Botschafter des Heils in Christo 1868
Das Evangelium und seine Erfolge - Teil 1/2
Als Gott aus dem Berg Sinai das Gesetz gab, richtete Er dasselbe an ein einziges und zwar sehr kleines Volk, die Israeliten, „deren die Kindschaft ist, und die Herrlichkeit, und die Bündnisse, und die Gesetzgebung, und der Dienst, und die Verheißungen“ (Röm 9,4). alle diese Offenbarungen beschränkten sich nur auf Israel. Das Volk besah unter sich eine Priesterschaft, aber keinen Dienst nach außen. Freilich werden die umliegenden Nationen die Gegenwart Gottes in Israel gewahrt haben; aber das Wische System hatte keinen Missionsdienst, sondern war vielmehr in sich abgeschlossen. Doch vergessen wir nicht, dass der Tag anbrechen wird, wo Israel im vollsten Sinne des Wortes zu allen Völkern der Erde, ihre Boten aussenden wird. „Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen, und des Herrn Wort von Jerusalem“ (Jes 2,3). Und in Betreff des Überrestes Israels lesen wir: „Ich will ihrer etliche, die gerettet sind, senden zu den Heiden am Meer, gen Phul und Lud, zu den Bogenschützen, gen Thubal und Javan, und in die Ferne zu den Inseln, da man nichts von mir gehört hat, und die meine Herrlichkeit nicht gesehen haben; und sollen meine Herrlichkeit unter den Heiden verkündigen“ (Jes 66,19). allein es wird kaum nötig sein zu sagen, dass diese glückseligen Tage erst in der Zukunft für das jetzt so verachtete Israel anbrechen werden. Die Kirche – das gegenwärtige Gefäß des Zeugnisses – muss vorher von dem Schauplatz entfernt und Israel wiederhergestellt sein, bevor die Liebe Gottes sich wieder mit seinem alten Volk beschäftigen wird. „Verstockung ist Israel zum Teil widerfahren, bis dass die Fülle der Nationen eingekommen sein wird“ (Röm 11,25). Die Kirche, welche sein Leib, seine Fülle ist, muss zuvor vollendet und bereitet sein, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. Dann erst wird die Weissagung erfüllt werden: „Und also wird ganz Israel errettet werden“ (Röm 11,26; 1. Thes 4,13–17).
In der Verkündigung des Evangeliums finden wir einen völligen Gegensatz zur Gesetzgebung. Seitdem Gott das Evangelium seiner Gnade nach dem Tod und der Auferstehung ans Licht gestellt hat, gebietet Er, dass dasselbe gepredigt werde nicht einem einzigen Volk, sondern allen Völkern der Erde. Es sollte „nach Befehl des ewigen Gottes, zum Gehorsam des Glaubens an alle Nationen kundgemacht“ werden (Röm 16,26).
Die Zwischenwand der Umzäunung ward durch das Kreuz zerbrochen, und die Schranken der alten Haushaltung wurden niedergerissen. Das Evangelium der Gnade Gottes brach gleich einer mächtigen Woge hervor, überflutete die Ufer des Judentums und ergoss sich in alle Land. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade viel überschwänglicher geworden“ (Röm 5,20).
Die gute Botschaft einer vollen und freien Gnade durch Glauben an Christus wird also sowohl den Heiden als auch den Juden gepredigt. „So sei es euch denn kund“, sagt Paulus, „dass das Heil Gottes den Nationen gesandt ist; und sie werden hören“ (Apg 28,28). Nichts kann in dieser Beziehung klarer sein, als der Auftrag, den der Herr seinen Jüngern gab, indem Er sagte: „Geht hin in alle Welt, predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Mk 16,15–16). Auch ist das Evangelium nicht in der Form einer Verheißung, sondern als eine Verkündigung gegeben. Dieses macht einen großen Unterschied. Das Heil wird als eine gegenwärtige Wirklichkeit allen angekündigt, welche Christus durch Glauben erkennen und in Ihn ihr Vertrauen setzen. Zu gleicher Zeit aber gehören uns alle Verheißungen in Christus von dem Augenblick an, wo wir an seinen Namen glauben. Sobald Rebecca eingewilligt hatte, das Weib Isaaks zu werden, wurde sie die Miterbin aller Reichtümer Abrahams. Würde hingegen Rebecca diese Verbindung ausgeschlagen haben, so würde sie auch bezüglich dieser Schätze arm geblieben sein. Alles hing ab von der Annahme Isaaks – und alles hängt ab von unserer Annahme Christi. Dieses ist eine Sache von der höchsten Wichtigkeit und wird von dem Apostel in der klarsten Weise dargestellt, wenn er sagt: „So sei es euch denn kund, Männer, Brüder, dass durch diesen euch die Vergebung der Sünde verkündigt wird“ (Apg 13,38). Die Vergebung wird nicht unter gewissen Bedingungen verheißen, sondern gepredigt und verkündigt durch Christus, und zwar allen, die seine Stimme hören. Die Vergebung ist bedingt durch den Glauben an die frohe Botschaft. Um jeden Zweifel zu heben, fügt der Apostel hinzu: „In diesem ist jeder Glaubende gerechtfertigt.“ Wenn das so klar und bestimmt uns dargestellte Wort Gottes geglaubt wird, so wird der Friede die natürliche Folge sein.
Die Verantwortlichkeit, ein solches Evangelium zu hören, ist in der Tat sehr groß; und die Folgen sind unberechenbar, über alle Begriffe; sie sind ewig – entweder ewiges Elend oder ewige Glückseligkeit. Wenn das Evangelium Gottes in dieser Weise allen verkündigt und die Errettung allen umsonst angeboten wird, so folgt daraus selbstredend, dass im Angesicht Gottes alle Hörer entweder seine Liebe annehmen oder verwerfen. Eine Zwischenstellung gibt es in der Schrift nicht. Der nur gleichgültige Zuhörer mag nicht denken, dass er das Anerbieten des Heils verachtet oder verwirft; aber sicher, es ist in jeder Beziehung die strafbarste Behandlung der Botschaft, wenn man gegen eine Sache gleichgültig ist, an welcher Gott ein so unaussprechliches Interesse hat, und welche für den Menschen so außerordentlich wichtig ist. Wenn die erlösende Liebe so dringend einlädt, wenn sie uns das für uns vollbrachte große Werk Christi, den Wert der unsterblichen Seele, die unbeschreiblichen Segnungen des Himmels und die unaussprechlichen Qualen der Hölle vor Augen stellt, dann ist sicher ein gleichgültiges Vorwärtsgehen nichts anders als ein Verachten dessen, was Gott gesagt hat.
