Der Brief an die Galater
Einleitung
Das Evangelium Gottes entspricht voll und ganz den Bedürfnissen des Menschen. Der Feind ist jedoch zu allen Zeiten geschäftig, dasselbe zu verderben und das Christentum, das sowohl der Ausdruck des Herzens Gottes – eines heiligen Gottes, als auch die Offenbarung Seiner Liebe ist, in eine Religion zu verwandeln, wie sie das natürliche Herz begehrt. Das geschah auch in den Gemeinden (Versammlungen) von Galatien. Der Feind trachtete danach, das reine Evangelium unter menschliche Einrichtungen und menschliches Gesetz zu bringen und bereitete dadurch dem Apostel viel Leid und Schmerz. Im vorliegenden Brief finden wir daher keine Darstellung von der Lehre der Wahrheit wie im Römerbrief, sondern vielmehr die Verteidigung dieser Lehre, die von den Galatern bereits angenommen war, die aber der Teufel nun kraftlos zu machen suchte durch die Einführung des Gesetzes als Mittel zur Rechtfertigung. Der Heilige Geist ist darum durch den Apostel aufs Eifrigste bemüht, diese Absicht zu vereiteln. Er bekämpft in diesem Brief sowohl die jüdische Lehre, durch welche die Arbeit des Apostels gehemmt wurde, als auch die Angriffe, die man fortwährend gegen sein Apostelamt richtete, weil Paulus sich direkt auf die Macht des Heiligen Geistes und die unmittelbare Autorität des Christus berief. Um nun die Bemühungen dieser jüdischen Lehrer zu vereiteln, war es notwendig, die Grundsätze der Rechtfertigung aus Gnaden in helles Licht zu stellen.
Das Evangelium wird also hier auf seine einfachsten Grundzüge zurückgeführt und die Gnade auf die einfachste Art zur Darstellung gebracht. Doch im Hinblick auf die Irrlehre wird dieser Gegenstand sehr bestimmt behandelt und der unvereinbare Gegensatz zwischen Judentum und Christentum klar erkennbar aufgezeigt. So besitzen wir in diesem Brief eine für alle Zeiten gültige göttliche Unterweisung. Mit besonderer Deutlichkeit wird darin Folgendes dargestellt: der unmittelbare Ursprung des wahren Apostelamtes; die Unmöglichkeit, das Joch der Verordnungen, das Halten von besonderen Tagen usw. mit der heiligen und himmlischen Freiheit in dem auferstandenen Christus zu verbinden, kurz, die Unmöglichkeit, die Religion des Fleisches mit der Wirksamkeit des Geistes zu verschmelzen.
Wie in den andern Schriften des Apostels Paulus drückt sich der Charakter des ganzen Briefes schon in den ersten Versen aus. Im Vergleich mit den übrigen Briefen finden wir hier einen wichtigen Unterschied. Man fühlt, dass das Herz des Apostels voller Sorge und niedergeschlagen war. Der schlechte Wandel und die Verfehlungen der Korinther machten keinen solch peinlichen Eindruck auf ihn wie hier die Irrlehre. Darum ist der Ton dieses Briefes im ganzen kühl und von einer strengen Zurückhaltung, wie sie in keinem der andern Briefe zu finden ist; auch wird der Brief mit keinem einzigen Gruß abgeschlossen. Was war die Ursache? Die Galater waren in einen schlechten Zustand geraten, nicht so sehr durch Unkenntnis als vielmehr durch Untreue. Und das ist ein großer Unterschied. Gott ist sehr geduldig gegenüber bloßem Mangel an Licht; doch kann Er es unmöglich ertragen, wenn die Heiligen das empfangene Licht nicht schätzen.
Der Apostel hat uns nun in diesem Brief die Gedanken Gottes, die sein Herz so ganz erfüllten, mitgeteilt ohne die geringste Beimischung von irgend etwas Menschlichem oder Irrtümlichem. Aber nicht nur die Gedanken, auch die Gefühle Gottes hat er uns offenbart.
Der Mensch ist gegenüber sittlich Bösem, wenn die Rede ist von Ehebruch, Betrug, Trunkenheit oder sonst einer offenbaren Sünde, oft von unerbittlicher Strenge, während er bei Bösem in Bezug auf die Lehre ganz ruhig bleiben kann, obwohl dies in den Augen Gottes viel ärger ist. Die meisten ermangeln bei Unsittlichkeit nicht der Gefühle und des Urteils, da sie dadurch zum Teil selber angetastet werden; hingegen ist es in Dingen, die den Herrn antasten – in Dingen, welche die lautere Wahrheit entkräften und untergraben – fast immer nötig, sie mit Ernst zu ermahnen und ihnen den Irrtum im Licht Gottes eindringlich vor Augen zu stellen. Zudem sorgt Satan dafür, dass der Irrtum nicht klar und deutlich dargestellt, sondern stets mehr oder weniger mit der Wahrheit vermischt wird, um ihn für die Seele anziehend zu machen. Auf diese Weise verleitet er den Menschen, das Gute zu verwerfen und das Böse anzunehmen. Aber von Gott lernen wir, wie wir falsche und böse Lehren erkennen und beurteilen sollen.
