gleichnis, sei es in der Lehre – sei es im Evangelium, sei es im Brief. Das ist die ständige Aussage des Heiligen Geistes. Daher sind natürlich diese bösen Leute genauso erkauft wie die übrigen Menschen.

Erlösung ist hingegen ein ganz anderer Gedanke. Weit davon entfernt, Kauf mit Erlösung gleich setzen zu können, stehen sie in einem ausdrücklichen Gegensatz. Das Wesen der Erlösung besteht darin, eine Person aus der Gewalt des Feindes zu befreien, jemand, der gefangen ist, aus der Sklaverei zu führen, und einem Menschen durch Bezahlung eines Lösegelds Freiheit zu verschaffen. Das gilt nur für einen Gläubigen. Allein er wurde aus der Gefangenschaft freigekauft und befreit. Das ist eine wirksame Befreiung, die nicht nur dem Namen nach besteht, und gehört ausschließlich dem Glauben. Es geht nicht einfach um Lösegeld. Dieses reicht nicht für die Erlösung, welche einen Sklaven oder Gefangenen in Freiheit setzen soll; denn dieses Ziel wird niemals erreicht, wenn eine Seele nicht an Christus glaubt. Die Erlösung ist demnach unterschieden von einem Kauf. Du kannst auch etwas Unbelebtes kaufen; und das, was du gekauft hast, gehört wirklich dir. Doch letzteres kann dir auch Kummer und Schande bringen. Angenommen du kaufst einen Menschen! Was ist das Ergebnis dieses Geschäfts (Transaktion)? – Du machst ihn zum Sklaven. Das ist genau entgegengesetzt zur Erlösung. Die Erlösung macht einen Sklaven frei; ein Kauf macht das, was du kaufst, zu deinem Besitz oder Sklaven.

Beide Gesichtspunkte gelten für die Christen und treffen sich im Blut Christi. Der Christ ist sowohl erlöst als auch erkauft. Aber nur er ist erlöst. Neben seiner Erlösung ist er auch durch das Blut Christi erkauft worden; und darauf beruht, daß er Christi Sklave wurde. Er ist ein Leibeigener Jesu Christi. Durch die Erlösung ist er vollkommen freigemacht, durch den Kauf ist er ganz und gar ein Sklave. Genau das ist der Widerspruch, den der natürliche Mensch niemals versteht. In Bezug auf die Theologen kann man sagen, daß nicht alle nur natürliche Menschen sind. Doch verzweifelt müssen wir fragen: Was ist es, das sie jemals richtig verstehen? – Tatsache ist: Sie haben diese beiden Wahrheiten derartig durcheinander gebracht, daß wir unmöglich aus ihren Händen eine Lösung des Problems erwarten dürfen.

Es ist klar, daß die Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Calvinisten und den Arminianern2 sich viel um diesen Punkt drehen, der dann sehr bedeutsam wird. Beide stimmen in dem Irrtum überein, daß Erlösung und Kauf dasselbe bedeuten. Infolgedessen können sie diese Frage niemals entscheidend beantworten. Der Calvinist hat völlig recht in seiner Voraussetzung, daß die Erlösung ausschließlich zum Haushalt des Glaubens gehört. Der Arminianer hat nicht weniger recht, wenn er angibt, daß der Kauf einem jeden Geschöpf unter der Wirksamkeit der Sünde gilt. Aber beide irren sich in gleicher Weise, indem sie annehmen, daß es sich um dasselbe handelt. Um diese Frage werden sie sich wohl für immer streiten, ohne sich einen Zoll auf eine Lösung hin zu bewegen, weil jeder eine Wahrheit festhält, die der andere leugnet. Die Wahrheit bei diesem Problem liegt – wie in vielen anderen Schwierigkeiten, welche die Christenheit verwirren – darin, daß der Glaube das für sich annimmt, was die kämpfenden Parteien bei ihren Wortwechseln aus dem Auge verlieren. Der Glaube beugt sich der ganzen Wahrheit, anstatt sich mit einem Teil von ihr einzuschließen. Hier in 2. Petrus 2 können wir demnach sehen, daß es sich nur um den Kauf handelt, der nicht voraussetzt, daß diese Männer jemals aus Gott geboren waren.