Viele eilen hier und dorthin, um das Evangelium oder eine Predigt zu hören; sie betrachten dieses als eine religiöse Pflicht und sind zufrieden, wenn sie dieselbe erfüllt haben. Aber, ach! sie bedenken nicht, dass sie für das, was sie gehört haben, verantwortlich sind. Tausende machen sich eines solchen Betragens schuldig. Freilich mag der Fehler nicht allein an den Hörern liegen. Das, was sie hörten, mochte wenig geeignet gewesen sein, die Aufmerksamkeit zu fesseln, oder das Herz und Gewissen zu treffen. Vielleicht war das Gesagte, wenn auch wahr, durchaus nicht passend für einen Unbekehrten und durchaus untauglich, um eine Seele zu erwecken, welche tot ist in den Sünden und in den Vergehungen. Deshalb ist sicher auch die Verantwortlichkeit eines Predigers nicht gering. Möge daher der Herr doch bei allen seinen Arbeitern die nötige Liebe, den rechten Eifer und einen würdigen Ernst erwecken, damit sie rein bleiben „von dem Blut der Menschen.“
Wir möchten jetzt gern einige Bemerkungen über das Evangelium selbst machen und betrachten zunächst 1. die Quelle des Evangeliums
Es wird das „Evangelium Gottes“ genannt; (Röm 1,1) und daraus geht hervor, dass in Gott seine Quelle ist. Auch heißt es wohl das „Evangelium Christi“, weil es Ihn offenbart; aber hier spricht der Apostel von dem Ursprung und nicht von dem Gegenstand des Evangeliums; und dieses ist eine große und gesegnete Wahrheit, die eine nicht geringe Macht ausübt im Werk der Evangelisation. Er, an den der natürliche Mensch mit Furcht und Zittern denkt, offenbart sich als die Quelle all seiner Segnungen. Es ist dieses der erste Gedanke in dem Brief an die Römer; und gerade dieser Brief ist mehr als jede andere sowohl an die Juden als auch an die Heiden gerichtet. Sie wendet sich an den Menschen als solchen, an die „ganze Welt.“ Aber bevor das Urteil Gottes über den Zustand des Menschen verhängt ist, wird seine Liebe zu dem Menschen völlig offenbart. Dem verlorenen Sünder wird versichert, dass die Quelle des Heils in dem Herzen Gottes ist, dass der, welchen er so sehr fürchtet, und welchem er in jeder Weise zu entfliehen sucht, der Ursprung aller Erbarmungen ist und welcher ihm in dem Evangelium mit allen Segnungen seiner Gnade begegnet. Welch ein Gedanke! Welch eine Wahrheit! Welch ein Evangelium! Der Gott aller Gnade naht sich dem Sünder in seiner eigenen Güte, in den Tätigkeiten seiner eigenen Natur mit der frohen Botschaft des Heils. Aber Er betritt nur immer einen und denselben Pfad. Einen anderen Pfad gibt es nicht. Es gibt keine Segnung für den Sünder, als nur durch Christus, in Christus und mit Christus. „Was dünkt euch von Christus?“ ist stets die Frage des Vaters. Sein großer Zweck im Evangelium ist die Verherrlichung Christi. „Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.“ Hier ist der Prüfstein. Gott wird dem Sünder nie diesen Punkt erlassen.
Leider ist es nur zu oft der Fall, dass viele erweckte Seelen jahrelang, ja gar während ihrer ganzen irdischen Laufbahn ohne Frieden einhergehen. Und dennoch sagt die Schrift deutlich genug: „Durch diesen Menschen – durch Ihn.“ – Erkenne Christus an – blicke auf Christus – vertraue auf Christus – widme Ihm deine Gedanken, deine Neigungen, deine Anbetung – und was wird die Folge sein? Jede Segnung, die das Herz des Vaters zu spenden gedenkt, gehört dir. Er will dich alles dessen teilhaftig machen, was Christus gehört; Er will aus dir machen einen „Erben Gottes und einen Miterben Christi.“ Allein selbstredend muss die Wahrheit geglaubt werden, wenn man sich ihrer erfreuen will. Das ist die Bedingung zwischen Gott und der Seele. Die zweifelnde, unglückliche Seele sagt: „Wenn ich doch fühlen könnte, ob diese Segnung für mich sei, o wie glücklich würde ich sein.“ Ach! und wie oft ist diese Sprache gehört und beantwortet worden! Und dennoch hört man sie täglich und stündlich wieder, und immer gilt nur die alte Antwort: „Blicke auf Jesus und glaube dem Wort Gottes!“
Aber solange eine Seele ihre Blicke auf ihre Gefühle gerichtet hält, gilt ihr im praktischen Sinne weder Christus, noch das Wort Gottes etwas. Alles, was uns Gott in Betreff seiner Liebe offenbart – alles, was Christus für uns getan und gelitten hat – alles, wovon uns der Heilige Geist Zeugnis geben will – alles setzt die arme, durch Zweifel beunruhigte Seele praktisch bei Seite und opfert es den schwankenden Gefühlen des Herzens. Wie traurig ist ein solcher Zustand und wie oft findet man ihn in unseren Tagen! Doch Gott kann sein Wort nicht verändern. Er sagt: „Küsst den Sohn, dass Er nicht zürne und ihr umkommt auf dem Weg“, und sein Schlusswort ist: „Glückselig alle, die auf Ihn trauen!“ (Ps 2,12) Und sicher wenn Gott eine Seele „glückselig“ preist, so muss sie es gewiss sein. „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus“ (Eph 1,3). O möchte doch jede von Zweifeln geplagte Seele bedenken, dass Christus unseres vollsten Vertrauens würdig ist, wie auch immer unsere Gefühle sein mögen. Sollten wir nicht über uns selbst beschämt sein, wenn wir Ihm nicht vertrauen, der für uns starb und jetzt in Macht und Herrlichkeit lebt? O wenn wir Ihm nur völlig vertrauten, so würden bald die Gefühle in die richtigen Bahnen geleitet werden! Lassen wir daher jede Furcht und jeden Zweifel schwinden – schwinden auf immer in der Gegenwart einer Liebe, welche sich nimmer von ihrem Gegenstand abwendet – in der Gegenwart eines Werkes, welches vollbracht ist – in der Gegenwart eines Heilands, welcher Gewalt hat im Himmel und auf Erden, und von dessen Liebe uns keine Macht zu trennen vermag!
