Einführender Vortrag zum Jakobusbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Jakobusbrief

Einleitung

Für einen Leser, der von den Briefen des Paulus her kommt und sich mit dem Jakobusbrief beschäftigt, muß der Unterschied tief und überraschend sein, um so mehr nach dem Hebräerbrief, der entsprechend der Anordnung in unseren Bibeln dem Jakobusbrief unmittelbar vorausgeht. Der Hauptgegenstand des Hebräerbriefs war, den Bruch mit den alten Beziehungen bei solchen Christen, die früher Juden waren, abschließend zu vollenden und letztere endgültig aus allen irdischen Verbindungen in ihre himmlische Gemeinschaft mit Christus zu führen.

Das ist nicht so, wenn wir von der Apostelgeschichte her in den Jakobusbrief eintreten. Gerade so ist aber die Reihenfolge in den meisten alten Autoritäten und einigen Bibelversionen, die ihnen folgen. Diese „allgemeinen Briefe“ 1, wie sie genannt werden, befinden sich dort nicht hinter den Paulusbriefen, sondern vor ihnen. Daher ist in solchen Bibeln der Einschnitt keineswegs so auffällig, sondern erscheint im Gegenteil ganz natürlich und leicht verstehbar; denn der Jakobusbrief stimmt mit dem Zustand in den Versammlungen von Judäa und besonders in Jerusalem überein. Die Gläubigen eiferten für das Gesetz. Sie gingen zur Stunde des Gebets zum Tempel hinauf. Dabei handelte es sich nicht nur um einfache Israeliten. Wir lesen an einer Stelle von einer großen Menge Priester, die dem Glauben gehorsam wurden (Apostelgeschichte 6,7). Es gibt keinen Grund für die Annahme, daß sie sowohl Opfer als auch ihren priesterlichen Dienst aufgaben. Das hört sich für uns fremdartig an, weil die Menschen stets von ihrem eigenen augenblicklichen Zustand aus die Dinge betrachten und beurteilen. Doch unmöglich können wir die Schriften anders verstehen. Wir müssen das annehmen, was uns die Bibel gibt, und auf diese Weise nach einem richtigen Urteil vor Gott suchen.

Es ist völlig eindeutig aus dem ersten Abschnitt der Apostelgeschichte zu ersehen, daß die frühen Christen der Versammlung in Jerusalem in großem Maß und entschieden an dem Wesen nach Jüdischem festhielten; und das wird auch bestätigt durch die letzten Ausblicke, welche der Heilige Geist auf die dortigen Christen gibt. Sie gebrauchten den Glauben Christi vor allem für ein gewissenhaftes und frommes Leben, wie es ihren jüdischen Gedanken entsprach. Was die Menschen auch darüber sagen oder denken mögen - es kann nicht geleugnet werden. Was wußten sie schon von ihrem eigenen besonderen Platz als Christen, den sie früher niemals eingenommen hatten und auf den sie unter der eifrigen Wachsamkeit des Heiligen Geistes noch nicht geführt worden waren? Auf jeden Fall gibt es keine Frage, daß die Tatsachen, welche uns die Heilige Schrift hinsichtlich der Versammlung in Jerusalem vorstellt, so waren, wie ich sie zu beschreiben versuchte.

Ferner, der Brief des Jakobus war nicht einfach an die Versammlung in Jerusalem gerichtet, sondern an die zwölf Stämme, die in der Zerstreuung sind. Das bereitet uns auf eine größere Reichweite vor. Sie umfaßt nicht allein die christlichen Juden. Die Israeliten im allgemeinen werden ebenfalls angesprochen, und zwar wo immer sie sein mögen - nicht nur im Land, sondern auch außerhalb desselben - „in der Zerstreuung.“  So wird gesagt: „Den zwölf Stämmen, die in der Zerstreuung sind.“  (V. 1). Kurz gesagt ist offensichtlich, daß unter den inspirierten Briefen Jakobus Anrede einen ganz besonderen und außergewöhnlichen Platz einnimmt. Wo dieses nicht berücksichtigt wird, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß die Menschen den Jakobusbrief falsch verstanden haben. Wir wissen alle, daß der große Reformator Luther diesen Teil des Wortes Gottes mit unverdientem Mißtrauen, ja, sogar Geringschätzung behandelt hat. Ich bin jedoch überzeugt, daß kein Mensch auf den Jakobusbrief verzichten kann außer zu seinem großen Nachteil. Dabei spreche ich nicht einfach von einer Verachtung desselben. Es wäre für Luther nicht zum Schaden gewesen, im Gegenteil, wenn er diese Schrift des Jakobus richtig verstanden hätte. Er benötigte sie in vieler Hinsicht - und so auch wir. Es handelt sich daher um eine bejammernswerte Täuschung, wenn eine Seele ihren eigenen subjektiven Gedanken erlaubt, sie bei der Ablehnung dieses oder eines anderen Teils des Wortes Gottes zu beherrschen; denn jedes nimmt seinen wichtigen Platz ein und erfüllt einen besonderen Zweck. Ist es zuviel verlangt, wenn wir fordern, daß ein Dokument entsprechend seiner ausdrücklichen und offensichtlichen Abfassungsabsicht beurteilt werden muß? Sicherlich dürfen wir nicht Paulus' Thema nehmen, um anhand desselben Jakobus auszulegen. Was könnte gegensätzlicher sein! Dabei spreche ich nicht davon, auf diese Weise zu begutachten, was beansprucht inspiriert zu sein. Es gilt sogar in Bezug auf den ganzen Inhalt der Bibel und seine Unterschiede. Gerade in dieser Hinsicht sind die Menschen oft gestolpert und gestürzt über diesen - um nur wenig zu sagen - kostbaren und gewinnbringenden, und vor allem in praktischer Hinsicht gewinnbringenden Teil des Wortes Gottes.

