Einführende Vorträge zum Hebräerbrief
Kapitel 1
Der Brief an die Hebräer unterscheidet sich in einigen bedeutenden Gesichtspunkten von allen anderen Briefen, die wir schon betrachtet haben, sodaß viele Leser sich gefragt haben, wer ihn geschrieben hat: der Apostel Paulus, Apollos, Barnabas oder sonst jemand? Darüber gibt es für mich persönlich keinen Zweifel. Ich glaube, daß Paulus, und niemand anderes, der Autor ist und daß der Brief eindeutig die inneren Wesenszüge seiner Lehre enthält. Der Stil weicht ab und auch der Umgang mit der Wahrheit. Aber die Linie der Wahrheit, obwohl sie vom Thema beeinflußt wird, welches der Autor im Blick hat, ähnelt viel mehr derjenigen eines Paulus als irgendeines anderen Schreibers. Sie paßt nicht zu Petrus, Johannes, Jakobus oder Judas, sondern ausschließlich zu Paulus.
Ein guter und einsichtiger Grund, warum diesem Brief ein anderer Charakter aufgeprägt ist, liegt darin, daß er das dem Paulus zugemessene Arbeitsfeld verläßt. Paulus war der Apostel der Vorhaut. Indem er zur Belehrung von Juden schrieb, wie es hier eindeutig geschieht, nämlich zu Gläubigen oder Christen, welche einst zu jener Nation gehörten, befand er sich ganz offensichtlich außerhalb der gewöhnlichen Verpflichtung seines apostolischen Werkes.
Es gibt noch einen anderen Grund, warum der Brief an die Hebräer so fühlbar und wesentlich von den übrigen Schriften des Apostel Paulus abweicht. Er folgt, genau gesagt, überhaupt nicht aus der Ausübung einer Apostelschaft. Hier betätigt sich der Schreiber (obwohl er ein Apostel war) einfach als Lehrer, und zwar nicht als Lehrer für die Nationen, wie er sich anderswo bezeichnet (2. Tim 1,11), sondern für die Juden. Nun ist eigentlich klar, daß Paulus, der ein Apostel und Prediger und Lehrer der Nichtjuden in Glauben und Wahrheit war, merkbar von seiner üblichen Schreibweise in der Anwendung und Darstellung der Wahrheit Gottes abweichen mußte, sobald er vom Heiligen Geist angeleitet wurde, jene Erlösten anzuschreiben, die früher zum alten jüdischen Schafhof gehörten. Wir besitzen jetzt dieses gesegnete Ergebnis seines Dienstes außerhalb seines normalen Wirkkreises; und es ist das schönste und tatsächlich einzige Beispiel von Belehrung im Neuen Testament, das wirklich so bezeichnet werden kann. Es handelt sich nicht um eine Offenbarung durch prophetische oder apostolische Autorität; und aus diesem Grund, nehme ich an, stellt Paulus sich nicht vor. Es ist immer ein Fehler, wenn der Lehrer als solcher in den Vordergrund tritt. Nicht er selbst, sondern die Lehre sollte unterweisen und die Aufmerksamkeit fesseln. Doch bei der Offenbarung einer Wahrheit geht es nicht anders, als daß die Person, welche Gott benutzt, notwendigerweise den Zuhörern vorgestellt werden muß. Darum achtete der Apostel sorgfältig darauf, auch wenn er einen Brief nicht selbst geschrieben hatte, ihn mit seinem Namen zu zeichnen. Er stellte sich schon am Anfang durch den Schreiber (das Wort im engl. Orig. bedeutet „Sekretär“; Übs.), dem er diktierte, vor; und unterschrieb mit achtsamer Sorgfalt jeden Brief am Ende mit seinem Namen (2. Thes 3, 17).