Indes gibt es etliche, welche zwar in etwa auf Jesus vertrauen, aber dennoch keinen Frieden haben. Was ist die Ursache? Das Vertrauen der Seele ist zu schwach; die ganze Wahrheit Gottes findet keinen Glauben. Anstatt auf Jesus und dann auf das Wort Gottes zu schauen, blicken sie auf Jesus und dann auf sich selbst. Sie denken, dass wenn ihre Gebete Erhörung gefunden haben würden, so würde auch ein völliger Frieden, völlige Gewissheit und was sie sonst noch erwarten, ihr Teil sein. Da nun aber ihre Gebete nicht von solchen Erfolgen gekrönt werden, so schließen sie daraus, dass keine Erhörung stattgefunden, dass Gott sein Antlitz abgewendet habe, und dass der Friede weiter als je entfernt sei. Doch dieses ist nichts als ein Fallstrick Satans.
Ein höchst interessanter Vorfall, der vor etlichen Jahren von einem Missionar mitgeteilt wurde, liefert für das soeben Gesagte einen treffenden Beleg. In seinen alten Tagen wurde ein afrikanischer Häuptling bekehrt. Ein Leben voller Verbrechen lag hinter ihm. Jetzt war es sein heißes Verlangen, lesen zu lernen, um durch das Wort Gottes mehr bekannt zu werden mit Jesu, der die Afrikaner liebte und für sie gestorben war. Wie schwer es ihm wurde, so überwand er doch endlich alle Schwierigkeiten und las bald ohne Anstoß. Eines Tages kam der Missionar an seiner Hütte vorüber und sah den alten Häuptling unter einem Palmbaum sitzen. Er hemmte seine Schritte und bemerkte, dass ein Buch auf seinen Knien lag. Nachdem nun der Alte eine Zeitlang aufmerksam in dem Buch gelesen hatte, erhob er sein Haupt, faltete die Hände, richtete sein Auge gen Himmel und bewegte betend seine Lippen. Nach wenigen Augenblicken aber widmete er dem Buch wieder seine ganze Aufmerksamkeit. Der Missionar mochte diese feierliche Szene nicht unterbrechen und ging unbemerkt vorüber. Einige Zeit später aber fand er Gelegenheit, den Häuptling an diese Szene zu erinnern, deren Zeuge er vor etlichen Tagen gewesen war, indem er ihn fragte, was er damals getan habe. „O Massa“, war die Antwort, „wenn ich blicken in das Buch und lesen, dann Gott mit mir sprechen; und wenn ich innehalten und aufblicken, dann ich reden mit Gott.“ – Mögen wir beide, der Schreiber wie der Leser dieser Zeilen, etwas lernen aus dem Beispiel dieses Häuptlings.
Wir wünschen von Herzen, dass jede beunruhigte Seele einen ähnlichen Weg einschlüge. Blicke an, blicke empor; aber blicke nimmer in dich hinein! Hast du auf Jesus geschaut, dann schaue in das Wort Gottes und lies aus seinem eigenen Buchs seine Antwort heraus. Sein Wort ist entscheidend und verändert sich nimmer. Der Gegenstand deines Glaubens ist nicht in dir, sondern außer dir. Und was sagt das Wort jeder Seele, die auf Christus blickt? „Du bist gerettet.“ Und was sagt es denen, welche zu Jesu kommen unter dem drückenden Gefühl ihrer Sünde und ihrer Wertlosigkeit und in seinem Erbarmen Schutz suchen? Höre und glaube! Die Antwort ist: „Deine Sünden sind vergeben – dein Glaube hat dich gerettet; gehe hin in Frieden“ (Lk 7,36–50). das ist in allen Fällen die Antwort des Buches Gottes. Eine erweckte Seele in dem Schatten einer heidnischen Finsternis und wegen der Anklagen eines schuldbewussten Gewissens im Zustand der Verzweiflung, mag ausrufen: „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ Und siehe, es gibt für einen solchen eine Antwort in diesem Buch. Es redet mit ihm von einer Errettung, indem es ihm zuruft: „Glaube an den Herrn Jesus und du wirst errettet werden.“ Aber was konnte der Kerkermeister zu Philippi von Jesus Christus und vom Glauben an Ihn wissen? Wir können überzeugt sein, dass seine Erkenntnis darüber eine höchst geringe war. Doch die Errettung seiner Seele war nicht von dieser Erkenntnis abhängig, sondern von Christus. In jenem Augenblick gab es keine Zeit zu langen Erläuterungen. Der Apostel sieht die mächtige Wirkung des Heiligen Geistes und ruft: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst gerettet werden.“ Als ob er hätte sagen wollen: „Verbirg dich hinter dem Heiland der Sünder, wirf dich, wie du bist und wo du bist, zu den Füßen Jesu und glaube, im Vertrauen auf Ihn, dass du gerettet bist.“ Und den Worten des Apostels glaubend, ward er gerettet, belehrt, mit Freude erfüllt und zu Früchten des Glaubens fähig gemacht. Sein edles Beispiel war der segensreiche Anfang zur Rettung seines ganzen Hauses. Ein anderer mag gleich dem verlorenen Sohn gegen seine Erkenntnis, gegen die Liebe und jede Art von Güte gesündigt haben, – dennoch wird die Antwort seinem Zustand entsprechend sein. Er wird mit offenen Armen und mit dem Kuss der vollkommenen Versöhnung empfangen. In dieser Weise wird jeder verlorene Sohn willkommen geheißen. Wer dieses verneinen wollte, würde dem Wort Gottes widersprechen, ja schlimmer noch – er würde sagen, dass dieses Wort zu Irrtümern führe. In dem „Evangelium Gottes“ handelt Gott aus sich selbst und durch sich selbst und für seine eigene Verherrlichung. Der Vater eilt dem verlorenen Sohn entgegen. Sein Herz strömt über von Mitleid und Erbarmen; denn als der Sohn noch ferne war, „sah ihn sein Vater, und ward innerlich bewegt, und lief hin, und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn sehr“ (Lk 15,20). das Herz des Vaters bleibt allezeit ein Vaterherz. „Gott ist die Liebe;“ Er handelt trotz unseres Unglaubens in einer seiner würdigen Weise.
