Der Brief an die Kolosser

Einleitung

Der Brief an die Kolosser

Obschon der Apostel Paulus nie in Kolossä gewesen war und die Gläubigen dort nicht von Angesicht kannte (Kap. 2, 1), so war sein Herz doch mit inniger Liebe und herzlicher Teilnahme für die dortigen Heiligen erfüllt. Er dankte Gott für all das Gute, das er von ihnen gehört hatte, ihrer allezeit im Gebet gedenkend (Kap. 1, 3. 4). Auch hatte er einen großen Kampf ihretwegen, weil sie im Festhalten verschiedener Wahrheiten nachlässig geworden waren. Paulus schrieb diesen Brief während seiner Gefangenschaft in Rom und ließ ihn, wie denjenigen an die Epheser, durch Tychikus den Empfängern überbringen (Eph 6, 21). Epaphras, der unter den Kolossern gewirkt hatte, war zu ihm gekommen. (Vergl. Kap. 1, 7; Kap. 4, 12.) Durch ihn hatte er von ihrem Glauben an Christus und von der Liebe, die sie zu allen Heiligen hatten, gehört, aber zugleich von den vielen Gefahren, denen sie ausgesetzt waren. Etliche Irrlehrer versuchten nämlich ihre philosophischen Ansichten und jüdischen Überlieferungen unter die Gläubigen einzuführen (Kap. 2, 8. 16–23). Das konnte natürlich leicht zur Folge haben, dass ihre Herzen von der Herrlichkeit des Christus, Seiner Person und Seinem Werk abgezogen wurden. Um sie zu warnen und ihre Herzen in der Wahrheit zu befestigen, schrieb ihnen der Apostel diesen Brief.

Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes; in Ihm wohnt die Fülle Gottes leibhaftig. Wer ihn sieht und kennt, sieht und kennt den Vater. Wird das Herz von Ihm angezogen und hat man in Ihm alles gefunden, was Herz und Geist befriedigen kann, dann verlieren Philosophie und Überlieferungen von selber ihren Wert. Vor Seiner Herrlichkeit verschwinden alle menschlichen Erwägungen. Daher finden wir in diesem Brief eine Beschreibung der persönlichen Herrlichkeit des Christus, wie wir sie kaum anderswo im Neuen Testament antreffen.

Es ist wichtig, sowohl die Übereinstimmung als den Unterschied zu beachten, die zwischen diesem Brief und demjenigen an die Epheser bestehen. Beide Briefe reden von unserer Vereinigung mit Christus, dem Haupt des Leibes, der Versammlung (Gemeinde, Ekklesia). In keinem der anderen Briefe wird das auf solche Weise ins Licht gestellt. Wiewohl im ersten Brief an die Korinther dieselbe Wahrheit verkündigt wird, so ist doch deutlich zu ersehen, dass sie dort in Verbindung steht mit der Versammlung Gottes, in welcher der Heilige Geist wirkt durch die verschiedenen Glieder, denen Er Gaben gibt, wie Er will. Im Brief an die Epheser werden die Heiligen in Christus im Himmel gesehen; und im Brief an die Kolosser wird Christus geschaut, wohnend in den Heiligen auf Erden. Hieraus folgt von selbst, dass zwischen diesen beiden Briefen viel Übereinstimmung besteht. Dass die Gläubigen im Himmel sein werden, und dass Christus, die Hoffnung der Herrlichkeit, jetzt in ihnen wohnt, beweist, wie eng sie mit Ihm vereinigt sind; sie sind mit Ihm gestorben und mit Ihm auferweckt.

Nichtsdestoweniger besteht ein großer Unterschied zwischen diesen beiden Briefen; und dieser Unterschied wird uns den besonderen Charakter des Briefes an die Kolosser noch besser erkennen lassen. Der Brief an die Epheser offenbart uns die Vorrechte und Segnungen des Leibes des Christus, derjenige an die Kolosser die Herrlichkeit des Hauptes. Im Epheserbrief ist die Gemeinde „die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“, der Kolosserbrief zeigt uns Christus als den, „in welchem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt.“

Dieser Unterschied steht im Zusammenhang mit dem Zustand, in dem diese zwei Versammlungen sich befanden. Die Heiligen in Ephesus wandelten in allem würdig dem Herrn, so dass sie in nichts zu tadeln waren. Darum konnte ihnen der Heilige Geist alle Ratschlüsse Gottes offenbaren und sie belehren über die geistlichen Segnungen, womit sie im Himmel in Christus gesegnet waren – Segnungen, welche ihnen infolge ihrer Vereinigung mit dem Haupt des Leibes geschenkt waren. Bei den Kolossern stand es anders. Sie waren von ihrer gesegneten Stellung in Christus abgewichen und hatten das Bewusstsein ihrer Einheit mit dem Haupt des Leibes verloren. Wohl kann diese Einheit, Gott sei gepriesen, nicht verloren gehen; aber wir können das Bewusstsein davon verlieren. Der Zustand der Christen in unsern Tagen liefert hiervon einen traurigen Beweis. Wie zu Kolossä haben auch unter uns Philosophie, jüdische und kirchliche Überlieferungen Eingang gefunden. Deshalb tut etwas anderes not als die Offenbarung der geistlichen Segnungen, die im Himmel in Christus unser Teil sind. Gott stellt uns die Herrlichkeit des Christus vor Augen. Das geschieht durch den Apostel im vorliegenden Brief. Er entwickelt all den Reichtum und die Vollkommenheit, die in Christus und Seinem Werk sind, um die gläubigen Kolosser aus ihrer geistlichen Ermattung und Erschlaffung aufzurütteln und ihnen zu ermöglichen, das Einssein mit Christus wieder zu genießen.

So wird auch hier wieder wahr, was wir schon so oft bemerkt haben, dass Gott alle Dinge, sogar die List des Feindes und die verkehrten Theorien der Irrlehrer denen zum Guten mitwirken lässt, die Ihn lieben. Wäre der Zustand der Versammlung in Kolossä anders gewesen, so müssten wir die wunderbare Beschreibung der Herrlichkeit der Person des Christus missen. Schon allein deswegen gibt uns dieser Brief reichlich Veranlassung zum Dank gegen Gott. Aber überdies kann dessen Inhalt nicht genug von uns überdacht und erforscht werden, weil die Christenheit beinahe alle Hauptgrundsätze, die in diesem Brief enthalten sind, vergessen hat. Möge der Herr unsere Augen öffnen und unser Herz erleuchten, damit wir Sein Wort verstehen lernen, schätzen und verwirklichen und so Sein Name, der in Ewigkeit zu preisen ist, verherrlicht werde.

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