Der erste Brief an die Thessalonicher

Einleitung

Der erste Brief an die Thessalonicher

Die Briefe an die Thessalonicher sind – abgesehen vom Brief an die Galater, dessen Datum unsicher ist – die ersten Briefe, die Paulus geschrieben hat. Aus dem Gefängnis entlassen, reisten Paulus und Silas durch Amphipolis und Apollonia nach Thessalonich, wo eine Synagoge der Juden war, und verkündigten dort an drei Sabbaten das Evangelium. Etliche fromme Juden, vor allem aber eine große Zahl Griechen, und von den vornehmsten Frauen der Stadt, kamen zum Glauben an Christus. Das erregte so sehr den Neid und die Feindschaft der Juden, dass sie einen Volksauflauf verursachten und Paulus und Silas zur Flucht zwangen. Der Apostel wurde dadurch verhindert, die Neubekehrten in Thessalonich im Glauben und in der Wahrheit zu befestigen. Sein Herz, das mit soviel Liebe und Zuneigung an allen seinen Kindern in Christus hing und so sehr ihr geistliches Wohlergehen wünschte, war nun ihretwegen in großer Sorge. Paulus fürchtete, dass die vielen Versuchungen, denen die im Glauben noch jungen Thessalonicher ausgesetzt waren, für diese eine beträchtliche Gefahr bedeuteten. Als er genötigt war, wegen der Verfolgung durch die Juden auch Beröa zu verlassen, sandte er darum Silas und Timotheus nach Thessalonich, um die Gläubigen dort zu stärken und zu ermahnen; auch wollte er sich durch sie Nachrichten über das Ergehen der dortigen Heiligen verschaffen. Er wünschte zu erfahren, ob sie in der Versuchung standhaft geblieben wären. (Siehe Kapitel 3.) Er selber blieb in Athen und wollte dort ihre Rückkehr abwarten. Da sich diese aber verzögerte und er nicht länger in Athen bleiben konnte, reiste er nach Korinth. Dorthin brachten dann Silas und Timotheus die gute Botschaft von dem Glauben und der Liebe der Thessalonicher, und aus Korinth, der Stadt, da der Herr ein großes Volk hatte, und wo Paulus ein Jahr und sechs Monate das Wort Gottes verkündigte, schrieb er alsdann seine beiden Briefe an die Thessalonicher. (Siehe Apg 17 u. 18.)

Die Gläubigen in Thessalonich waren also erst seit kurzem bekehrt. Noch in der Frische und Einfalt des jungen Glaubens stehend, hatten sie trotz den heftigen Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, solch ein schönes und kraftvolles Zeugnis ihres Glaubens an Christus abgelegt, dass es in der ganzen Umgebung bekannt war, wie sie sich von den Götzenbildern zu dem lebendigen Gott bekehrt hatten. Ihre Herzen waren so sehr mit der Person des Christus verbunden, und sie liebten Ihn so innig, dass sie im lebendigen Glauben und in froher Hoffnung dauernd Seine Wiederkehr aus dem Himmel erwarteten. Kein Wunder, dass sich der Apostel außerordentlich freute über das herrliche Werk der Gnade Gottes in ihrer Mitte, wie auch über ihren guten Zustand. Getröstet und erquickt durch das, was er selber in ihrer Mitte gesehen und erfahren, und vor allem auch durch das, was er von Timotheus über sie gehört hatte, öffnet er ihnen sein liebevolles Herz und schreibt ihnen mit der ganzen Zuneigung eines Vaters an seine Kinder. Daher all die vertraulichen Mitteilungen und Herzensgrüße, woran der erste Brief so reich ist. Aber zugleich beschreibt er den Zustand eines Christen hier auf Erden, ein Zustand, an dem sich der Herr erfreuen kann, und der für Sein Herz köstlich ist. Denn wie in allen Briefen, so steht auch in diesem der Inhalt in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zustand der gläubigen Empfänger. Das christliche Leben mit allen seinen Vorrechten, seiner Freude und seinem Genuss wird hier vor unseren Augen entfaltet, und zwar in Verbindung mit dem Zeugnis für Gott und mit der Hoffnung, die da stärkt und fähig macht, dieses Zeugnis abzulegen.

Halten wir dies im Auge, so können wir mit Leichtigkeit feststellen, dass die Wiederkunft des Herrn einer der Hauptcharakterzüge dieser Briefe ist. Diese wird nicht etwa in Gestalt eines lehrhaften Unterrichts, sondern in Verbindung mit den geistlichen Erfahrungen der Seele und den Umständen des christlichen Lebens entfaltet. Zugleich, erbringen uns diese Briefe den Beweis, dass die Wiederkunft des Christus die lebendige Hoffnung der Thessalonicher und auch die des Apostels war. In jedem Kapitel schreibt Paulus über das Kommen des Herrn, und zwar immer wieder unter einem anderen Gesichtspunkt.