In fast allen Gemütern, welche in Betreff ihrer Errettung nicht in Ruhe sind, sind die Gedanken mehr vorherrschend über das, was sie für Gott sein sollten, als über das, was Gott für sie ist. Dieses ist eine der feinsten Schlingen Satans. Aber vorausgesetzt, der Kerkermeister zu Philippi hätte, anstatt dem ihm zugerufenen Worte einfach zu glauben und auf Christus völlig zu vertrauen, mit dem Apostel über das, was er gewesen war und was er jetzt fühle, hin und her disputieren wollen, – was würde der Erfolg gewesen sein? Nur Jammer anstatt der Freude. Und also ist es in allen Fällen. – Nichtsdestoweniger zeigt sich dieser Irrtum bei zahlreichen Christen und bildet in tausend verschiedenen Arten jene entsetzliche Quelle endloser Beunruhigungen. Der Geist des Gesetzes drängt die Seele zurück in sich selbst, um dort etwas zu suchen; und jede Seele, welche mit sich selbst beschäftigt ist, folgt dem Grundsätze der Gesetzlichkeit. Die Gnade hingegen offenbart der Seele Christus als ihren eigenen Gegenstand; und nicht nur dieses, sondern sie versetzt den Glaubenden in Ihn.
Nachdem Christus allen Anforderungen Gottes und allen Bedürfnissen des Sünders entsprochen hat, findet der Glaube eine vollkommene Ruhe in seinem vollbrachten Werk. Wenn Christus in dieser Weise durch den Glaubenden aufgenommen wird, so wird Er der Gegenstand seiner höchsten Freude, seine Zuflucht in allen Trübsalen und seine Antwort auf alle Fragen. Er muss sich dann sagen: „Einer, der mich so sehr liebt, dass Er sein Leben für mich hingab, ist meines ganzen Vertrauens würdig.“ Aber in dem Maß, als die Seele mit dem Gedanken beschäftigt ist mit dem, was sie für Gott sein sollte, hat sie die Gnade aus dein Gesicht verloren, und ist mit vollen Schritten auf dem Weg, das Werk Christi, ihre Annahme in Ihm und das Zeugnis des Wortes in Betreff ihrer Einheit mit Ihm vollends aus dem Auge zu verlieren.
Indes könnte hervorgehoben werden, dass Gott Ansprüche auf den Menschen habe und dass, obwohl Israel nur als eine Nation förmlich und bestimmt unter das auf Sinai gegebene Gesetz gestellt sei, dieses dennoch eine allgemeine Anwendung finde. Sehr wahr in Betreff des menschlichen Zustandes; aber der Bund auf Sinai ist nicht das Evangelium der Gnade Gottes. Das Gesetz fordert eine Gerechtigkeit von den Menschen; die Gnade bringt eine göttliche Gerechtigkeit dem Sünder; und sobald dieser sich beugt vor Jesu als seinem Erretter, tritt er ein in dessen ganzen Wert und in die volle Segnung seines Opfers. Auch dürfen wir nimmer aus unserem Gedächtnis verlieren, dass der Gläubige, wenn auch noch so jung im Glauben, nie einen Boden betreten hat, wo das Gesetz wirkt. Seine Stellung ist weder diejenige der Heiden, noch diejenige der Juden. Der Apostel sagt: „Ihr aber seid nicht in dem Fleisch, sondern in dem Geist, wenn anders der Geist Gottes in euch wohnt“ (Röm 8,9). das Gesetz beschäftigt sich mit dem Menschen im Fleisch oder mit dem ersten Adam. Der Christ aber befindet sich im zweiten Adam. Das Gesetz ist für den Ungerechten gegeben; aber der Gläubige ist die Gerechtigkeit Gottes geworden in Christus Jesus. Daher kann es sich nicht beschäftigen mit denen, „die in Christus Jesus sind.“ Der Apostel sagt klar und bestimmt: „Ihr seid nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade“ (Röm 6,14).
Als Gott durch das Gesetz seine Anforderungen an den Menschen kundgab, stellte sich sogleich völlig ins Licht, dass nicht einer denselben zu entsprechen vermochte; und natürlich versanken alle unter den Fluch eines übertretenen Gesetzes. Was konnte geschehen mit einem Menschen – einem Sünder, – einem Übertreter des Gesetzes? Er musste entweder hoffnungslos verdammt sein, oder Gott musste, in Übereinstimmung mit sich selbst, einen Weg ausfindig machen, um Barmherzigkeit üben zu können. Und – gepriesen sei sein Name! – Er hat einen solchen Weg bereitet. Das Kreuz legt Zeugnis davon ab. Er gab seinen Sohn. Christus kam zur bestimmten Zeit. Er begegnete allen Anforderungen Gottes in Bezug auf den Menschen, trug den Fluch, löschte alle Sünden aus, starb anstatt des Sünders und öffnete den Weg in Gerechtigkeit für die Liebe und das Erbarmen Gottes, um ausströmen zu können. – das ist die unerschütterliche Grundlage des „Evangeliums Gottes“ – die Offenbarung seiner grenzenlosen Gnade gegen den vornehmsten der Sünder.