Wenn er an die hebräischen Gläubigen schreibt, handelt er nicht so. Hier ist der Apostel er selbst. Er war nicht nur der Apostel der Nichtjuden, sondern auch ein Lehrer; und Gott sorgte dafür, daß der Mann, der ausdrücklich „ein Lehrer der Nationen“ genannt wurde, auch die christlichen Juden belehren sollte. Tatsächlich dürfen wir sicher sein, daß er letztere in einer Weise belehrte, wie sie niemals vorher belehrt worden waren. Er öffnete ihnen die Schriften, wie es ausschließlich Paulus konnte, und zwar dem Evangelium der Herrlichkeit Christi entsprechend. Er belehrte sie über den Wert der lebendigen Aussprüche (Apg 7,38), welche Gott ihnen gegeben hatte; denn das ist der schöne Charakter dieses Briefes. In der Tat, der Hebräerbrief steht einzigartig da. Durch ihn wurde der gläubige Jude dazu geführt, das, was im Alten Testament geoffenbart war, göttlich anzuwenden – das, was sie gewohnheitsmäßig im Gesetz, in den Psalmen und in den Propheten gelesen hatten, und zwar, sozusagen, von der Wiege an; und doch hatten sie diese Wahrheiten niemals vorher in einem solchen Licht gesehen. Jener gewaltige, logische, durchdringende und kenntnisreiche Geist – jenes Herz mit solchen großen und tiefen Zuneigungen, wie sie kaum jemand anderes in seinem Busen vereinigte – jene in wunderbarer Weise und tiefgründig erfahrene Seele – Paulus war derjenige, den Gott jetzt auf einen zweifellos für ihn irgendwie ungewohnten Pfad führte. Wenn wir diesen Pfad erst einmal als geltend anerkannt haben, beweist er sich durch göttliche Weisheit einem jeden Herzen, das durch den Glauben gereinigt ist.
Durch Petrus, der, wie wir wissen, vor allem der Apostel der Beschneidung war, öffnete Gott zum ersten Mal die Tür zum Reich der Himmel den Nichtjuden. Paulus hingegen wandte sich mit dem Einverständnis der Führer im Werk unter der Beschneidung den Nichtjuden zu. Nichtsdestoweniger benutzte der Geist Gottes (möglicherweise sogar ohne diejenigen, die in Jerusalem in Ansehen standen, zu fragen) Paulus, um an die Gläubigen aus der Beschneidung die umfassendste Abhandlung über die Beziehung Christi und des Christentums zum Gesetz und zu den Propheten zu schreiben. Dabei beschäftige er sich besonders in praktischer Weise mit den Nöten, Gefahren und Segnungen der Juden. Indem Er so handelte, warnte Gott auch nachdrücklich vor jeder rein mechanischen Art einer strengen Grenzziehung, wozu sogar Christen neigen. Der Mensch liebt, die Dinge einer genauen Schablone zu unterwerfen. Er verlangt, daß alles seinen eigenen besonderen Platz einnimmt. Jede Person soll in dem ihr zugemessenen Bereich wirken unter Ausschluß jeder anderen. In bewunderungswürdiger Weisheit leitet der Herr Sein Werk und den Arbeiter. Er handelt jedoch nie ausschließend; und der Apostel Paulus ist hier, wie gerade gezeigt, der Beweis auf der einen wie Petrus auf der anderen Seite.
Was ist unter der gesegneten Leitung des Heiligen Geistes das Ergebnis? Auf jeden Fall war nicht Paulus der große Lehrer der Gläubigen aus den Juden. Aber dennoch wollte Gott sich durch ihn an die Seinigen richten bezüglich der Worte, Tatsachen, Zeremonien, Ämter und Personen, welche dem auserwählten Volk schon lange vertraut waren. Paulus Name erscheint also nicht. Das kann keineswegs auf menschliche Überlegungen zurückzuführen sein – jedenfalls nicht so zwanglos. „Nachdem Gott vielfältig“, schreibt er, „und auf vielerlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet im Sohne, den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat.“ (V. 1–2). Paulus wollte den Empfängern also die unendliche Würde des Messias zeigen, den sie angenommen hatten. Niemals erlaubte Paulus eine Abschwächung der persönlichen Rechte oder der öffentlichen Stellung des Gesalbten Jahwes. Im Gegenteil, er wollte sie anleiten, in ihrem Messias das zu finden, was sie bisher nie in Ihm gesehen hatten; und, es ist wunderbar zu sagen, er gründet seine Beweise nicht auf neue Offenbarungen, sondern auf gerade jene Worte Gottes, welche sie so oberflächlich gelesen und deren Tiefen sie niemals erfaßt hatten. Das war für sie völlig unerwartet. Sie kannten die Gegebenheiten des Christentums. Aber daß die ganze Heilige Schrift mit der Person, dem Werk und der Herrlichkeit Christi in Verbindung steht, mußten sie noch entdecken.