Gleichzeitig müssen wir den Jakobusbrief so lesen, wie er ist oder vielmehr wie Gott ihn geschrieben hat; und Gott hat ihn jenseits jedes Zweifels nicht einfach an christliche Juden oder Juden überhaupt, sondern an die zwölf Stämme in der Zerstreuung gerichtet. Er umfaßt natürlich diejenigen unter ihnen, die Christen geworden sind, und gibt jenen, die den Glauben Jesu haben, den wahren und richtigen Platz. Es ist jedoch ein Irrtum anzunehmen, daß niemand sonst gemeint sei. Die Menschen treten an ihn heran mit dem Gedanken, daß alle Briefe [der Bibel, Übs.] an Christen adressiert seien. Doch das ist einfach falsch. Wenn du mit dieser oder irgendeiner anderen vorgefaßten Meinung an das Wort Gottes herangehst, darfst du dich nicht wundern, wenn du dich außerhalb der göttlichen und heiligen Reichweite Seines Wortes wiederfindest; denn Gott steht immer über uns; und Er ist unendlich weise. Unsere Aufgabe ist, das zu sammeln, was Er uns lehren will. Es gibt keine ergiebigere Quelle des Irrtums als ein derartig leichtfertiger Umgang mit dem Wort. Kein Wunder also, wenn sich Personen mit solchen voreingenommen Gedanken dem Wort Gottes nähern, indem sie Bestätigung derselben erhoffen, anstatt Gottes Gedanken, die Er geoffenbart hat, erkennen zu wollen - kein Wunder also, wenn sie enttäuscht werden. Das Unheil liegt offensichtlich in ihnen selbst und nicht im göttlichen Wort. Laßt uns mit viel Gebet danach trachten, diesen Fallstrick zu vermeiden! Jakobus schreibt also in dieser zweifachen Weise.

Kapitel 1

Er spricht von sich als „Knecht Gottes.“  Sicherlich liegt darin eine breit angelegte Grundlage, die sogar ein Jude achten würde. Auf der anderen Seite fügt er zu „Knecht Gottes“  die Worte „und des Herrn Jesus Christus“ hinzu. Hier würde sofort ein Zwiespalt der Gefühle unter den Juden aufspringen. Die überwiegende Menge der Israeliten würde natürlich einen solchen Dienst ganz und gar ablehnen; aber Jakobus schreibt von beiden. Beachten wir auch, daß er nicht von sich als dem Bruder des Herrn spricht, obwohl er es war und er im Brief an die Galater „Bruder des Herrn“  genannt wird! (Galater 1, 19). Es scheint mir nicht nötig zu sein, darauf hinzuweisen, daß der Jakobus, der diesen Brief schrieb, nicht der Sohn des Zebedäus war; denn dieser war lange, bevor der Brief geschrieben wurde, der Gewalt Herodes Agrippas zum Opfer gefallen - d. h. zu einer sehr frühen Zeit. Ich zweifle nicht, daß der Schreiber derjenige ist, welcher „Jakobus, der Gerechte“ 2 und „Bruder des Herrn“  genannt wird. Doch mit welcher Angemessenheit und einer Schönheit, die wir gut bedenken und von der wir lernen sollten, vermeidet er hier von sich als des Herrn Bruder zu sprechen! Es war durchaus berechtigt, wenn andere ihn so bezeichneten. Er selbst hingegen nennt sich nicht nur „Knecht Gottes“, sondern auch „und des Herrn Jesus Christus.“

Wie wir gesehen haben, schreibt er an die zwölf Stämme in der Zerstreuung und sendet ihnen seinen Gruß. Es handelt sich nicht um jene Anrede, welche uns in den Briefen des Paulus und der anderen Apostel so vertraut geworden ist. Sie entspricht vielmehr genau der Form der Anrede jenes berühmten Briefes der Apostel und Ältesten in Apostelgeschichte 15 an die nichtjüdischen Versammlungen, in welchem sie letztere vor dem Anhangen an der Gesetzlichkeit warnten; und da unser Jakobus die Person ist, welche damals ihr Urteil abgab, scheint es nicht unwichtig zu sein, wenn wir die Verbindung zwischen dem Schreiben zur damaligen Zeit und unserem Brief betrachten.

Der Geist Gottes möchte hier eine letzte Aufforderung durch den Mann, der zu Jerusalem eine herausragende Stellung einnahm, an die gesamte israelitische Körperschaft, wo immer sich Juden befanden, geben. Das liegt offen zu Tage. Das ist keine menschliche Meinung, sondern was Gott sagt. Es wird uns ausdrücklich mitgeteilt. Auseinandersetzungen sind hier völlig unangebracht - oder sollten es jedenfalls sein. Der Apostel Jakobus selbst ist es, der uns wissen läßt, daß dieses der Zweck seines Schreibens ist. Folglich zeugt der ganze Brief davon. Zweifellos ist er außergewöhnlich im Neuen Testament, indessen nicht mehr als das Buch Jona im Alten Bund. Als ganzes gesehen bemerken wir, daß die Propheten sich an das Volk Israel wenden. Jonas besondere Mission bezog sich indessen auf Ninive, der berühmtesten heidnischen Stadt jener Tage. So wie die hebräischen Schriften nicht ohne diese Ausnahme sind, so gibt es auch im Neuen Testament eine Ausnahme. Was könnte uns besser von der Enge des menschlichen Geistes überzeugen, der alles mit seinen eigenen Vorstellungen völlig übereinstimmend haben möchte? Als Ganzes richtet sich das Neue Testament an die christliche Körperschaft; Jakobus hingegen nicht. Das heißt: Im Alten Testament haben wir als Ausnahme einen Appell an die Heiden, im Neuen Testament einen ähnlichen an die Juden. Ist alles dieses nicht richtig? Auch wenn es sonst die größt-möglichen Unterschiede gibt, bemerken wir doch überall dieselben göttlichen Gedanken - Gedanken, welche die Engherzigkeit des Menschen übersteigt. Laßt uns diese Wahrheit festhalten! Wir werden sie überall nützlich finden, so auch in dem Wort, das wir jetzt lesen.