Wenn der verlorene Zustand des Menschen völlig ins Licht gestellt ist, so kann doch sicher nichts Gutes – weder in seinen Gedanken und Gefühlen, noch in seinen Handlungen erwartet werden. Der Gedanke an das, was ich für Gott sein sollte, muss daher gänzlich bei Seite gestellt werden und Christus alles in allem sein. „Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt“ (Röm 7,18). Welch eine Erlösung! Welch eine Befreiung! Das Ich ist als ein untaugliches Ding erkannt und verworfen. „Ich bin gekreuzigt mit Christus“, sagt Paulus; „ich lebe aber, nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Und wiederum sagt er: „Indem wir dieses wissen, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt ist, auf dass der Leib der Sünde abgetan sei, so dass wir der Sünde nicht mehr dienen. Denn wer gestorben ist, ist freigesprochen von der Sünde. Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, so glauben wir, dass wir auch mit Ihm leben werden“ (Röm 6,6–8). Sicher, diese wie viele andere Stellen, welche angeführt werden könnten, sollten jede ängstliche, beunruhigte Seele belehren, dass das Ich in jeder Form als unnütz bei Seite gestellt ist. Wie könnten wir in etwas Gutes finden, welches von Gott verworfen ist? In der Natur des ersten Adams gibt es nichts für Gott. Im Angesicht Gottes wird sie als eine gekreuzigte, begrabene und vergessene Sache betrachtet. Wie könnten wir etwas anerkennen, was Gott als durchaus schlecht verworfen hat? Aber solange dieses unsererseits geschieht, bleiben unsere Befürchtungen und Schwankungen; und Ruhe und Frieden sind unser Teil nicht. Als Kind des ersten Adams fand der Gläubige am Kreuz sein Ende. Christus ist sein neues – ewiges Leben; er ist in Christus von den Toten auferstanden und steht jetzt in Ihm vor Gott. „Ihr in mir und ich in euch“ (Joh 17). das ist Gnade, wunderbare, herrliche Gnade.
Und welches sollten jetzt, angesichts solcher Schriftstellen, die Gedanken, die Gefühle und die Sprache eines jeden an Christus Glaubenden sein? Schöpfen wir die Antwort aus dem Wort Gottes, so werden wir uns sicher der vollen Freiheit und der vollen Segnung des Evangeliums vor Gott erfreuen. Die Seele ist so nahe zu Gott gebracht, wie Christus es ist; denn sie ist in Ihm und mit seiner Anmut geziert. Könnte sie mehr bedürfen? Könnte sie mehr wünschen? Sie ist von Sünde, Tod und Gericht ebenso weit entfernt, als Christus selbst, welcher sagt: „Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin.“ Wo solche Wahrheiten im Glauben aufgenommen werden, da ist auch das Herz mit einer himmlischen Freude erfüllt. „Und dieses schreiben wir euch, auf dass eure Freude völlig sei“ (1. Joh 1,4). Es soll also – beachten wir es wohl – nicht nur Freude, sondern eine Fülle von Freude in ihnen geweckt werden. Und warum auch nicht? Zu wissen, dass „Christus, der Gerechte für die Ungerechten, für Sünden gelitten hat, auf dass Er uns zu Gott führe“, ist sicher genug; wir bedürfen nichts mehr, um unser Herz völlig zufrieden zu stellen.
Ein zu Gott gebrachter Sünder ist gestorben, auferstanden und vereinigt mit Ihm, welcher starb und wieder auferstand. „Gestorben nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist“ (1. Pet 2,18). dieses ist die große Fundamentalwahrheit des vollkommenen Friedens der Seele in der Gegenwart Gottes. Alles, was dem ersten Adam angehört, ist zerstört und zurückgelassen, und der Gläubige steht vor Gott in der ganzen Segnung des auferstandenen, erhöhten und verherrlichten Menschen. Die heilige Schrift bezeichnet ihn jetzt als einen Christen, als einen König, als einen Priester, als ein Kind Gottes, als einen Erben Gottes und Miterben Christi. Seine Bürgerschaft ist in dem Himmel; er gehört der neuen Schöpfung, der neuen Welt Gottes an. „Das Alte ist vergangen; siehe, alles ist neu geworden.“ Und um die Segnung der neuen Schöpfung zu krönen, fügt der Apostel hinzu: „Alles aber aus Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Jesus Christus“ (2. Kor 5,17–18). Diese Schriftstellen beschäftigen sich nicht, wie dieses leider so viele gelehrt und so viele geglaubt haben, mit den Gefühlen und den Erfahrungen des Gläubigen. Die alte Natur in den am weitesten beförderten Christen ist nicht verändert, sondern das Alte ist „vergangen“. Die Stelle bezieht sich auf die neue Schöpfung, auf unsere Vereinigung mit Christus in der Auferstehung; Er ist der Mittelpunkt, das Leben und die Herrlichkeit der neuen Schöpfung. Und dort ist, wie wir lesen, „Alles aus Gott.“ Es ist die neue Welt Gottes. Jedes Ding in der alten Schöpfung trägt die Inschrift: „Vergangen“ Aber jedes Ding in der neuen Schöpfung trägt den Stempel der Vollkommenheit und der Unwandelbarkeit Gottes. Welch glückseliger Gedanke! Welch gesegnete Wahrheit! Alles ist vollkommen und unveränderlich. „Ich merke, dass alles, was Gott tut, das besteht immer; man kann nichts dazu tun, noch abtun“ (Pred 3,14). – Betrachten wir jetzt 2. das Evangelium Gottes verheißen durch die Propheten
Es wird indes von Nutzen sein, den Unterschied in den Ausdrücken: das „Evangelium Gottes“ und die „Kirche Gottes“ etwas näher zu beleuchten. Die Unterscheidung, wie wichtig sie auch ist, wird gar zu oft aus dem Gesicht verloren. Wie eng diese beiden Begriffe auch mit einander verbunden sind, so sind sie doch völlig verschieden. Die Kirche Gottes, wie sie uns im Neuen Testamente dargestellt ist, war kein Gegenstand der Offenbarung oder der Verheißung Gottes im Alten Testament, während das Evangelium schon von Anfang an verheißen war, wenn auch die Fülle der Gnade erst dann verkündigt worden ist, als das Werk Christi vollbracht war. Die Kirche, als eine Tatsache, nahm am Pfingsttag ihren Anfang; die auf sie bezügliche Wahrheit wurde dem Apostel Paulus offenbart; die anderen Apostel berühren diesen Gegenstand kaum. Paulus spricht öfters davon als von „einem Geheimnis“ (Eph 3). Doch hat das Wort „Geheimnis“ im Neuen Testament nicht Bezug auf etwas, was schwer zu verstehen ist und was gar nicht verstanden werden kann, sondern auf etwas, welches bis jetzt noch gar nicht offenbart, mithin verborgen geblieben war. Es war ein Geheimnis, welches, wie der Apostel sagt, „in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgemacht worden war.“ Das Evangelium Gottes hingegen war nimmer ein Geheimnis, nimmer eine verborgene Sache. Wir dürfen sagen, dass es schon in dem Garten Eden offenbart worden ist; die Gnade Gottes und das Verderben des Menschen bildeten seine Grundlage. Des Weibes Samen sollte den Kopf der Schlange zertreten.