Als nächstes werden uns die Wirkungen ihres Lehrens und Verhaltens gezeigt: „Und viele werden ihren Ausschweifungen nachfolgen, um welcher willen der Weg der Wahrheit verlästert werden wird.“ (2. Petrus 2, 2). Danach wird uns ihre Habsucht vorgestellt und darüber hinaus die Tatsache, daß ein unfehlbares Gericht sie erwartet – ihr Verderben schlummert nicht, sondern ist nahe und gewiß. Daraufhin sagt Petrus (beachte den Ausdruck!): „Denn wenn Gott Engel, welche gesündigt hatten [in diesem Brief geht es um die Frage des Sündigens, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit], nicht verschonte, sondern, sie in den tiefsten Abgrund hinabstürzend, Ketten der Finsternis überlieferte, um aufbewahrt zu werden für das Gericht; und die alte Welt nicht verschonte, sondern nur Noah, den Prediger der Gerechtigkeit, selbacht erhielt, als er die Flut über die Welt der Gottlosen brachte …“ Das sind die Themen bei Petrus, nämlich Sünde und Ungerechtigkeit. Daher spricht er von Gott, der „die Städte Sodom und Gomorra einäscherte und zur Zerstörung verurteilte, indem er sie denen, welche gottlos leben würden, als Beispiel hinstellte; und den gerechten Lot [hier ist es erneut Gerechtigkeit] rettete, der von dem ausschweifenden Wandel der Ruchlosen gequält wurde; (denn der unter ihnen wohnende Gerechte quälte durch das, was er sah und hörte, Tag für Tag seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken).“ Das ist nicht mehr als der Anfang und noch nicht das Ende. Folglich werden sie für ein zukünftiges größeres Gericht aufbewahrt. Dieser Wahrheit wird in diesem Brief ganz besonders in einem umfassenden Maßstab bis zu ihrer Vollendung im nächsten Kapitel nachgespürt.

Im Judasbrief hingegen sehen wir ein ganz anderes Wesen des Bösen. „Judas, Knecht Jesu Christi und Bruder des Jakobus, den in Gott, dem Vater, geliebten und in Jesu Christo bewahrten Berufenen: Barmherzigkeit und Friede und Liebe sei euch vermehrt!“ (V. 1–2). Obwohl der Brief, wie man sagt, an die Erlösten im allgemeinen gerichtet ist, führt der Heilige Geist hier denselben Wunsch nach Barmherzigkeit an, der üblicherweise in Briefen an Einzelpersonen erwähnt wird. Tatsächlich macht dieser Brief die Erlösten zu Einzelpersonen; und es ist von äußerster Wichtigkeit, an diesem Platz nach der Wahrheit für den Einzelnen auszuschauen und sie für uns persönlich zu ergreifen. „Geliebte, indem ich allen Fleiß anwandte, euch über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen.“ (V. 3). Das gilt nicht so sehr für Petrus; er spricht nicht von einem solchen Kampf. „Denn gewisse Menschen haben sich nebeneingeschlichen, die schon vorlängst zu diesem Gericht zuvor aufgezeichnet waren, Gottlose …“ (V. 4). Beachte: Hier geht es nicht einfach um Sünde oder Ungerechtigkeit! Wir erkennen „Gottlose, welche die Gnade unseres Gottes … verkehren.“ Das ist nicht die Gerechtigkeit der Menschen, noch weniger Gottes gerechte Regierung. Das Böse besteht darin, „die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren und unseren alleinigen Gebieter und Herrn Jesus Christus verleugnen.“

Auf diese Weise macht der Grad der Ähnlichkeit die wirklichen Unterschiede zwischen den beiden Briefen weit auffallender, als wenn dieser Brief ohne die geringsten Berührungspunkte zum anderen geschrieben worden wäre. Einer Tatsache dürfen wir sicher sein: Ob Petrus sich auf Judas oder Judas sich auf Petrus beziehen mag, der Heilige Geist hatte beide im Blickfeld und teilte jedem das zu, was Er wollte. Es gibt kein schöneres Beispiel von der Handlungsweise des Heiligen Geistes bei der Berührung ähnlicher Linien der Wahrheit, die in irgendeiner Weise mit vollendeter Weisheit zusammenlaufen, als diese beiden Briefe. Wir finden die bewundernswerteste Zartheit der Ausdrucksweise und der Wahrheit, welche das schon bestehende und das kommende Böse unter unterschiedlichen Gesichtspunkten behandelt. Angenommen zwei Personen beschäftigen sich mit völlig verschiedenen Gedankenlinien, dann ist offensichtlich nichts leichter, als daß jeder seiner eigenen Linie nachgeht. Setzen wir indessen voraus, daß sie sich immer wieder einander nähern, ist es offensichtlich schwieriger, die Wahrheit, die einem jeden gegeben ist, unbeschädigt beizubehalten. Letzteres gilt für Petrus und Judas. Doch der Heilige Geist hat dieses Werk in Vollkommenheit ausgeführt.

