Der zweite Brief an Timotheus
Einleitung
Schon in der Einleitung bemerkten wir, dass Paulus seinen zweiten Brief an Timotheus während seiner zweiten Gefangenschaft in Rom geschrieben hatte. Wir müssen noch einmal darauf zurückkommen und für diese unsere Behauptung den Beweis liefern. Aus dem Brief an die Philipper, der ebenso wie die Briefe an die Kolosser und an Philemon während der ersten Gefangenschaft des Paulus in Rom geschrieben wurde, geht hervor, dass der Apostel danach die bestimmte Erwartung, besser gesagt, eine neue Offenbarung von Gott hatte, dass er losgelassen und den Philippern wieder gegeben würde. Von zwei Dingen bedrängt: abzuscheiden und bei Christus zu sein, oder leben zu bleiben, wählt er das letztere. Das Erste wäre für ihn das weitaus Beste gewesen, das Letztere aber war nötig für die Gemeinde. Indem er seinen eigenen Genuss und seine Freude zum Heil der Gläubigen preisgibt, sagt er dann: „Und in dieser Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und mit und bei euch allen bleiben werde, zu eurer Förderung und Freude im Glauben, dass euer Rühmen in Christus Jesus meinethalben überströme durch meine Wiederkunft zu euch“ (Phil 1, 25–26). Diese Hoffnung ist erfüllt worden; und Paulus ist aus seiner Gefangenschaft in Rom befreit worden und hat die Philipper wieder gesehen. Auf seiner Rückreise von Philippi aber ist er wiederum gefangengenommen und aufs Neue nach Rom geführt worden, Während dieser Gefangenschaft schrieb er seinen zweiten Brief an Timotheus. Das ergibt sich aus dem Brief selber. Paulus sitzt gefangen in Rom und schreibt: „Trophimus habe ich in Milet krank zurückgelassen“, und „bring mir den Mantel mit, den ich in Troas bei Karpus zurückgelassen habe“. Das konnte er unmöglich während seiner ersten Gefangenschaft schreiben; denn nachdem er zwei Jahre in Cäsarea gefangen gewesen war, wurde er nach Rom geführt und blieb da mindestens zwei Jahre in seiner eigenen gemieteten Wohnung, so dass er diese Orte auf seiner Reise nach oder von Philippi besucht haben muss. Auch wurde der Apostel, als er diesen Brief schrieb, nicht wie beim ersten Mal in seiner eigenen, gemieteten Wohnung gefangengehalten, sondern lag im Staatsgefängnis, vielleicht in einem der unterirdischen Verließe, in denen so viele Christen geschmachtet haben. Das folgt aus dem, was er in Kapitel 1,16 von Onesiphorus mitteilt. Dieser hätte doch in Rom nicht nach ihm suchen müssen, wenn er sich noch in seiner gemieteten Wohnung aufgehalten hätte, denn die ganze Versammlung in Rom kannte diese Wohnung.
Wenn wir diesen zweiten Brief an Timotheus lesen, dann müssen wir uns den Apostel als einen gereiften Mann vorstellen, zum zweiten Mal in Rom gefangen, aber im Gegensatz zu seiner ersten Gefangenschaft ohne Rücksicht behandelt, wie ein gewöhnlicher Verbrecher in einen schrecklichen Kerker geworfen, allerlei Elend und Entbehrung preisgegeben, dazu den Tod vor Augen, während seine Seele über den Verfall der Gemeinde und über die Undankbarkeit seiner Mitarbeiter trauerte.
Dieses Letztere war wohl das Schwerste von allem. Seelenschmerzen sind schlimmer als körperliche Schmerzen. Und fürwahr – sein Leiden war groß. Der Mann, der die Heiligen so innig und feurig liebte, der so unsagbar viel für sie getan, der sein ganzes Leben ihnen geweiht hatte, war von fast niemandem getröstet, von allen verlassen. Der Mann, der die Gemeinde des Christus gegründet und gebaut hatte; der für die Versammlung geeifert, gepredigt, gelitten und gestritten hatte; der das Fundament der Wahrheit gelegt und gegen alle Anfälle des Feindes verteidigt hatte; dieser Mann sah den Verfall dieser Gemeinde vor seinen Augen und wusste durch die Mitteilung des Heiligen Geistes was in den letzten Tagen geschehen würde. Fürwahr, das war ein Leiden, von dem wir uns kaum einen Begriff machen können.
Kein Wunder, dass der Apostel das Bedürfnis hatte, am Busen seines treuen und geliebten Timotheus sein Herz auszuschütten. Kein Wunder, dass er mit feurigem Verlangen nach dessen Kommen ausschaute. Aber es erregt unsere ganze Bewunderung, dass er, inmitten solcher Umstände und bei solch schwerem Seelenleiden, sich nicht nur in Gott erfreuen konnte, sondern auch imstande war, Timotheus zu stärken und zu ermutigen, sein Werk am Evangelium unverdrossen fortzusetzen. Für Paulus blieb, was auch geschah, was auch zerfiel oder erschüttert wurde, die Treue Gottes unwandelbar. Die Wahrheit ist ewig unveränderlich, aber auch die persönliche Verantwortlichkeit jedes Gläubigen stets dieselbe.