Wenn wir unsere Blicke auf die Propheten richten, so finden wir die große Wahrheit des Evangeliums in den verschiedenartigsten Formen als einen Gegenstand der Verheißung und als nahe bevorstehend angekündigt. „Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht; sie ist nicht fern und mein Heil säumt nicht; denn ich will Zion Heil geben, und Israel meine Herrlichkeit“ (Jes 46,13). Wiederum: „So spricht der Herr: Haltet das Recht, und tut Gerechtigkeit; denn mein Heil ist nahe, dass es komme, und meine Gerechtigkeit, dass sie offenbar werde“ (Jes 56,1). Und ebenso finden wir in dem Propheten Daniel eine vollständige Darstellung und die gesegneten Folgen des Werkes Christi: „Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt; so wird dem Übertreten gewehrt, und die Sünde zugesiegelt, und die Missetat versöhnt, und die ewige Gerechtigkeit herzugebracht, und Gesicht und Weissagung versiegelt, und das Allerheiligste gesalbt werden“ (Dan 9,24).
Wir sehen also, dass das Evangelium schon in den Zeiten des Alten Testaments verheißen, nirgends aber gepredigt worden ist; denn Letzteres geschah erst im Neuen Testament. Der Apostel. Paulus war, wie er sagt, „abgesondert zum Evangelium Gottes, welches Er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in heiligen Schriften“ (Röm 1,1–2). Hier sehen wir also den Unterschied zwischen den Zeiten des Alten und Neuen Testaments in Bezug auf das Evangelium. Damals ward es als eine kommende große Segnung Gottes angekündigt; jetzt wird es gepredigt als gekommen zur Welt in seiner ganzen Fülle und Freigebigkeit. Zu gleicher Zeit werden wir versichert, dass Gott zu allen Zeiten Zeugnis von sich, ein Zeugnis von seiner Gnade, abgelegt hat, und dass alle, welche glaubten nach der Offenbarung, die Er von sich selbst gegeben, errettet wurden: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird errettet werden“, ist eine Stelle aus dem Propheten Joel. Und keine Darstellung des Evangeliums könnte deutlicher sein, als diese; allein die Größe der Errettung wurde erst dann erkannt, als Christus kam. „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit sind durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17).
Jetzt eröffnet das Evangelium eine herrliche Aussicht vor unseren Blicken. Die von alters her verheißene Gerechtigkeit Gottes ist eingeführt und das vollkommene Heil Gottes wird gepredigt. „Die Gnade herrscht durch die Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). Der Gläubige ist jetzt, kraft der Autorität des Wortes Gottes, vergewissert, dass er im Besitz des ewigen Lebens und der göttlichen Gerechtigkeit ist. Ohne Zweifel hatten auch die Heiligen des Alten Testaments ewiges Leben; jedoch scheinen sie kein Bewusstsein davon gehabt zu haben. Die Gnade, welche jetzt hervorleuchtet unter dem Titel: „Das Evangelium Gottes“ begegnet dem Glaubenden mit den reichsten Segnungen des Himmels. Nicht eine einzige fehlt. Und welch ein Trost liegt für uns darin, zu wissen, dass es von jeher die Absicht Gottes war, uns also zu segnen. Ewiges Leben war verheißen in Christus Jesus, bevor die Welt gegründet war; und die Gerechtigkeit Gottes war bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Das Herz Gottes war stets die Quelle der Gnade Gottes. Gott ist die Liebe und die Gnade ist die freie Gabe, die aus der Liebe in Segnung hervorströmt. Ihre Ströme mögen sich nach verschiedenen Richtungen ergießen, ihre Wirkung mag eine tausendfältige sein; ihre Quelle ist nur eine einzige. Als die Zeit herannahte, wo der Weg durch den Tod und die Auferstehung Christi eröffnet werden sollte, kündete sich die Gnade Mm Voraus durch die Worte an: „Ich habe meine Gerechtigkeit nahegebracht, sie ist nicht fern; und mein Heil säumt nicht; denn ich will Zion Heil geben, und Israel meine Herrlichkeit.“ Doch jetzt, da Christus gekommen ist und sein Werk, welches Ihm der Vater zu tun gegeben, vollbracht hat, ist Gottes Gerechtigkeit offenbart und sein Heil völlig gekommen. Jede Segnung ist enthüllt in dem „Evangelium Gottes“. Durch das Kreuz ward jede Schranke niedergerissen und jedes Hindernis beseitigt. Die höchsten Anforderungen des Himmels fanden völlige Befriedigung, die Sünde ward getilgt und der Vorhang im Tempel zerriss von oben bis unten. Auch dient das Kreuz zur Erweisung der Gerechtigkeit Gottes in Betreff der Vergebung der Sünden des Gläubigen, bevor Christus erschien. Es ist der große Mittelpunkt aller Wege Gottes (Röm 3,19–26).