„Ich will euch aber, die ihr einmal alles wußtet, daran erinnern, daß der Herr, nachdem er das Volk aus dem Lande Ägypten gerettet hatte, zum anderenmal die vertilgte, welche nicht geglaubt haben.“ (V. 5). Davon finden wir kein Wort bei Petrus. Warum dann hier? – Weil der Apostel Judas uns nicht einfach Ungerechtigkeit im Verhalten zeigt, sondern das Verlassen einer Stellung der Gnade, um sie in offensichtliche Lüsternheit zu verwandeln. Tatsächlich ist das große Thema von Petrus in seinem zweiten Brief die Ungerechtigkeit. Das davon unterschiedene Thema bei Judas ist nicht diese Ungerechtigkeit, sondern der Abfall (Apostasie) – das ist das Verlassen des Platzes, den die Gnade Gottes zu irgendeiner gegebenen Zeit Seinem Volk anvertraut hat. Folglich gründet sich die Warnung auf ein gerettetes Volk, das als nächstes vertilgt wird, so wie es mit Israel geschah, nachdem es aus Ägypten geführt worden war. Das waren nicht Menschen, die sich böse verhielten; es war ein tödlicheres Übel: Sie glaubten nicht und gaben Gottes Wahrheit und Seine Wege auf.

„Und Engel, die ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung verlassen haben, hat er zum Gericht des großen Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt.“ (V. 6). Auch hier ist es derselbe Grundsatz. Das wird umso auffallender, weil Petrus auch von Engeln schreibt, aber in keinster Weise unter dem gleichen Gesichtspunkt. Bei Petrus steht einfach, daß Gott die Engel, welche gesündigt haben, nicht verschonte, ohne mit einem Wort von einem Verlassen ihres ersten Zustands und dessen Nicht-Bewahrung zu sprechen. Judas redet von „Engel, die ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung verlassen haben.“ Sie waren also abgefallen; und in diesem Fall wird die Ausdrucksweise über die Maßen ernst, weil die Schuld viel schlimmer ist.

Jetzt folgt ein weiteres Beispiel aus der Menschheit, das auch von Petrus angeführt wird. Wenn ich sage „von Petrus angeführt“, will ich keineswegs den Eindruck erwecken, als wollte ich entscheiden, zu welcher Zeit die beiden Briefe geschrieben wurden, noch soll es andeuten, daß ich darüber etwas weiß. Petrus sagt: „Und die Städte Sodom und Gomorra einäscherte und zur Zerstörung verurteilte, indem er sie denen, welche gottlos leben würden, als Beispiel hinstellte.“ (2. Petrus 2, 6). Hingegen lesen wir bei Judas: „Wie Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte, die sich, gleicherweise wie jene, der Hurerei ergaben und anderem Fleische nachgingen, als ein Beispiel vorliegen, indem sie des ewigen Feuers Strafe leiden.“ (V. 7). In diesem Fall handelt es sich offensichtlich um ein Hervorbrechen – nicht nur der Sünde, sondern auch – desjenigen, was über jedes Maß empörend ist. Es geht nicht einfach um etwas Böses, sondern um ein Verhalten, das sogar einer gefallenen Menschennatur widerspricht. Davon wird hier gesprochen. Dieselben Personen werden in unterschiedlicher Weise beschrieben entsprechend dem Thema des Heiligen Geistes.