„Achtet es für lauter Freude, meine Brüder“, schreibt er, „wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet, da ihr wisset, daß die Bewährung eures Glaubens Ausharren bewirkt. Das Ausharren aber habe ein vollkommenes Werk, auf daß ihr vollkommen und vollendet seid und in nichts Mangel habt.“  (V. 2-4). Damit wird sofort klar, daß wir uns auf praktischem Boden befinden - die Entfaltung der Frömmigkeit sowohl gegen den Menschen als auch gegen Gott. Darauf legt der Heilige Geist als allererste Anordnung des Briefes Seinen Nachdruck. „Achtet es für lauter Freude ..., wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet.“  Versuchungen, Prüfungen (denn der Schreiber bezieht sich offensichtlich auf äußere Schwierigkeiten) sind in keiner Weise so abscheulich, wie der Unglaube sie sieht; denn wir sind „dazu gesetzt“, wie der Apostel Paulus sagt (1. Thessalonicher 3,3). Die Israeliten fanden diese Worte zweifellos hart, doch der Heilige Geist läßt sich hier dazu herab, sie zu belehren. Sie sollten ihre Prüfungen und Kümmernisse nicht zählen. „Achtet es für lauter Freude ..., wenn ihr in mancherlei Versuchungen fallet.“  Der Grund liegt darin, daß Gott dieselben für sittliche Zwecke nutzt. Er beschäftigt sich mit der menschlichen Natur, welche sich Seinem Willen widersetzt. Da ihr wisset, daß die Bewährung eures Glaubens Ausharren [oder Geduld] bewirkt. Das Ausharren aber habe ein vollkommenes Werk, auf daß ihr vollkommen und vollendet seid und in nichts Mangel habt.“

Wie wird dieses bewirkt? - Hier wird ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt des Briefes eingeführt. Es geht nicht allein um Versuchungen, die über den Gläubigen hienieden kommen. Selbstverständlich spricht der Schreiber seine Brüder in Christo in dieser Stellung an. Er blickt nicht einfach auf die ganzen zwölf Stämme, sondern auch auf die Gläubigen. So sagt er am Anfang des nächsten Kapitels: „Meine Brüder, habet den Glauben unseres Herrn Jesus Christus, des Herrn der Herrlichkeit, nicht mit Ansehen der Person.“  So geht es hier wohl eindeutig um Menschen, die fähig sind, das Geistliche zu verstehen. „Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott.“ (V. 5).

Das sind die beiden wichtigsten Punkte, auf die in praktischer Hinsicht in diesem Brief überall der Nachdruck gelegt wird. Der eine besteht darin, sich nicht allein des Angenehmen zu erfreuen, sondern auch des Rauhen und Schweren, das Gott uns zum Guten sendet, um Nutzen daraus zu ziehen. Die Segnung liegt jetzt nicht in Wohlbefinden und Ehre. Im Gegenteil, wir sollen die Versuchung für Freude achten, indem wir das Schmerzliche von Gott annehmen in dem Bewußtsein, daß Er keine Fehler macht und daß alles von Ihm so geordnet ist, daß Sein Volk vollkommen gesegnet wird. Dieses führt uns zu dem Empfinden, wie sehr wir Weisheit von Gott benötigen, um verständnisvoll und glücklich aus diesen Versuchungen Nutzen zu ziehen; denn, wie wir wissen, gehört die Segnung aus allen Versuchungen „denen, die durch sie geübt sind.“ (Hebräer 12,11). Um dieses erkennen zu können, benötigen wir Weisheit. Das führt der Schreiber mit den Worten ein: „Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt ...“  Es besteht demnach ein Bedürfnis nach Abhängigkeit von Gott, ein Geist gewohnheitsmäßigen Wartens auf Ihn. Wir sollen uns Ihm beugen, kurz gesagt, gehorsam sein. „Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft.“  Wir werden bald sehen, woher diese kommt. An dieser Stelle geht es mehr um eine allgemeine Ermahnung.

„Er bitte aber im Glauben“, sagt Jakobus, „ohne irgend zu zweifeln; denn der Zweifelnde ist gleich einer Meereswoge, die vom Winde bewegt und hin und her getrieben wird. Denn jener Mensch denke nicht, daß er etwas von dem Herrn empfangen werde; er ist ein wankelmütiger Mann, unstet  in  allen  seinen  Wegen.“  (V. 6-8).  Auf diese Weise zeigt Jakobus, daß Glauben Vertrauen auf Gott voraussetzt und daß diese zweifelnde Gesinnung, dieses Zögern hinsichtlich Gottes, tatsächlich nichts anderes als Unglauben ist. Folglich ist sie geradezu eine praktische Verleugnung deiner Haltung, welche du im Gebet zu Gott einnimmst. Sie bedeutet eigentlich, daß du nicht weißt, was du willst. Du gibst vor, Gott zu bitten, während du in Wirklichkeit gar kein Vertrauen auf Ihn hast. Ein solcher sollte nicht erwarten, vom Herrn etwas zu empfangen.

Als Nächstes geht der Schreiber weiter, indem er auch zeigt, wie dieses praktisch geschehen kann. „Der niedrige Bruder aber rühme sich seiner Hoheit, der reiche aber seiner Erniedrigung [so sind die Wege Gottes]; denn wie des Grases Blume wird er vergehen.“ (V. 9-10). Alles, was auf einem rein zeitweiligen Gefüge von Umständen beruht, ist der Verderbnis verfallen und gehört keineswegs zur Natur Gottes, wie sie in Wahrheit und Gnade durch den Sohn Gottes geoffenbart worden ist. Darum kehrt Gott alle Beurteilungen der Welt in diesen Angelegenheiten in ihr Gegenteil um: „Der niedrige Bruder aber rühme sich seiner Hoheit, der reiche aber seiner Erniedrigung.“  Dafür wird auch ein Grund angegeben: „Denn wie des Grases Blume [das spricht nur von der Natur] wird er vergehen. Denn die Sonne ist aufgegangen mit ihrer Glut und hat das Gras gedörrt, und seine Blume ist abgefallen, und die Zierde seines Ansehens ist verdorben; also wird auch der Reiche in seinen Wegen verwelken.“