Unter dem Gesetz war es eine Frage der Gerechtigkeit von Seiten des Menschen; unter dem Evangelium ist göttliche Gerechtigkeit von Seiten Gottes offenbart; es ist „die Kraft Gottes zum Heil jeglichem Glaubenden.“ Unter dem Gesetz hatte der Mensch zu wirken. „Tue das, so wirft du leben.“ Gott war, als Er das Gesetz gab, hinter der Wolke und wohnte in dichter Finsternis. „Also trat das Volk von ferne, aber Mose nahte sich hin zu dem Dunkel, da Gott innen war“ (2. Mo 20,21). In dem Evangelium hingegen ist Gott der wirkende Teil; und der Mensch hat nur zu glauben. Aber nachdem er durch Glauben ewiges Leben und göttliche Gerechtigkeit empfangen hat, ist er nicht nur befreit von toten Werken, sondern auch befähigt, dem lebendigen Gott zu dienen; und jetzt erst beginnt sein Tun, sein Wirken.
So hat also, wie wir gesehen haben, der Tod Christi alles verändert. Der Charakter des Verhältnisses des Menschen zu Gott ist ein ganz anderer geworden. Sogar selbst der Himmel ist seit dem Tod Jesu verändert. Jetzt befindet sich Christus dort als der auferstandene Mensch und als der große Hohepriester seines Volkes; und auch sein Volk genießt jetzt das Vorrecht, dort mit Ihm anbeten zu dürfen. Die Anbetung im Vorhof ist gänzlich aufgehoben; alle Christen sind Priester; und die Stätte ihrer Anbetung ist im Allerheiligsten.
Eine erweckte Seele wird oft durch die Versicherung in Verlegenheit gebracht, dass die Sündenfrage in Betreff derer, welche im Vertrauen auf Christus zu Gott zurückkehren, nimmermehr aufgeworfen werde. Das bereits Gesagte zeigt den Grund dieser wunderbaren Gnade. Die Sündenfrage ist auf dem Kreuz zwischen Gott und dem Menschen in Ordnung gebracht worden; sie kann nimmer wieder erhoben werden zwischen Gott und dem Sünder, wenn dieser an Jesus glaubt.
Wählen wir ein Beispiel. Setzen wir voraus, dass der schrecklichste Sünder von seinen Sünden überführt und unter dem Gefühl ihrer Größe und Menge voll Furcht und Zittern zu Gott geführt würde. Er naht im Glauben; er ist überzeugt, dass Christus für Sünder starb, und dass sein Blut völlig genügend ist, ihn von seinen Sünden zu reinigen. Vielleicht mag er nicht fähig sein, diese Dinge so aufzustellen, wie sie niedergeschrieben sind; aber ihrem Wesen nach sind sie in seiner Seele. Wohlan, was begegnet ihm? Wie wir der empfangen? Soweit wir die Wege Gottes in Gnade gegen den Sünder verstehen, sollten wir sagen, dass er angenommen, anerkannt, geehrt und gesegnet werde nach dem Maß dessen, was Christus als dem Heiland der Sünder zukommt. Aber nein, weit mehr – er wird empfangen, wie Christus selbst, „begnadigt in dem Geliebten.“ Das Wort Sünde wird nimmer wieder ermahnt. Würde Gott diese Frage dem Sünder gegenüber aufwerfen, so würde dieser auf Tausend nicht eins zu antworten vermögen: er würde unbedingt in die Verdammnis gehen müssen. Aber gepriesen sei der Gott aller Gnade, der Vater unseres Herrn! – der Verlorene wird mit offenen Armen empfangen und mit dem Kuss des völligsten Friedens willkommen heißt. Offenbar ist das Werk Christi der Grund, und der Reichtum göttlicher Gnade der Maßstab aller Segnungen. „In welchem wir die Erlösung durch sein Blut haben; die Vergebung der Vergehungen nach dem Reichtum seiner Gnade“ (Eph 1,7). Würde er empfangen, was ihm selbst gebührt, so würde unmittelbare, unvermeidliche Verdammnis sein Los sein. Gott würde in der Verdammnis des Sünders seine Gerechtigkeit erweisen; aber auf dem Grund des Werkes Christi ist Er „gerecht und rechtfertigt den, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,19–26).
Jetzt unter der Gnade: der Mensch glaubt und Gott handelt. Dieses ist es, was wir verstehen unter dem Ausdruck: „das Evangelium Gottes“, oder was dasselbe ist: „die Gerechtigkeit Gottes.“ Es ist die Offenbarung Gottes selbst in seinen gnadenreichen Handlungen gegen den Menschen nach der Größe seiner eigenen Güte und der Ansprüche Christi – des auferstandenen Menschen in Herrlichkeit.
Der hochgelobte Herr hat Gott so verherrlicht und unsere Sünde am Kreuz so völlig getilgt, dass Gott dem zurückkehrenden Sünder, wie Christus selbst, begegnen kann; und dieses ist die Darstellung des „Evangeliums Gottes.“ Und wir glauben bestimmt behaupten zu können, dass das Evangelium erst dann wirklich verstanden wird, wenn es als das „Evangelium Gottes“ erkannt ist. Welch herrliches Evangelium! Welch eine köstliche Botschaft für den schuldigen Menschen! Welche Gnade! Welch wunderbare Gnade!
Und gerade dieses Zeugnis der Gnade Gottes macht die Folgen für den Hörer so ernst und bedeutungsvoll. Wie groß wird die Schuld derer sein, welche solch ein Evangelium vernachlässigen oder gar verachten! Und ach, wie bitter muss die Angst einer Seele sein, wenn sie in den Tiefen eines unaussprechlichen Wehes die schrecklichen Erfolge ihrer selbst erwählten Wege erblickt. Alle Hoffnung ist dann verschwunden, der Tag der Gnade vorübergegangen, die Gnadentür verschlossen, und kein Ohr lauscht mitleidig auf dein verzweiflungsvolles Jammergestöhn. Und ach! schmerzliche Erinnerungen quälen dein Herz. Jeder Tag, jede Stunde der Vergangenheit – alles erhebt seine Anklagen gegen dich! Alle blendenden Täuschungen des Unglaubens machen einer schrecklichen Wirklichkeit Platz. Alle auf der Erde so gewöhnlichen Dinge finden keinen Raum in der Hölle. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – alles zeigt sich in seiner wahren, entsetzlichen Gestalt. Schlummer, Rast und Ruhe sind für immer geflohen; und Angst, Entsetzen und Verzweiflung füllen dann deine unsterbliche Seele. Ach, in welchem Jammer wird sich eine Seele befinden, welche in dieser Weise dem Verderben anheimgegeben ist, zumal wenn sie einst Gelegenheit hatte, das Evangelium hören zu konnten.