So auch hinsichtlich des Benehmens der Engel! Bei Petrus steht: „Während Engel, die an Stärke und Macht größer sind, nicht ein lästerndes Urteil wider sie beim Herrn vorbringen.“ (2. Petrus 2, 11). Judas stellt uns mehr den besonderen Auftrag vor und nicht so sehr eine allgemeine Pflichtvergessenheit. „Doch gleicherweise beflekken auch diese Träumer das Fleisch und verachten die Herrschaft und lästern Herrlichkeiten. Michael aber, der Erzengel, als er, mit dem Teufel streitend, Wortwechsel hatte um den Leib Moses‘, wagte nicht ein lästerndes Urteil über ihn zu fällen, sondern sprach: Der Herr schelte dich!“ (V. 8–9).

So wird offenbar, daß in jedem Beispiel Petrus die ausgedehntere Grundlage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit einnimmt, während Judas den besonderen Charakter des Abweichens von der Wahrheit und die Verdrehung der Gnade Gottes (das ist, kurz gesagt, Apostasie) herausstellt.

Aber da ist noch ein weiterer Unterschied. Beide Briefe behandeln das Kommen des Herrn. Nur der Petrusbrief gibt, seinem Wesen treu, den möglichst größten und umfassendsten Ausblick. Er – und er allein – schließt in den Tag des Herrn das ganze Tausendjährige Reich ein und sogar das, was vor demselben und gleich nach demselben geschehen wird. Er blickt auf das, was dem Tausendjährigen Reich unmittelbar vorausgeht. Denn dieser Tag des Herrn schließt wirklich die göttlichen Gerichte in Jerusalem und seiner Umgebung und sogar in fernen Ländern als verschiedene Stufen des einleitenden Gerichts über die Lebenden (oder Menschen, die sich mehr oder weniger in offener Rebellion gegen den Herrn befinden, unabhängig von Seinem Volk) ein, bevor die tausendjährige Herrschaft, zu Recht gesagt, wirklich anfängt. Dieser Epoche folgt das Tausendjährige Reich – mag sein nur eine kurze Zeit später, doch auf jeden Fall folgt es erst später. So ist es auch mit der Auflösung von Himmel und Erde. Sie geschieht nicht im Tausendjährigen Reich, sondern danach. Es gibt eine kurze Zwischenzeit, in welcher Satan alle Menschen mustern wird, die während der tausend Jahre geboren worden sind, aber nicht aus Gott. Feuer wird die versammelten Rebellen verzehren – ein erneuter Ausbruch des göttlichen Gerichts über den Menschen, bevor das ewige Gericht endgültig ablaufen wird. Himmel und Erde werden völlig verzehrt werden und den neuen Himmeln und der neue Erde im ihrem vollsten Sinn Platz machen. Alle diese ungeheuren Ereignisse werden nicht im Tausendjährigen Reich enthalten sein, sondern im Tag des Herrn, und zwar in dem einen Fall ein wenig vor diesem Reich, in dem anderen ein wenig nach demselben.

Das verdeutlicht die breite Darstellungsweise von Petrus. So behandelt er auch sittliche Fragen und mit den Haushaltungen zusammenhängende Veränderungen und betrachtet sie in diesem umfassenden Ausmaß. Bei Judas ist es hingegen anders, der alles genau festlegt. So schildert er – und er allein – in wenigen kurzen Worten die Bitterkeit und das Gift des Abfalls. „Wehe ihnen! denn sie sind den Weg Kains gegangen und haben sich für Lohn dem Irrtum Balaams überliefert, und in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen.“ (V. 11). Der einzige Teil dieses Bösen, den auch Petrus aufnimmt, indem er ihn von einem weitgefaßteren Blickwinkel und als Frage der gerechten Regierung betrachtet, ist Balaams Trachten nach dem Lohn der Ungerechtigkeit, weil er diesen liebte. Obwohl Judas uns hier anscheinend mehr beschreibt, liefert er uns tatsächlich mit größt-möglicher Sorgfalt eine kurze sittliche Geschichte des Abfalls.