Lasst uns z. B. den Brief an die Galater mit den Briefen an die Korinther vergleichen. Die Korinther befanden sich in einem schlechten sittlichen Zustand; allerlei Sünden offenbarten sich bei ihnen. Aber trotz allem Traurigen, das sich in ihrer Mitte befand, werden sie doch als die „Versammlung Gottes“ angeredet – als „die Geheiligten in Christus Jesus die berufenen Heiligen“ (1. Kor 1, 2). Paulus spricht zu ihnen von der Gnade Gottes, die sie in allem reich gemacht habe, und von der Treue Gottes, „durch welche sie in die Gemeinschaft Seines Sohnes, Jesus Christus, berufen worden sind“; und vor allem finden wir in den beiden Briefen an die Korinther überall Ausdrücke der Zuneigung und Liebe, wie wir im Galaterbrief nicht einen finden. Am Anfang des Briefes steht. „Paulus, Apostel ... und alle Brüder, die bei mir sind, den Versammlungen von Galatien Gnade euch“ usw. Nicht mit einem einzigen Wort wird gesagt, dass sie „in Christus Jesus“ oder „in Gott, dem Vater“ seien – kein Wort, dass sie „Geheiligte in Christus Jesus“ und gläubige Brüder sind. Paulus sagt nur das Mindeste, was man von Gläubigen in Christus hier auf Erden sagen kann. Er spricht von ihnen als von den Versammlungen in Galatien und bringt sie nicht in Gemeinschaft mit andern, sondern stellt sie, wie unartige Kinder, ganz allein. Er spricht nicht von den Heiligen im allgemeinen, sondern von den Brüdern, „die bei mir sind“, seinen Mitarbeitern im Dienst, die er bei seinem Schreiben an die Galater mit sich vereinigt, um sie fühlen zu lassen, dass sie den gemeinschaftlichen Glauben der Heiligen verlassen wollten.
Bevor wir zum Inhalt des Briefes selber übergehen, wollen wir noch eine kurze Übersicht über die einzelnen Kapitel geben.
- In Kapitel 1 verteidigt Paulus sein Apostelamt als von Gott gekommen und durch Gott übertragen, in Übereinstimmung mit seinem Evangelium, das er unter den Heiden verkündigt hat.
- Dann zeigt er in Kapitel 2 die Unmöglichkeit, Gesetz und Evangelium miteinander zu vereinigen.
- In der ersten Hälfte von Kapitel 3 (Verse 1–14) finden wir den Gegensatz zwischen Gesetz und Glauben; sodann werden von Vers 15–18 die verschiedenen Beziehungen zwischen Gesetz und Verheißung behandelt, und endlich wird von Vers 19 bis zum Schluss der Zweck des Gesetzes dargestellt.
- In Kapitel 4 zeigt der Apostel an erster Stelle, welches der Zustand der Gläubigen im Alten Bund war und wie sie durch Christus vom Gesetz freigemacht seien und den Geist der Annahme als Kinder empfangen hätten (Verse 1–11). Dann redet er von seinen eigenen Beziehungen zu den Heiligen in Galatien (Verse 12–20) und zeigt endlich an dem Beispiel von Hagar und Sara, dass das Gesetz zu Dienstbarkeit führt und von der Erbschaft ausschließt, während die Gnade Freiheit bringt und die Segnung schenkt (Verse 21–31).
- Kapitel 5 betrachtet die Freiheit unter zwei Gesichtspunkten. Sie ist erstens eine Frage der Rechtfertigung und führt zweitens zur praktischen Heiligkeit.
- Die erste Hälfte von Kapitel 6 enthält Ermahnungen, jene, die gesündigt haben, im Geist der Demut und Sanftmut zurechtzubringen, und die Mahnung, im Gutestun nicht nachzulassen (Verse 1–10). In der zweiten Hälfte kommt Paulus nochmals auf die zurück, die sich anmaßten, das Israel Gottes zu sein. Zum Schluss wünscht er dem wahren Israel Gottes Segen, indem er an seine Malzeichen für Christus erinnert (Verse 11–18).
Der Herr möge bei der Betrachtung dieses Briefes unsere Herzen durch Seinen Geist leiten und uns immer mehr befähigen, alles nach Seinen Gedanken zu beurteilen.