Auf der anderen Seite können und sollen wir „glückselig“ sein. Darin erkennen wir den vollständigen Gegensatz und den Grund, warum alle diese Gedanken eingeführt werden; denn es liegt eine vollkommene Kette des Zusammenhangs in diesen Versen, so wenig sie auf dem ersten Blick auch auffällt. „Glückselig der Mann, der die Versuchung erduldet!“ (V. 12). Das steht im Gegensatz zur Wankelmütigkeit des Unglaubens, die wir schon gesehen haben, oder der einfachen Abhängigkeit von natürlichen Hilfsquellen, die als nächstes erprobt werden. Der Mensch, der die Versuchung erduldet, sie annimmt und für Freude achtet, ist glückselig; „denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche er denen verheißen hat, die ihn lieben.“

Das führt zu einer anderen Art von Versuchung, die im innerlichen und nicht im äußeren Bösen besteht. Es gibt genauso eine Versuchung, die vom Teufel kommt, wie die von Gott, welche für den Menschen gut ist. Das heißt: Es gibt eine Versuchung des Glaubens und eine Versuchung des Fleisches.

Offensichtlich ist die Versuchung des Glaubens sowohl kostbar als auch nützlich; und bisher hat Jakobus ausschließlich von diesem Thema gesprochen. Jetzt wendet er sich davon ab, um das andere zu berücksichtigen. Das sollten wir besonders gut erwägen, weil hier, soweit ich weiß, die einzige Bibelstelle ist, wo diese Versuchung ausdrücklich vorgestellt wird. Versuchungen sprechen anderswo von Prüfungen und nicht von inneren Verlockungen des Bösen. Sie beziehen sich dort nicht auf die böse Natur und stehen auch nicht mit ihr in Verbindung. Im Gegenteil sind sie der Weg, auf dem der Herr aus Seiner Liebe heraus jene erprobt, auf die Er vertraut. Er wirkt in Hinsicht auf größere Segnungen für solche, die Er schon gesegnet hat. In unserem Vers finden wir indessen die Art von Versuchung, welche dem allgemeinen Verständnis des Wortes entspricht. Ach, gerade die Tatsache, daß diese Vorstellung die allgemein verbreitete ist, zeigt, wo sich die Menschen normalerweise befinden - wie wenig sie mit Gott in Übereinstimmung sind und wie viel mit der Welt! „Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht.“ (V. 13). Jetzt wird ein weiteres Kennzeichen berührt. „Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, und selbst versucht er niemand. Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und gelockt wird.“

So ist Gott also nicht nur Selbst unzugänglich für das Böse, sondern Er versucht auch niemals zu irgendeiner Zeit zum Bösen. Ein solcher Gedanke ist dem Herzen Gottes fremd. Er bewegt sich uneingeschränkt über dem Bösen. Das ist die Grundlage des Segens für jedes Kind Gottes, welchen Er in Kürze offen zeigen wird, sobald Er mit dem Bösen als Erscheinung, welches durch die menschliche Natur aufgekommen ist, abgeschlossen hat. Das Böse kommt aus dem Menschen selbst; denn der Schreiber sagt: „Jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust fortgezogen und gelockt wird. Danach, wenn die Lust empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod.“ (V. 14-15). Das ist nicht die Art, wie der Apostel Paulus dieses Thema behandelt. Dennoch gibt es nicht den geringsten Widerspruch zwischen ihm und Jakobus. Sie stimmen vollkommen harmonisch überein. Es handelt sich indessen um unterschiedliche Blicke auf den Gegenstand; und der Grund dafür ist offensichtlich, weil der Apostel in Römer 7, das ist der Bibelabschnitt, auf den ich mich beziehe, nicht das Verhalten, sondern die Natur betrachtet. Nun, wenn du die menschliche Natur anschaust, ist klar, daß zuerst die Sünde da ist. Infolge der Sünde, welche in der Natur wohnt, entstehen Lüste als Wirkungen derselben. Jakobus blickt auf die Sünde in unserem Verhalten [d. h. ein Ausleben der Sünde; Übs.]. Daher muß im Inneren das Böse wirken, worauf der äußere Akt des Sündigens folgt. Demnach erkennen wir in diesen Auseinandersetzungen [hinsichtlich eines vermeintlichen Widerspruchs zwischen Paulus und Jakobus; Übs.], daß diese ausschließlich, um nicht zu viel zu sagen, auf großen Mangel an Einsicht und auf Trägheit zurückzuführen sind. Dieser Standpunkt ist unwürdig - nein, durchaus passend! - für jede Person, welche sich zum Richter über das Wort Gottes aufschwingt (eine schandbare Stellung für ein Geschöpf) - für einen Menschen - und vor allem für einen Christen. Hier, wie bei jeder anderen betroffenen Bibelstelle, zeigt sich die Blindheit und Unwissenheit derjenigen, welche einen Teil der Schrift gegen einen anderen ausspielen.

Dazu mag vielleicht jemand fragen: „Gibt es für dich nirgendwo Schwierigkeiten?“ - Selbstverständlich! - Doch welchen Platz sollte jeder einnehmen, der eine Schwierigkeit im Wort Gottes findet? - Warte auf Gott! Versuche nicht, selbst Schwierigkeiten zu lösen, sondern nimm die Haltung der Abhängigkeit ein! Erbitte Weisheit, und zwar von Gott, der freigiebig mitteilt und nichts vorwirft! Er wird sicherlich Klarheit in allem, was Seine eigene Herrlichkeit betrifft, schenken. Es gibt keinen Menschen mit einer geübten Seele in diesem Gebäude 3 oder sonstwo, der nicht die Wahrheit von dem, was ich jetzt sage, erprobt hat. Es gibt nicht  einen Menschen, welcher in einem gewissen Grad zu einem Verständnis der Wege Gottes geführt worden ist, der nicht erfahren hat, daß gerade jene Bibelabschnitte, die ihm einst so schwierig erschienen, solange er sie nicht verstand, später ein Mittel waren, seiner Seele sehr viel Licht mitzuteilen. Darum gilt: Eile bei der Lösung solcher Schwierigkeiten hat zur Folge, daß wir in Wirklichkeit und in der Praxis entweder Fehler bei Gott oder in Seinem Wort vorzufinden meinen. Sein Wort ist nämlich tiefgründiger als wir; und Gott selbst gibt einem Säugling nicht die Erkenntnis, die erst für einen Erwachsenen geeignet ist. Andere Erwartungen sind offensichtlich Torheit. Unsere Eile verhindert Segen und Wachstum. Demnach ist nichts einfacher als der Rat, den der Apostel hier [in Vers 5] niederschreibt und uns empfiehlt - und nichts für uns gewisser.