O Sünder! Sünder! – höre, glaube! Deine Tage sind gezählt – deine letzte Stunde wird bald schlagen – täusche dich nicht! Wende dich heute noch zu Jesu, dem Heiland der Sünder! Wo die Sünde überströmend ist, da ist die Gnade weit überschwänglicher. An diesem Tag der wunderbaren Gnade sind deine Sünden, wie groß ihre Menge auch sein mag, alle von dem Augenblick an vergeben, wo du im Glauben zu Jesu nahst. Viele verlorene Söhne, welche, nachdem der Reiz der Sünde verschwunden ist, die Bitterkeit derselben fühlen, würden gern in ihr irdisches Vaterhaus zurückkehren; aber sie fürchten die Vorwürfe ihres Vaters und die Schmach und Schande, die ihr Los sein würde, und sie vermögen nicht zurückzukehren. Hätten sie die Gewissheit, dass der Vater sie fröhlich willkommen heißt und ihnen ihre Vergehungen vergeben würde, so würden sie sicher wie auf den Flügeln des Windes zu ihm eilen. Aber ach! der Gedanke an das zürnende Auge des Vaters und an die strengen Worte desselben rauben dem Herzen allen Mut; und unter solch trostlosen Aussichten möchte der unglückliche Sohn lieber in seinen! Elende umkommen, als sich einer solchen Erniedrigung preisgeben. Doch jetzt, du beunruhigte Seele höre und lausche auf die Worte jemandes, welcher wie du die Bitterkeit der Sünde, aber auch die Süßigkeit der vergebenden Gnade kennen gelernt hat. Bei Gott, der in Christus so gern dein Vater sein möchte, stehen die Dinge anders. Nicht nur wirst du willkommen sein; sondern Gott wird dir mit offenen Armen entgegeneilen, und kein Vorwurf in Betreff deines vergangenen Lebens wird über seine Lippen dringen. Die Vergangenheit des Glaubenden ist nicht nur vergeben, sondern auch vergessen. Welch eine Gnade! Welch ein Trost, dieses zu wissen! Die Freude, welche das Herz des Vaters bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes füllt, füllt auch die Herzen aller, welche Ihn umgeben. Kein tadelnder Blick wird dir dort je begegnen; dir wird kein Platz in einem fernen Winkel des Hauses angewiesen werden. Du bist so nahegebracht und so geliebt, wie Christus selbst, wirst dargestellt sein in seiner Herrlichkeit und Schönheit und wirst als der Sohn des Vaters willkommen geheißen und mit allen Würden und Ehren empfangen werden, womit seine Liebe dich zu zieren vermag. O welche Feder würde im Stande sein, die Herrlichkeiten eines Kindes Gottes, eines durch die unumschränkte Gnade Gottes geretteten Sünders schildern zu können?
Und dennoch ach, wie viele Tausende verkaufen, gleich Esau, die Glückseligkeit des Himmels für ein Linsengericht dieser Erde! Wie viele ziehen ein gegenwärtiges, schnell vorübergehendes Glück der künftigen Herrlichkeit vor! Ein gegenwärtiges Glück hat mehr Macht über ihr armes Herz, als das sicherste Anrecht auf eine himmlische Erbschaft. Ist dieses auch bei dir der Fall, mein Leser? Hast du keine Wünsche für deine kostbare Seele? O bedenke doch! deine unsterbliche Seele wird entweder für immer glücklich, oder für immer elend sein. Vielleicht in gar kurzer Zeit wird sie entweder im Himmel oder in der Hölle sein. O mein Leser, es ist deine eigene Seele – ruiniere sie nicht, ich bitte dich! Sie ist fähig, sich Gottes und einer ewigen Herrlichkeit zu erfreuen; darum stürze sie nicht in die Tiefen der Hölle, in die bodenlosen Abgründe des Verderbens! Es ist deine Seele; und sie sollte für dich ein Gegenstand der zärtlichsten Besorgnis auf Erden sein. Wird es nicht entsetzlich bitter sein, einst sagen zu müssen: „Ich habe das ganze Verderben und das ganze Elend durch eigene Schuld über mich gebracht, und kein Entrinnen ist mehr möglich.“ Ach! dann gibt es keine Hoffnung. Schreckliche Verzweiflung wird dein Herz zu Boden drücken, und du wirst fern sein von allen denen, die einst Mitgefühl für dich hatten, die einst dich warnten, für dich beteten und vielleicht Tränen über dich vergaffen. Dann wird die Erinnerung ihren verwundenden Stachel fühlen lassen, Gewissensbisse werden dich quälen und deine bebenden Lippen werden sich zu der Klage öffnen: „Ach! dass ich einst die Gelegenheit vorübergehen ließ, die Warnungen verachtete, dem Licht aus dem Weg ging, und die Stimme des Gewissens zum Schweigen brachte! Wehe, wehe mir!“
Aber warum sollte der Schreiber dieser Zeilen bei solch entsetzlichen Szenen noch länger verweilen? Gewiss liebt er nicht ein solches Thema, aber er möchte gern aus Liebe diejenigen warnen, welche in Gefahr sind, sich hoffnungslos in das entsetzliche Elend zu stürzen. Hast du, mein Leser, dein Herz zu Jesu gewandt, dann schließe ich gern diesen Abschnitt und wende mich mit dir zum Herrn, um mit dir zu trinken aus dem Born einer grenzenlosen Gnade, offenbart in Christus Jesus, unserem hoch gepriesenen Herrn! Ihm allein gebührt Ehre, Lob und Anbetung! (Schluss folgt)