Der Prophet Daniel
Kapitel 1
Das Buch Daniel handelt von der Zeit, während der Gottes Volk aus seinem Land vertrieben und den Nationen unterworfen ist; es handelt auch von den Kriegen, die jene Mächte im Land Palästina führen, soweit sie das Volk der Juden betreffen.
Die Wegführung der Juden nach Babylon war die ergreifende Erfüllung der Prophezeiung Jesajas an Hiskia. Hiskia waren auf sein Gebet hin fünfzehn Lebensjahre hinzugefügt worden, aber anstatt in Dankbarkeit für die Verlängerung seines Lebens demütig vor Gott zu wandeln, fühlte er sich offensichtlich geschmeichelt durch den Besuch der Gesandten des Königs von Babel mit ihrem Geschenk. Er wurde dadurch verführt, ihnen in dem Hochmut seines Herzens allen Wohlstand zu zeigen, der sich in seiner ganzen Herrschaft vorfand. Als Folge davon wird ihm von Gott durch Jesaja angekündigt, dass alles, was diese Gesandten in seinem Haus gesehen hatten, nach Babel weggebracht werden würde, und zwar zugleich mit den königlichen Nachkommen, um seine Söhne im Palast des Königs von Babel zu Kämmerern zu machen. In Daniel 1 sehen wir, wie sich dies bis auf den letzten Buchstaben erfüllt.
Große Mächte in der Welt hatten um die Vorherrschaft gestritten, vor allem Ägypten und Assyrien. Beide waren von Gott zur Züchtigung seines Volkes benutzt worden. Assyrien war es gestattet worden, die zehn Stämme Israels in die Gefangenschaft zu führen, als Gott ihre bösen Wege nicht länger ertragen konnte; aber Juda war bis dahin von Gott noch als sein Volk anerkannt worden. Gottes Thron bestand noch in Jerusalem. Aber die Zeit kam, in der auch Juda und sein König dem wahren Gott den Rücken kehrten und sich dem Götzendienst ergaben. Da alle Warnungen und Gerichtsandrohungen unbeachtet blieben, konnte Gott seine Heiligkeit und Wahrheit nicht dadurch preisgeben, dass Er die Bosheit und den Götzendienst des Volkes und seiner gottlosen Könige noch länger duldete. Der Thron Gottes oder des HERRN, der in Jerusalem errichtet war, wurde ganz von der Erde weggenommen. Sowohl Juda als auch Israel wurden endgültig aus dem Land vertrieben, in das Gott sie einst gebracht hatte. Gott konnte sie äußerlich nicht länger als sein Volk anerkennen. Dies war durch den Propheten Hosea deutlich vorausgesagt worden. „Lo-Ammi, Nichtmein-Volk“ sollte fortan der Name des jüdischen Volkes sein, wie auch „Lo-Ruchama, Nicht-Begnadigte“, denn Gott konnte an dem Haus Israel nicht länger Gnade üben. Selbst nachdem dies für die zehn Stämme wahr geworden war, empfing Juda noch für eine Zeit Gnade von Gott und wurde von Ihm noch als sein Volk anerkannt, aber die Zeit kam heran, wo beide aufgegeben werden mussten. Gott herrschte noch über das Königtum der Menschen, aber mehr in dem Charakter des Gottes des Himmels und nicht als der Gott der ganzen Erde mit dem Sitz in Jerusalem. Jojakim war für eine kurze Zeit als König in Jerusalem gelassen worden, aber Nebukadnezar war sein Herr, denn der HERR hatte Jojakim in seine Hand gegeben. Ein Teil der Geräte des Hauses Gottes war nach Babel weggebracht worden mit einer Anzahl der Kinder Juda, einschließlich der königlichen Nachkommen und von den Vornehmen.
Unter diesen Vornehmen war Daniel, der Schreiber dieses Buches. Er war ein Zeitgenosse der Propheten Jeremia und Hesekiel und des Hohenpriesters Josua sowie von Esra und Serubbabel. Er war deutlich erkennbar der Prophet für die Zeiten der Nationen, der einen Überblick bekam über die ganze Zeit der Herrschaft der Nationen, beginnend mit der Wegführung der Juden unter Nebukadnezar bis zur Aufrichtung des Reiches Christi. Daniel wurde etwa acht Jahre vor Hesekiel weggeführt und blieb noch im Exil, auch als nach der Verordnung des Kores viele in das Land zurückkehrten; und wahrscheinlich ist er in Babel gestorben. Sicherlich hat er lange gelebt; das Buch Daniel berichtet über eine Zeit von etwa 73 Jahren. Der Name Daniel bedeutet: Gott ist Richter.