Jetzt kommen wir zu der anderen Seite. „Irret euch nicht, meine geliebten Brüder! Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab.“ (V. 16-17). Wir sahen, wie das Böse bis zu seiner Quelle zurückverfolgt wurde, nämlich bis zur gefallenen Natur des Menschen, worauf zweifellos Satan einwirkt. Dabei wird allerdings der Feind hier nicht ausdrücklich erwähnt. Auch diesen werden wir bald finden (in Kapitel 4). Hier blickt der Schreiber ausschließlich auf die menschliche Natur, um dann seine Augen zu Gott zu erheben. „Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, von dem Vater der Lichter, bei welchem keine Veränderung ist, noch eines Wechsels Schatten.“  Der erste Punkt des Heiligen Geistes besteht an dieser Stelle darin, Gott um jeden Preis zu verteidigen, und zwar völlig unabhängig von uns. So wie das Böse von uns kommt, so alles Gute von Gott. Er ist nicht allein die Quelle alles Guten - „jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk“  kommen von Gott. Das spricht sowohl von der Art und Weise des Gebens als auch von dem Geschenk, das gegeben wird. Außerdem gibt es in Gott keine Veränderung, während das Geschöpf sogar in seinem besten Zustand durch ständige Veränderungen gekennzeichnet ist.

So wird also in diesen Versen die sittliche Herrlichkeit Gottes in vollkommenster Weise verteidigt im Gegensatz zum Menschen in seiner Schwachheit, seinem Ruin und seinem Bösen. Aber der Schreiber geht weiter und besteht - und zwar in bewunderungswürdiger Weise - auf die Wahrheit von der unumschränkten Tätigkeit der Gnade. Diese hatte er schon früher für Gott geltend gemacht. Jetzt sehen wir indessen, wie sie für uns angewandt wird. Gott ist nicht allein gut, sondern auch ein Geber - ein Geber von nichts als Gutem und von allem Guten. Fleckenlos in Seiner Heiligkeit und unveränderlich in Seinem Licht wirkt Gott in Seiner Liebe; und als Frucht dieser tatkräftigen, unumschränkten Liebe schenkt Er nicht nur Segen, so lieblich diese Handlung von Seiner Seite auch ist. Segen reicht in keinster Weise an das heran, was wir jetzt im Christentum kennen - bleibt sogar hinter dem zurück, was Jakobus in diesem sehr weitgespannten und umfassenden Brief behandelt. An dem kommenden strahlenden Tag wird Gott die Schöpfung segnen. An dem dunklen Tag, den der Mensch „Heute“ nennt, handelt Gott mehr als im Segnen - weit, weit mehr - dem Gläubigen gegenüber. Wir sind aus Ihm geboren. Er teilt Seine Natur dem Gläubigen mit. Er handelt so, ohne daß jemand danach verlangt hätte - und mit Gewißheit unverdient. Unverdient! Es gab ja nichts als nur Böses. Das wurde gerade vorher gezeigt. Aus der menschlichen Natur als einem gefallenen Geschöpf kam nichts Gutes. Alles Gute kommt  ausschließlich von Gott.

Folglich - laßt es mich wiederholen! - sehen wir hier nicht allein das Gute, sondern auch eine Mitteilung von Gottes eigener geistlicher Natur. So handelt Er durch das Wort der Wahrheit. Die Heilige Schrift ist der Mittler. Demnach wird uns an dieser Stelle die Offenbarung Seiner Selbst, durch welche Er an den Seelen wirkt, vorgestellt und außerdem Sein eigener unumschränkter Wille als Quelle dieser Handlung. „Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, auf daß wir eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien.“ (V. 18). Er beabsichtigt, die Segnung bald in Fülle einzuführen. Das wird, soweit Herrschaft betroffen ist, im Tausendjährigen Reich geschehen. Da es dann jedoch nur um Herrschaft geht, muß das Böse weiterhin kontrolliert und zu Seiner Herrlichkeit unterdrückt werden. Dieser Zustand kann in keiner  Weise Gottes Natur zufrieden stellen; daher offenbart uns die Schrift, daß zudem eine Zeit kommen wird, in der alles Gott völlig entspricht. Dann erscheint im vollsten Sinn Seine Ruhe. Jede Frage in Hinsicht auf Sein Wirken und die Verantwortlichkeit des Menschen wird zum Ende gelangt sein. Wenn Er dieses Ziel erreicht hat, sollen auch wir in Seine Ruhe eingehen. Dann werden wir nicht nur die Erstlingsfrucht Seiner Geschöpfe sein, sondern auch in der Ruhe und Herrlichkeit weilen, die dem neuen Himmel und der neuen Erde entsprechen, in denen Gerechtigkeit wohnt.