„Diese sind Flecken [vielleicht besser: versunkene Felsen, Klippen; W. K. (siehe Fußnote!; Übs.)]bei euren Liebesmahlen, indem sie ohne Furcht Festessen mit euch halten und sich selbst weiden; Wolken ohne Wasser, von Winden hingetrieben; spätherbstliche Bäume, fruchtleer, zweimal erstorben, entwurzelt; wilde Meereswogen, die ihre eigenen Schändlichkeiten ausschäumen; Irrsterne, denen das Dunkel der Finsternis in Ewigkeit aufbewahrt ist. Es hat aber auch Henoch, der siebente von Adam, von diesen geweissagt und gesagt: „Siehe, der Herr ist gekommen inmitten seiner heiligen Tausende, Gericht auszuführen wider alle und völlig zu überführen alle ihre Gottlosen von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben, und von all den harten Worten, welche gottlose Sünder wider ihn geredet haben.“ Diese sind Murrende, mit ihrem Lose Unzufriedene, die nach ihren Lüsten wandeln; und ihr Mund redet stolze Worte, und Vorteils halber bewundern sie Personen. Ihr aber, Geliebte, gedenket an die von den Aposteln unseres Herrn Jesus Christus zuvorgesprochenen Worte, daß sie euch sagten, daß am Ende der Zeit Spötter sein werden, die nach ihren eigenen Lüsten der Gottlosigkeit wandeln.“ (V. 12–18).

Das ist nicht der Tag des Herrn wie in der sehr umfassenden Anwendung des Petrus. Judas schreibt von der Tatsache Seines Kommens und der Ausübung des Gerichts über jene, die bei offener Sünde ertappt und bei der bösen Tat ergriffen werden. Judas schildert eine Handlungsweise, wie sie gegen Abtrünnige angemessen und passend ist.

Es gibt indessen noch einen weiteren Punkt an Genauigkeit, der bei Petrus fehlt und für Judas kennzeichnend ist. Er spricht nicht nur von der spottenden Herausforderung: „Wo ist die Verheißung seiner Ankunft?“ (2. Petrus 3, 4). Er erklärt auch nicht den Verzug mit der Langmut Gottes zur Errettung von Sündern. Auch ruft er nicht die Erlösten einfach auf zu einem angemessenen Wandel in heiligem Verhalten und Gottseligkeit, indem sie den neuen und ewigen Schauplatz erwarten, auf dem Gerechtigkeit wohnt. Judas‘ kennzeichnendes Wort zeugt von besonderer Gnade. „Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren allerheiligsten Glauben, betend im Heiligen Geiste, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, indem ihr die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus erwartet zum ewigen Leben.“ (V. 20–21). Das ist das ausdrücklich christliche Vorrecht und nicht einfach die Gottseligkeit (Frömmigkeit), die immer verpflichtend ist.

„Und die einen, welche streiten, weiset zurecht, die anderen aber rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reißend, indem ihr auch das von dem Fleische befleckte Kleid hasset.“ (V. 22–23). Manche Menschen fragen sich, ob hier ein Unterschied gemacht wird. Ich glaube, liebe Geschwister, daß es keinen gesunderen Grundsatz als diesen geben kann, auch wenn Gnade und Weisheit dazu unbedingt erforderlich sind. Ich wiederhole indessen, daß notwendigerweise für jeden einzelnen Fall geistliches Unterscheidungsvermögen benötigt wird. Gott ist treu, der nichts Gutes vorenthält und dem Demütigen immer mehr Gnade gibt. Auf der Länge des Weges wird die von Gott gegebene Weisheit in diesen Dingen zunehmend offenbar. „Die anderen aber rettet mit Furcht, sie aus dem Feuer reißend, indem ihr auch das von dem Fleische befleckte Kleid hasset.“

Danach bringt Judas alles zu einem Abschluß, indem er uns unsere gesegnete Stellung in einer Weise vorstellt, die ganz anders ist als bei Petrus. „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren … vermag.“ (V. 24). Das heißt nicht nur, daß Er uns in den neuen Himmel und auf die neue Erde bringen kann, was natürlich für das gesamte Volk Gottes gilt – für die Gerechten aller Zeiten. Hier haben wir zusätzlich die besondere innere Segnung jener, die auf Christus warten und von Ihm hinauf geholt werden, um bei Ihm zu sein, dort wo Er ist. „Dem aber, der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott, unserem Heilande, durch Jesum Christum, unseren Herrn, sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit! Amen.“

Das ist das Kommen des Herrn – nicht um sich mit den Bösen zu beschäftigen, sondern um uns zu Sich zu nehmen. Es geht nicht um das Gericht über die Ungerechten, noch um die gerechte Beherrschung der Nationen auf der Erde, sondern um das besondere Kommen unseres Herrn Jesus für Seine Heiligen. Jetzt versteht Judas3, wie Jesus sich den Seinen offenbar machen kann und nicht der Welt. (Vergl. Johannes 14, 22!). Das geschieht nicht allein in der Kraft des Heiligen Geistes, während Er nicht hier ist, sondern vor allem wenn Er wiederkommt, um uns bei sich aufzunehmen, damit wir bei Ihm im Haus des Vaters seien.