Beachten wir auch die Schreibweise des Autors. Er knüpft sorgfältig die Verbindungsfäden zum Wort Gottes und Seinen Wegen im Altertum; und dennoch gibt es keinen einzigen weiteren Brief, der sorgfältiger in seiner ganzen Darstellung den Gläubigen in eine gegenwärtige Verbindung mit Christus im Himmel bringt. Ich denke, wir dürfen kühn sagen: Keiner so weitreichend. Vom Anfang des Briefes an sehen wir Christus nicht einfach als tot und auferstanden, sondern auch als verherrlicht im Himmel. Es kann darüber keinen Zweifel geben, daß der Schreiber von seinen Lesern ein Festhalten an der Wahrheit wünschte, daß derselbe Jesus, der auf der Erde alles erlitten hat, jetzt zur Rechten Gottes sitzt. Aber zunächst hören wir in Kapitel 1 von Ihm als Sohn Gottes in der Höhe; und zudem sehen wir Ihn in Kapitel 2 im Himmel als Sohn des Menschen. Tatsächlich hatte Paulus den Herrn dort zum ersten Mal geschaut. Wer war also ähnlich geeignet, Jesus, den verworfenen Messias, zur Rechten Gottes zu schildern wie Saulus von Tarsus? Auf dem Weg nach Damaskus wurden jenem Standfestesten unter den Juden zum ersten Mal die Augen geöffnet. Der Natur nach wurde er geblendet, aber durch die Gnade konnte er um so mehr mittelst der Kraft des Heiligen Geistes den verherrlichten Christus erkennen.
Paulus richtete demnach, als er an christliche Juden schrieb, zunächst ihre Aufmerksamkeit auf Christus im Himmel. Doch er tat es in einer Weise, welche den ihm geschenkten einzigartig feinfühligen Takt zeigt. Wahre Zuneigung ist angesichts einer Gefahr vorsichtig ihrem Gegenstand gegenüber. Es gefällt ihr, wirksam zu helfen. Sie geht keinesfalls gleichgültig darüber hinweg, ob ihre Handlungsweise jene verwundet, deren Gutes sie sucht. In keinster Weise werden die früheren Botschaften Gottes in den Tagen ihrer Väter vergessen. Auch würde niemand aus diesem Brief entnehmen können, daß sein Schreiber unter den Nichtjuden arbeitete – ja, noch nicht einmal, daß es in dem Herrn Jesus eine Berufung von nichtjüdischen Gläubigen gab. Von beiden Tatsachen spricht der Hebräerbrief nicht. Daher können wir verstehen, warum regsame Geister, welche sich nur mit der Oberfläche beschäftigen – mit der Methode, dem Stil, der ungewöhnlichen Abwesenheit des Autornamens und anderer Besonderheiten in dem Äußeren dieses Briefes –, nur zu bereit sind, Paulus‘ Autorschaft zu leugnen. Dabei weisen sie auch wenig Bedeutung der allgemeinen Überlieferung zu, welche ihn Paulus‘ Schriften zuzählt. Jene Menschen sollten sich eingehender mit den Tiefen des Briefes beschäftigen und, falls er wirklich von Paulus geschrieben wurde, nach Beweggründen für die offensichtlichen Unterschiede suchen.