In der Zwischenzeit besitzen wir, die auf diese Weise gezeugt worden sind, die Erstlingsfrucht, jene wunderbare Segnung, welche hier vorgestellt wird. Es geht nicht allein darum, daß wir die Gegenstände dieser Segnung sind. Ach, wie oft wurde eine Segnung gegeben und wie oft wieder verloren! So geschah es immer wieder zu Gottes Verunehrung und zum Verderben der Menschen. Gott segnete schon ganz am Anfang, wie wir wissen. Er segnete alles, was Er gemacht hatte. Doch in der Segnung selbst gab es keine Beständigkeit. Um Beständigkeit zu sichern, muß alles auf Gott beruhen sowie auf Menschen, denen eine neue Natur dem Wesen Gottes entsprechend gegeben worden ist. Gefallenen Geschöpfen muß die göttliche Natur mitgeteilt werden; und das geschieht in Christus. So war es schon immer. Es war nicht immer ausdrücklich bekannt, auch nicht in den Zeiten des Alten Testaments. Aber als Grundlage für unveränderliche Segnungen und Gemeinschaft in irgendeinem Maß zwischen Gott und einem Geschöpf muß die göttliche Natur mitgeteilt werden. Davon spricht Jakobus folglich hier. Wie seine Gedanken mit denen von Petrus, Johannes und Paulus in Beziehung stehen, wollen wir jetzt nicht untersuchen. Wir sehen sofort, daß jemand, der einen solchen Brief verachten könnte, ein Mensch ist - wir dürfen ihn nicht verachten, denn Gott möchte nicht, daß wir einen anderen verachten, genauso wie Er selbst, niemand verachtet … Sicherlich gilt aber, daß es Schmerz und Kummer in uns hervorrufen sollte, daß ein Mensch, der aus Gott geboren und außerdem ein Knecht Jesu Christi ist, jemals solche Gedanken in seinem Herzen zugelassen hat 4.

Gegründet auf diese Wahrheit, nämlich der Gabe von Gottes eigener Natur mit ihrem sittlichen Urteilsvermögen, folgen die praktischen Ermahnungen. „Daher, meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören.“ (V. 19). Das Hören entspricht der Bereitschaft zur Abhängigkeit. Jeder Knecht Gottes schaut zu Gott auf, vertraut auf Ihn und erwartet alles von Ihm. Diese Stellung geziemt dem, der aus Gott geboren ist. „Daher, meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden.“  Das Sprechen neigt dazu, unsere eigene Natur - uns selbst - zum Ausdruck zu bringen. Sei darum langsam zum Reden und schnell im Hören! Sicherlich hat ein solcher Mensch Gott im Blickfeld und steht Sein Wort vor ihm; und er besitzt das, was ihm ermöglicht, Gottes Wort zu verstehen. Laßt auch uns „schnell zum Hören, langsam zum Reden“  sein!

Wir müssen uns indessen auch noch vor etwas anderem hüten. Die Natur des Menschen drückt sich nicht nur mit der Zunge aus, sondern auch in den Gefühlen des Herzens und außerdem, ach!, im Zorn eines gefallenen Geschöpfes. Seien wir daher nicht nur langsam zum Reden, sondern auch „langsam zum Zorn“! Wir erkennen also sofort, daß diese Ermahnung sich zuerst einmal auf die geistliche Anatomie, wenn ich so sagen darf, unserer Natur gründet. Danach wird uns das wunderbare Wesen des neuen Lebens gezeigt, das wir durch den Glauben an Jesus Christus empfangen und als unser Teil erkannt haben; denn wir sind „durch das Wort der Wahrheit gezeugt.“  Als Nächstes erfahren wir den Grund: „Denn“, sagt er, „eines Mannes Zorn wirkt nicht Gottes Gerechtigkeit.“ (V. 20).

Es muß wohl kaum angemerkt werden, daß es hier nicht um die Gerechtigkeit Gottes in einem lehrmäßigen Sinn geht. Damit beschäftigt Jakobus sich nicht. Er nimmt nirgendwo die Frage auf, wie ein Sünder gerechtfertigt wird. Daher widerspricht er sicherlich in keinster Weise Paulus - vor allem nicht, wo es um Glaube oder Rechtfertigung geht. Tatsächlich behandelt er solche Probleme, die vor Paulus standen, überhaupt nicht. Wenn zwei Personen sich wirklich mit demselben Gegenstand beschäftigen und uns gegensätzliche Aussagen dazu liefern, widersprechen sie sich zweifelsohne. Wenn sie hingegen völlig unterschiedliche Gesichtspunkte betrachten, gibt es keinen Widerspruch, mögen die Themen noch so nahe beieinander liegen; und genau das gilt für Paulus und Jakobus in der Angelegenheit vor uns - ohne von der Inspiration zu sprechen, welche solche Widersprüche unmöglich macht. Beide benutzen die Wörter „Glaube“, „Werke“ und „rechtfertigen“. Bei ihnen geht es jedoch nicht um dieselben Fragen, sondern um zwei ganz verschiedene. Den Grund dafür werden wir bald sehen. Ich möchte aber jetzt schon diese Bemerkungen im Vorbeigehen machen, um jenen Seelen zu helfen, die Schwierigkeiten in dieser Sache haben. Häufig erweisen sich letztere als ein Fallstrick für solche, die sich zu viel auf wörtliche Ähnlichkeiten stützen.

Blicken wir auf die Gnade des Herrn, um die Schrift zu verstehen! Viele haben die Gewohnheit, einem Ausdruck in der Bibel immer dieselbe Bedeutung zu geben. Dieser Grundsatz gilt weder beim Sprechen im täglichen Leben noch beim Lesen im Wort Gottes. Offensichtlich finden wir in unserer Stelle zum Beispiel die Gerechtigkeit Gottes in einem anderen Sinn vorgestellt als in der uns so vertrauten Bedeutung der paulinischen Briefe. Jakobus spricht von dem, was Gott nicht gefällt, weil es mit Seiner Natur nicht übereinstimmt; und eindeutig ist menschlicher Zorn für Ihn ein Anstoß. Er bewirkt nichts, was zu Gottes sittlichem Wesen paßt. Der Bibelabschnitt spricht von der Praxis, nicht von der Lehre.