Damit habe ich diesen Überblick über die sogenannten Katholischen oder Allgemeinen Briefe abgeschlossen. Erlaubt mir zu sagen, daß mir diese Bezeichnung nicht sehr passend zu sein scheint! Denn Jakobus schreibt ausdrücklich an die zwölf Stämme in der Zerstreuung und Petrus an die Fremdlinge, die in Kleinasien verstreut sind; und vom zweiten Brief wird unmißverständlich gesagt, daß er an dieselben Empfänger ging. Was als Erster Johannesbrief bezeichnet wird, hat eher die Gestalt einer Abhandlung als eines Briefes. Es wird auch nicht eindeutig gesagt, daß er sich nicht auch vorrangig mit Gläubigen aus den Juden beschäftigt, obwohl er zweifellos, wie auch die übrigen Briefe, zur Belehrung der ganzen Kirche Gottes dienen soll. Sein zweiter und dritter Brief sind wie der Brief des Paulus an Philemon deutlich persönlich. Das mag der Grund sein, warum Calvin4 sie nicht in seine Auslegung der Katholischen Briefe aufgenommen hat. Warum er zu ihnen überhaupt nichts geschrieben hat, ist weniger einsichtig. Gewiß kann es nicht darum geschehen sein, weil sie in sich selbst dazu nicht würdig oder für den Christen von zu geringem Wert sind – nicht zu reden von der Ehrfurcht, die dem geoffenbarten Wort unseres Gottes zusteht. Warum er nicht über die Offenbarung geschrieben hat, ist eindeutig genug. Weder er, noch irgendein anderer der Reformatoren besaß ein wirkliches Verständnis von diesem Buch als Ganzem, obwohl sie sich darin nicht irrten, wenn sie Babylon mit Rom5 gleichsetzten und zwar in vollem Ernst. Der Judasbrief ist in sich selbst wenigstens genauso allgemein wie die anderen Briefe, die so benannt werden. Es gibt indessen keinen Grund anzuzweifeln, daß Judas wie sein Bruder Jakobus und wie Petrus die „Beschneidung“ als unmittelbaren Wirkungskreis hatte. Johannes liefert genug Gründe für die Folgerung, daß der Herr ihn als Träger einer göttlichen Botschaft auch unter den Nichtjuden benutzte. (Siehe Offenbarung 1–3!).

Möge der Herr Sein eigenes Wort segnen und uns befähigen, jedes Strichlein desselben zu würdigen; und möge es sowohl Anziehungskraft als auch Autorität für unsere Seelen besitzen, die wir begehren, in der Gnade und Erkenntnis Seiner Selbst zu wachsen!

Fußnoten

  • 1 Siehe Kellys Auslegung zum 2. Petrusbrief! (Übs.).
  • 2 Anm. d. Übers.: Calvinismus ist die Richtung des Protestantismus, welcher Jean Calvin (1509–1564) folgt. Sie vertritt u. a. eine strenge Lehre über die Auserwählung (Prädestination) zum Heil bzw. zur Verdammnis des Menschen durch Gott vor der Schöpfung, auf die ein Mensch in seinem Leben keinen Einfluß hat. Gegen diese Lehre trat Jacobus Arminius (1560–1609) auf und bestand auf die Willensfreiheit des Menschen zur Annahme der Errettung durch eine Bekehrung. Er kann jedoch, nach Arminius Ansicht, wieder abfallen und geht dann verloren.
  • 3 W. K. setzt hier voraus, daß der Schreiber dieses Briefes mit dem Judas aus dem Kreis der zwölf Jünger (Apostel) identisch ist. (Übs.).
  • 4 Jean Calvin (1509–1564): Reformator in Genf; Gründer der Reformierten Kirche und Begründer des Calvinismus. (Übs).
  • 5 d. i. die Römisch-Katholische Kirche. (Übs.).