Im Buch Daniel finden wir, dass Gott sich an einen Einzelnen wendet und nicht an das Volk als solches. Gott spricht zunächst in einem Traum zu Nebukadnezar, obwohl Daniel von Gott gebraucht wird, den Traum zu wiederholen und zu deuten. Später empfing Daniel selbst Gesichte und zeigte ihre Deutung, aber wir finden keine direkte Botschaft an das Volk Gottes, denn sie hatten den ihnen bestimmten Platz verloren. Gott konnte sie äußerlich nicht länger als sein Volk betrachten. Er konnte nicht für sie eintreten, wie Er es zuvor getan hatte. Sicherlich waren immer treue Männer unter ihnen, deren Glauben Gott anerkannte und ehrte, wenn sie auch Gefangene in einem fremden Land waren.
Die Zeiten der Nationen begannen mit Nebukadnezar, als Gott ihn zum ersten Beherrscher der Welt bestimmte. Sie gehen bis zum Ende hin, wenn Christus sein Reich aufrichten wird, indem Er alle Königreiche der Welt zerstört. Daniel 1 ist in Wirklichkeit eine Einleitung zu diesem Buch, die Anlass zu den verschiedenen Prophezeiungen gibt, die darin enthalten sind. Wir sehen die Werkzeuge dargestellt, die von Gott bereitet und gebraucht werden, um diese wunderbaren Weissagungen auszusprechen.
Das Buch Daniel teilt sich deutlich erkennbar in zwei Teile. Der erste Teil endet mit Kapitel 6. In diesem Teil haben wir die äußere und allgemeine Geschichte der vier aufeinanderfolgenden Weltmächte mit den Kennzeichen, die sie tragen würden, sowie auch ihr Gericht bei dem Kommen Christi zur Aufrichtung seines Reiches auf der Erde. Die erste dieser Mächte hat ihre Macht von Gott selbst empfangen, die anderen erbten durch die göttliche Vorsehung das Reich, das Gott der ersten Macht anvertraut hatte.
Der zweite Teil des Buches enthält Mitteilungen, die Daniel persönlich von Gott empfing. Er stellt den Charakter der heidnischen Weltbeherrscher in Verbindung mit der Erde zur Schau sowie ihr Betragen gegen solche, die Gott anerkannten. Danach finden wir die Errichtung des Reiches des Sohnes des Menschen, und zwar in Verbindung mit irdischen Heiligen Gottes. Hierin besteht aber auch eine himmlische Seite, an der wir Anteil haben werden, wenn wir mit Christus über die Erde herrschen.
Der prophetische Teil des Buches Daniel beginnt mit Kapitel 2. Dann folgen geschichtliche Ereignisse, die aber deutlich in enger Verbindung mit den in diesem Buch enthaltenen Prophezeiungen stehen. Man kann sie als Sinnbilder betrachten, doch werden in ihnen klar die sittlichen Grundsätze gezeigt, die diese Mächte kennzeichnen.
Wir sehen zuerst, dass Aschpenas, der Oberste der Kämmerer, von dem König Befehl erhält, junge Männer zu bringen aus den Kindern Israel, von königlichen Nachkommen und von den Vornehmen. Sie sollten schön von Ansehen, einsichtsvoll in Weisheit, kenntnisreich und mit Einsicht begabt sein sowie tüchtig, um im Palast des Königs zu stehen. Aber selbst dies war noch nicht genügend, sondern sie mussten auch die Schriften und die Sprache der Chaldäer lernen. Wie einst Mose in aller Weisheit der Ägypter unterwiesen wurde, so sollten diese jungen Männer in aller Weisheit Babels unterrichtet werden. Es wurde auch Vorsorge für sie getroffen, dass sie von der Tafelkost des Königs essen und von dem Wein trinken sollten, den er trank, und zwar für drei Jahre. Am Ende dieser Zeit sollten sie vor dem König stehen.