Sicherlich wird hier jede Anspielung auf den einen Leib vermieden. Es gab indessen eine Person, die Paulus näher stand und lieber war als sogar die Kirche (Versammlung). Es gab eine Wahrheit, für die Paulus sich noch mehr Mühe gab, sie hoch zu halten, als die von dem einen Leib, in dem es weder Jude noch Grieche gibt, nämlich die Herrlichkeit Dessen, der sein Haupt ist. Christus war es, der die Versammlung Gottes ihm kostbar machte. Christus Selbst ist unendlich kostbarer als sogar die Kirche, welche Er so sehr geliebt und für die Er Sich selbst gegeben hat. Paulus letzte Botschaft an seine Brüder nach dem Fleisch und im Geist sollte sich folglich mit Christus beschäftigen. Genauso wie der Apostel seine Predigt in den Synagogen damit begann, daß Er der Sohn Gottes ist (Apg 9), so beginnt er auch den Brief an die Hebräer. Er wollte sie weiterführen, und zwar mit zarter, aber auch fester und kenntnisreicher Hand. Er wollte liebevoll und weise ihre Erkenntnis vertiefen. Er wollte nicht an ihrem Unglauben, ihrer Liebe zur Bequemlichkeit, ihrer Wertschätzung äußeren Schaugepränges und ihrer Furcht vor Leiden teilnehmen. Statt dessen wollte er sich mit jedem Irrtum in seinem richtigen Zusammenhang beschäftigen. Er wollte seine Hand energisch auf alles legen, was ihr Abweichen vom Glauben befürchten ließ, aber auch kleinere Schwierigkeiten sanft aus dem Weg räumen. Nachdem er indessen ihr Ohr gewonnen hatte und sie fähig waren, den strahlenden Lichtglanz und die Vollkommenheiten des großen Hohenpriesters zu sehen, wird keine Warnung kraftvoller als die, welche dieser Brief gegen die drohende und unheilbare Gefahr jener ausspricht, welche Christus um der religiösen Form willen oder um der Sünde zu frönen aufgeben. Alles wird in der vollen Kraft des Geistes Gottes und dennoch mit der einfühlsamsten Beachtung jüdischer Vorurteile vorgetragen. Das ist begleitet von achtsamster Sorge, jede Begründung für seine Lehre aus ihren eigenen alten, so wenig verstandenen Zeugnissen herzuleiten.
Es ist jedoch vom Beginn des Briefes an offensichtlich, daß Paulus, obwohl er die alt-testamentlichen Schriften nicht gering schätzt, sondern festhält, den Juden keineswegs erlaubt, diese zur Verunehrung des Herrn Jesus zu mißbrauchen. Wie hat Gott zu den Vätern gesprochen? „Vielfältig und auf vielerlei Weise.“ So hatte Er auch durch die Propheten geredet. Es geschah bruchstückhaft und unterschiedlich und war nicht eine volle und endgültige Offenbarung Seiner Selbst. Achten wir auf die verständige Argumentierung! Auf diese Weise beschneidet Paulus durch die unleugbaren Tatsachen des Alten Testaments jene hochmütige Selbstgefälligkeit der Juden, welche Mose und Elia einem Hören auf den Sohn Gottes entgegenstellten. Hatte Gott zu den Vätern in den Propheten geredet? Zweifellos! Paulus, der Israel liebte und dessen Vorrechte viel mehr als sie selbst schätzte (Röm 9), war der letzte, um jene Tatsache zu leugnen oder abzuschwächen. Aber wie hatte Gott damals gesprochen? Hatte Er früher die Fülle Seiner Gedanken enthüllt? Keinesfalls! Die frühen Mitteilungen waren nur gebrochene Strahlen, nicht das ungebrochene und vollkommene Licht. Wer konnte leugnen, daß darin das Wesen des ganzen Alten Testaments bestand? Aber Paulus führt den Gesichtspunkt des offensichtlichen und notwendigen praktischen Charakters dessen, was in alten Zeiten geoffenbart war, so vorsichtig ein, daß beim ersten – ja, eigentlich bei jedem flüchtigen – Lesen die Hebräer genauso wenig erkannten wie, wir müssen es (wie ich annehme) für uns selbst bekennen, die meisten von uns. Aber diese Wahrheiten stehen dort; und wenn wir damit beginnen, die göttliche Gewißheit eines jeden Wortes zu erwägen, beschäftigen wir uns immer wieder mit seiner Bedeutung.