„Deshalb leget ab alle Unsauberkeit und alles Überfließen von Schlechtigkeit, und empfanget mit Sanftmut das eingepflanzte Wort, das eure Seelen zu erretten vermag.“ (V. 21). Wir können bemerken, wie wenig dieser Satz ein auferlegtes Gebot darstellt. Ganz besondere Mühe ist erforderlich, sich vor dieser weit verbreiteten Vorstellung zu hüten. Auch ein Jude wäre geneigt, so zu denken; denn er wendet sich natürlicherweise zum Gesetz als dem einzig und allein gültigen Maßstab. Auf der anderen Seite ist Jakobus weit davon entfernt, den Nutzen des Gesetzes zu vernachlässigen. Das finden wir gerade in unserem Brief. Dennoch achtet er hier sorgfältig darauf zu zeigen, daß das Wort sich mit dem Menschen in dessen Innerem beschäftigt. Es geht um das „eingepflanzte Wort“ , wie er es nennt, und nicht um ein äußeres Gesetz, das in der Lage sein könnte, die Seele zu retten. Das Wort geht durch den Glauben in den Menschen hinein oder, wie der Apostel es im Hebräerbrief ausdrückt, ist „bei denen, die es hörten, ... mit dem Glauben vermischt.“  (Hebräer 4,2). „Seid aber Täter des Wortes und nicht allein Hörer, die sich selbst betrügen..“ (V. 22). Eindeutig befinden wir uns überall auf der praktischen Seite der Offenbarung des Lebens. Das ist der leitende Gedanke und das Ziel dieses Briefes.

„Denn wenn jemand ein Hörer des Wortes ist und nicht ein Täter, der ist einem Manne gleich, welcher sein natürliches Angesicht in einem Spiegel betrachtet.“  (V. 23). Er mag sich selbst noch so klar erblicken. Für einen Augenblick erkennt er ganz scharf, was er ist; doch er vergißt alles sehr schnell. „Er hat sich selbst betrachtet und ist weggegangen.“ (V. 24). Das gesehene Bild verblaßte und verschwand. „Er hat alsbald vergessen, wie er beschaffen war.“ Wie wahr ist das und wie bewunderungswürdig aus dem Leben gegriffen! Es handelt sich um jenen Schimmer eines Überführtseins durch die Wahrheit, welches über eine Seele kommt, wenn sie zu der Erkenntnis gezwungen wird, was die Quellen ihrer Gedanken sind. Es geht um die Gefühle eines Menschen, wenn das Licht Gottes über ihm aufblitzt und ihn durchfährt. Doch wie schnell verlöscht dieser Eindruck, anstatt in die Seele einzudringen und dort zu bleiben! Ausschließlich der Geist Gottes kann solche Einsichten in einem Herzen vertiefen. Hier stellt der Apostel indessen einen Fall heraus, bei dem ein solches inneres Werk fehlt und Erkennen und Gewissen nicht zusammen gehen. Das verdeutlicht er, wie wir gesehen haben, durch das Bild eines Menschen, der in einen Spiegel schaut, sich wieder umdreht und alles vergißt. Andererseits ist dort Kraft und Dauer zu finden, wo der Blick „in das vollkommene Gesetz, das der Freiheit“  gründlich hineinschaut. (V. 25).

Es scheint jetzt die rechte Gelegenheit zu sein, darauf hinzuweisen, daß Jakobus weit davon entfernt ist, im schlechten Sinn des Wortes gesetzlich zu sein. Er ist der inspirierte Mann, der keinesfalls weniger als irgendein anderer durch letzteren Ausdruck jeder Gesetzlichkeit den Todesstoß versetzt. In dieser Hinsicht gibt es keinen kostbareren Gedanken und kein gewaltigeres Wort im ganzen Neuen Testament. An seinem Ort ist kein Ausdruck besser, klarer und treffender als obiger. Der Grund, warum die Menschen oft Gesetzlichkeit im Jakobusbrief finden, liegt daran, daß sie selbst diese hineintragen. Sie stehen unter dem Einfluß derselben in ihren Seelen, und überschatten folglich das Licht des Jakobusbriefs mit dem, was die Schuldigen in Finsternis einhüllen soll.

Was ist also das Gesetz der Freiheit? Es ist das Wort Gottes, das einen Menschen leitet, der durch das Wort der Wahrheit gezeugt worden ist. Es drängt, ermuntert und stärkt ihn in den Dingen, deren sich das neue Leben erfreut. Demnach ist seine Wirksamkeit genau entgegengesetzt zu derjenigen, welche das Gesetz Mose auf den Israeliten ausübte. Das erkennen wir schon einfach aus den Ausdrücken: „Du sollst dieses nicht tun“, und „du sollst jenes nicht tun“! 5 Warum? - Weil die Israeliten das tun wollten, was Gott verbot! Das Verlangen des Menschen, so wie er ist, richtet sich auf das Böse. Das Gesetz sprach sein „Veto“ [lat.: „Ich verbiete!“; Übs.] zur Nachgiebigkeit gegenüber dem Willen. Es war in seinem Wesen notwendigerweise verneinend und nicht bejahend. Das Gesetz verbot gerade jene Taten, zu denen die Antriebe und Begierden des Menschen diesen anspornten. Es ist das ernste Mittel, die aufrührerische gefallene Natur offenbar zu machen. Das ist aber in keinster Weise das Gesetz der Freiheit, sondern das der Knechtschaft, der Verdammnis und des Todes.

Das Gesetz der Freiheit bringt jenen, die es lieben, nur Positives- nicht die Verleugnung dessen, was der Wille und die Lust des Menschen verlangen. Es entfaltet das neue Leben seiner eigenen Natur entsprechend. So wurde es häufig und sehr angemessen mit liebenden Eltern verglichen, die ihrem Kind sagen, daß es hier- oder dorthin gehen soll, nämlich an jene Orte, von denen die Eltern genau wissen, das die Kinder sie gerne aufsuchen möchten. Solcherart ist das Gesetz der Freiheit: Es gleicht einer Aufforderung an ein Kind: „Nun, mein Kind, du mußt dorthin gehen und dieses oder jenes tun!“, indem jener Mensch weiß, daß er dem Kind keine größere Gunst erweisen könnte. Es geht nicht so sehr darum, dem Willen des Kindes zu widerstehen, sondern vielmehr, die Zielrichtung seines Willens auf die Dinge zu richten, die es liebt. Das Kind wird mit den Augen der Elternliebe betrachtet, welche genau weiß, was das Kind wünscht, und dementsprechend geleitet. Dieses Verlangen ist einem Kind Gottes kraft einer neuen Natur von Gott selbst eingepflanzt. Er gab ihm ein Leben, das die Wege und das Wort Gottes liebt und das Böse haßt und ihm widersteht. Seine größte Pein ist es, durch Unwachsamkeit unter die Sünde zu fallen, auch wenn sie noch so klein erscheint. Das Gesetz der Freiheit besteht demnach nicht so sehr in einer Einschränkung des Auslebens des alten Menschen, sondern vielmehr in der Führung und Bewahrung des neuen; denn die Freude des Herzens richtet sich auf das, was gut, heilig und wahr ist. Das Wort Gottes übt uns, an dem festzuhalten, was die Freude des Herzens eines Christen ausmacht. Außerdem kräftigt es uns im Abscheu vor allem, von dem wir wissen, daß es dem Herrn widerspricht.