Dann werden uns vier junge Männer vorgestellt, die von Gott dazu bestimmt waren, inmitten der Finsternis als Lichter zu leuchten. Es mag die Absicht des Königs gewesen sein, ihrem Gedächtnis den Namen des HERRN, des wahren Gottes, zu entfremden, indem er ihnen Namen gab, die von den Götzen Babels abgeleitet waren. Sie ordneten sich hier unter, obwohl es ihnen Schmerz und Kummer des Herzens verursacht haben muss, solche Namen zu tragen, aber sie waren nun einmal Sklaven. Ihre Herren konnten sie nennen, wie sie wollten.
Wenn sie dagegen zu Dingen aufgefordert wurden, durch die sie ihren Gott verunehrt haben würden, so zeigten sie sich unerschütterlich. Wahrscheinlich war Daniel hierin der Anführer, aber er handelte sichtlich in Übereinstimmung mit seinen Mitgenossen. Sein Herz war ehrlich in den Augen Gottes, und dies bewirkte in ihm einen aufrichtigen Herzensentschluss, für das einzustehen, was er Gott schuldig zu sein glaubte. „Gib mir, mein Sohn, dein Herz“, hat Gott empfohlen; und wenn es um die Zuneigungen des Herzens richtig steht, wird man auf der einen Seite Gott die Ehre geben, auf der anderen aber auch von Ihm geehrt werden. Manche mögen geurteilt haben, dass sie die Gaben des Königs mit Dankbarkeit hätten annehmen sollen, und sogar noch mehr: dass sie sie als ein Zeichen der Gunst Gottes gegen sie hätten sehen sollen. Aber der gottesfürchtige Jude hatte die Furcht Gottes vor Augen, und wer im Gehorsam zu Gottes Wort handelte, dessen Weg sollte gesegnet sein, auch wenn er in der Gefahr stand, den König zu beleidigen. Die Leckerbissen des Königs waren mit der Anbetung der Götzen verbunden, und das machte sie in den Augen eines gottesfürchtigen Juden abscheulich. Nein, sie wollten lieber das Teil eines Sklaven verbunden mit der Anerkennung Gottes besitzen, als die reichsten Vergünstigungen der Welt ohne das Wohlgefallen Gottes genießen.
Wie sichtbar ehrt Gott ihren Glauben! Er hatte schon gewirkt, indem Er Daniel die Gunst und die Zuneigung des Obersten der Kämmerer zugewandt hatte. Gott hatte in ähnlicher Weise auch in dem Obersten der Feste gewirkt, in dessen Hand Joseph einst gegeben wurde. So tut Er es auch hier, denn Er hat die Herzen aller Menschen in seinen Händen. Daniels Glaube wurde auf die Probe gestellt, und Gott ehrte ihn, denn als die zehn Tage der Probe vorüber waren, zeigte sich, dass ihr Aussehen besser und kräftiger war als das aller jungen Männer, die die Tafelkost des Königs aßen. So blieben sie vor weiteren Schwierigkeiten in dieser Sache verschont.
Gott bereitete auch seine Knechte auf ihre große Lebensarbeit vor und gab ihnen Kenntnis und Einsicht in aller Schrift und Weisheit. Daniel scheint sich in besonderer Weise ausgezeichnet zu haben, denn ihm wurde die Gabe gegeben, alle Gesichte und Träume zu verstehen. Gott war ihr Lehrer, und mit zubereiteten Herzen waren sie imstande, aus allen Prüfungen, die sie zu durchschreiten hatten, Nutzen zu ziehen.
Wo eine Vermischung mit der Welt ist, einer Welt, die im Bösen liegt und sich daher in Finsternis befindet, wird das Licht verfinstert werden. Andererseits wird der ganze Leib licht sein, wo praktische Absonderung von der Welt und ihren schlechten Grundsätzen gefunden wird; dies wird sich auch anderen gegenüber deutlich zeigen.
Wie kam es, dass der König sie allen Schriftgelehrten und Beschwörern zehnmal überlegen fand, die in seinem ganzen Königreich waren? Daniel war abgesondert von Dingen, durch die er, als ein Jude, Gott verunehrt haben würde, und Gott belohnte die Treue seines Knechtes reichlich, indem Er ihn mit Weisheit und Verständnis segnete.
In Vers 21 lesen wir, dass Daniel bis zum ersten Jahr des Königs Kores blieb. Das war das Jahr, in dem viele Juden die Erlaubnis erhielten, nach Jerusalem und in ihr eigenes Land zurückzukehren. Daniel blieb in Babel und genoss dort weiter das Wohlgefallen Gottes, denn er empfing im dritten Jahr des Kores eine weitere Offenbarung.