  • Kapitel 1: Wir sind bekehrt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und Gottes Sohn aus den Himmeln zu erwarten.
  • Kapitel 2: Wir werden bei der Ankunft des Herrn die völlige Frucht unserer Arbeit genießen.
  • Kapitel 3: Bei der Erscheinung des Herrn wird die Heiligkeit Gottes in ihrer Vollkommenheit geschaut werden, weil dann alle Dinge offenbar werden.
  • Kapitel 4: Die Wiederkunft Jesu tröstet unsere Herzen beim Entschlafen der Heiligen.
  • Kapitel 5: Sein Kommen bringt ein plötzliches Gericht über die Welt, aber der Gott des Friedens wird all die Seinen „tadellos in Heiligkeit“ vor demselben bewahren.

Der Glaube an die Wiederkunft des Christus ist also nicht eine weltverlorene Auffassung, wie so oft behauptet wird, sondern diese Erwartung steht im engsten Zusammenhang mit dem geistlichen Zustand der Seele und übt auf das Leben des Christen und seinen Weg durch die Wüste dieser Welt einen heiligenden Einfluss aus. Ferner geht aus dem weiter oben Gesagten hervor, dass es keineswegs nur das Vorrecht der „Väter in Christus“ ist, Jesu Kommen zu erwarten und in die diesbezüglichen Weissagungen Einblick zu haben. Im Gegenteil, diese Erwartung gehört auch zur Ausrüstung eines jungen Gläubigen in Christus. Die Thessalonicher waren noch Kinder im Glauben. Sie waren keineswegs mit den verschiedenen Ereignissen bekannt, die bei der Ankunft des Christus auf Erden stattfinden würden. Sie kannten den Unterschied zwischen Jesu Kommen für die Seinen, um diese zu sich zu nehmen, und Seinem Kommen mit den Seinen, um die Welt zu richten, noch nicht. Der Apostel teilt ihnen ja das alles erst in diesen Briefen mit. Aber die Thessalonicher hatten den Herrn herzlich lieb, und weil sie mit ihrer ganzen Seele innig mit Ihm verbunden waren, sehnten sie sich innig danach, Ihn zu sehen und ewig bei Ihm zu sein. Sie erwarteten den Sohn Gottes aus den Himmeln. ja, dieses Verlangen war bei ihnen so ausgeprägt und trat so sehr in den Vordergrund, dass davon jeder von ihnen ebenso gut zu zeugen wusste wie von seiner Bekehrung von den Götzenbildern zu Gott. Welch ein beschämendes Vorbild für uns Christen in den letzten Tagen, die wir uns im allgemeinen so wenig um die Wiederkunft des Herrn kümmern! Ach, wie wenig Sehnsucht nach Ihm ist zuweilen in unseren Herzen zu finden!

War dieser vorbildliche Zustand, in dem die Thessalonicher sich befanden, köstlich für das Herz des Herrn, so war er dem Teufel ein Dorn im Auge und ein Ärgernis. Dieser „Menschenmörder von Anfang“, der stets das Werk Gottes zu zerstören trachtet, suchte auch in der Versammlung zu Thessalonich das Verlangen nach Jesu Ankunft zu schwächen und, wenn möglich, auszulöschen. Er wusste ganz genau, dass, wenn ihm das gelänge, er die Seelen ihrer wahren Freude und der Triebfeder zu einem heiligen Wandel berauben würde.

Die Verfolgungen und Drangsale, unter denen die Thessalonicher seufzten, gaben Satan Veranlassung, sie glauben zu machen, dass der Tag des Herrn gegenwärtig sei und sie deshalb diese Verfolgungen als Zeichen des Gerichtes Gottes zu betrachten hätten. Gegen diese listigen Verführungen Satans ist der zweite Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher gerichtet.

Die Behauptung, der Apostel hätte in seinem zweiten Brief das widerrufen oder geändert, was er in seinem ersten Brief geschrieben hat, ist völlig abwegig. Er teilt dort neue Einzelheiten mit, und zwar vor allem in Bezug auf die Wiederkunft des Christus zum Gericht.

Der Herr möge uns auch bei der Betrachtung dieser Briefe leiten durch Seinen Heiligen Geist und unsere Seelen durch die herrliche Verheißung Seiner Wiederkunft erquicken, damit wir zum Preise Seines Namens zu freudigem Harren ermuntert werden!

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