Das ist das Gesetz der Freiheit. Daher gilt: „Wer aber in das vollkommene Gesetz, das der Freiheit, nahe hineingeschaut hat und darin bleibt, indem er nicht ein vergeßlicher Hörer, sondern ein Täter des Werkes ist, dieser wird glückselig sein in seinem Tun.“ (V. 25). Es besteht indessen die Notwendigkeit, auch die andere Seite des Bildes zu betrachten: „Wenn jemand sich dünkt, er diene Gott, und zügelt nicht seine Zunge, sondern betrügt sein Herz, dessen Gottesdienst ist eitel.“ (V. 26).

Danach schließt das Kapitel mit einem Beispiel, was ein reiner und unbefleckter Gottesdienst ist. Dieses geschieht indessen, wie wir bemerken, hauptsächlich in einer praktischen Weise. Das ist das Hauptthema und wird niemals vergessen. Zuerst geht es darum, „Waisen und Witwen in ihrer Drangsal besuchen.“ (V. 27). Das sind Personen, von denen wir nichts erhoffen können, was dem Fleisch schmeichelt oder in irgendeiner Weise unserem Ich dienen könnte. Auf der anderen Seite sollen wir uns von der Welt unbefleckt erhalten. Wie oft hören wir Leute gewohnheitsmäßig diesen Vers im Zusammenhang mit dem, was sie Praxis nennen, zitieren, indem sie bei dem ersten Teil verweilen auf Kosten des zweiten! Wie kommt es, daß der letzte Versteil vergessen wird? Geht es nicht genau um das, worin die Zitierenden die größte Schwierigkeit finden, indem sie nicht in ehrlicher Weise ihre Würdigung des zweiten Teiles nachweisen können? - Laßt uns folglich danach streben, Nutzen aus der Warnung zu ziehen und vor allem aus der kostbaren Lehre im Wort unseres Gottes!

In allem, was wir bisher betrachtet haben, erhebt sich natürlicherweise die Frage: Worin liegt die besondere Angemessenheit solcher Ermahnungen? Warum sind sie an die zwölf Stämme gerichtet? - Sicherlich dürfen wir so denken. Jenen, die das Wort Gottes schätzen, ist keinesfalls verboten, nach seinem Gegenstand zu fragen. Im Gegenteil, wir werden sogar ermutigt zu untersuchen, warum es der Weisheit Gottes entsprach, daß solche Worte wie diese an Israel gerichtet wurden und insbesondere an solche von den zwölf Stämmen, welche den Glauben des Herrn Jesus Christus besaßen. Darauf geht Jakobus ganz besonders im nächsten Kapitel ein. 

Fußnoten

  • 1 Die sogenannten „Allgemeinen“ oder „Katholischen Briefe“ sind die Briefe von Jakobus, Petrus, Johannes und Judas. (Übs.).
  • 2 Anm. d. Übers.: Nach dem Kirchengeschichtsschreiber Eusebius von Cäsarea (um 264 bis 339) wurde dieser Jakobus von seinen Zeitgenossen „Jakobus, der Gerech­te“ genannt. („Ekklesiastike historia“ („Kirchengeschich­te“) 2,23,4 sqq.). Vergl. W. Haubeck in Burckhardt et al. (Hg.)(1990): Das große Bibellexikon, Bd. 2, 2. Aufl., Wuppertal & Giessen, S. 646!
  • 3 in dem Kelly seinen Vortrag hielt. (Übs.).
  • 4 Anm. d. Übers.: Kelly bezieht sich hier auf die anfangs erwähnten Ausleger, die wie Martin Luther (z. B. in seiner „Vorrede auf die Epistel St. Jacobi und Judä“, in Joh. Georg Walch: Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, Bd 14, Nachdruck, Groß Oesingen, 1987, Spalten 128 ff.) den Jakobusbrief als einen unbiblischen und minder­wer­ti­gen Brief bezeichnet haben.
  • 5 Falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht, schrieb ein gefeierter Mann unserer Tage einen Aufsatz über Freiheit, in welchem er feststellt, daß die Christen auf das Gesetz Moses angewiesen seien, weil das Neue Testament keine positiven Angaben zur Sittlichkeit mache. – Könnte es eine oberflächlichere Bemerkung geben? Oder ein ein­deutigeres Zeichen von der Blindheit des Unglaubens in dem, der sie äußerte? – Aber so muß es wirklich sein, wo man Christus nicht kennt. Beweist es nicht auch schla­gend, daß Aberglaube im Grunde genauso ungläubig ist wie Freidenkerei? – Der Skeptiker und der Theologe kom­men in Hinsicht auf das Wort Gottes zu demselben Ergeb­nis und zwar aus derselben Quelle heraus: Sie se­hen und schätzen Christus nicht genug! Das Leben in Christus isthin­reichend positiv. Das Ge­setz war grundsätzlich negativ. Das Wort Gottes bringt jenes Leben zum Ausdruck; und der Heilige Geist gibt ihm die Kraft. Doch dazu wird Glaube benötigt, den nicht alle haben. (W. K.).
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