Wenn herausgestellt wird, daß die prophetischen Mitteilungen Gottes früher in vielen einzelnen Portionen gegeben wurden, so gab es auch unterschiedliche Weisen ihrer Darstellung. Ohne Zweifel war dieses die Form, in der Er Seine Offenbarungen nach und nach Seinem Volk gewährte; und gerade aus diesem Grund waren sie nicht vollständig. Gott gab Seine verschiedenen Worte Stück für Stück – „hier ein wenig, da ein wenig.“ (Jes 28,10.13). Das kennzeichnete Sein Handeln mit Israel. Die Israeliten – und auch der Mensch als solcher – konnten nicht mehr vertragen, bevor die Erlösung vollbracht, der Sohn Gottes gekommen und Seine Herrlichkeit völlig geoffenbart war. Wenn also den Vätern Verheißungen gegeben wurden, gingen sie nie über die irdische Herrlichkeit Christi hinaus. Gott waren natürlich alle Dinge von Anfang an bekannt. Dennoch verließ Er nie den Bereich Seines Weges mit Seinem Volk. Als die Israeliten sich indessen in Bezug auf ihr Verhältnis zu Ihm mehr und mehr offenbarten – und ach!, vor allem in ihrer Schwachheit und ihrem Verderben –, dämmerten allmählich höhere Wahrheiten auf als notwendige Stütze für das Volk. Man wird folglich unveränderlich diese beiden Gegebenheiten zusammen finden: Verkleinere die Herrlichkeit Christi, so wird auch dein Urteil über den Zustand des Menschen wenig tiefgründig bleiben! Beachte den vollständigen und uneingeschränkten Ruin des Geschöpfes, so wirst du empfinden, daß niemand als nur der Sohn in all Seiner Herrlichkeit ein passender Retter für dasselbe sein kann!
Der Apostel wurde nun vom Heiligen Geist angeleitet, diese Gläubigen von ihren armseligen, dürftigen und irdischen Gedanken über Christus zu entwöhnen. Denn das ist die weitverbreitete Neigung unter den Erlösten: Den geringsten Teil unserer Segnung zu nehmen und sich mit dem zu beschäftigen, von dem wir annehmen, daß wir es benötigen und daß es für uns erstrebenswert sei, und uns damit zufrieden zu geben. Gott hingegen hat in Seinem Herzen Absichten, welche Seiner Herrlichkeit angemessen sind; und diese will Er verwirklichen. Dabei paßt Er Sich durchaus den ersten Bedürfnissen einer Seele und ihrer schwächsten Antwort auf die Person Christi durch die Wirksamkeit des Geistes Gottes in uns an. Denn treu ist, der verheißen hat, der wird es auch tun (vgl. 1. Thes 5, 24!). Er möchte, daß alle den Heiland so lieben wie Er; und alles, was Er für die Ehre unseres Erretters tun will, hat Er uns vollständig enthüllt. Zweifellos setzt das den Auferstehungszustand voraus. Vorher kann es nicht zur Ausführung gelangen. Dennoch wirkt Er jetzt schon in Gnade, damit wir stufenweise lernen, daß ausschließlich ein solcher Heiland und Herr – der Glanz Seiner Herrlichkeit, der volle Ausdruck Seines Wesens, der Sohn Gottes Selbst – Gott und uns genügen kann.
Nachdem der Schreiber angedeutet hat, daß jede Offenbarung von Seiten Gottes an die Väter nur Stückwerk war – „vielfältig“ und „auf vielerlei Weise“ –, teilt er den Empfängern im nächsten Vers mit, daß derselbe Gott „am Ende dieser Tage zu uns geredet (hat) im Sohne, den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat.“ Wenn die Herrlichkeit des Sohnes von dieser Art und so groß ist – was muß dann Sein Wort bedeuten? Welche Fülle muß die Wahrheit annehmen, die Gott jetzt durch Ihn Seinem Volk mitteilt? Sollte das die Herrlichkeit des Messias beeinträchtigen? Die Hebräer sollten vielmehr darauf achten, daß von ihrer Seite keine Geringschätzung Seiner Person vorliegt. Wer könnte eine solche Mißachtung gerechterweise Gott zuschreiben? Denn wer war Er, dieser Messias, mit dem sie sich gerne als ihrem König beschäftigten und der, wenn es irgend möglich wäre, sie selbst – das alte Volk Gottes – erhöhen sollte? Er war der Abglanz der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck Seines Wesens – Derjenige, der nicht nur Israel und sein Land, sondern alle Dinge „durch das Wort seiner Macht“ trug. Doch hören wir weiter! „Nachdem er durch sich selbst die Reinigung der Sünden bewirkt...“ (V. 3). Wird nicht das ganze jüdische System durch eine solche Wahrheit aufgehoben? „Nachdem er durch sich selbst die Reinigung der Sünden bewirkt...“ Jedes andere Werkzeug ist ausgeschlossen. Es gab keine Hilfe, kein Rettungsmittel. Er selbst nahm die Aufgabe auf sich und erfüllte sie; und nachdem Er Sein Werk vollbracht hatte, setzte Er sich „zur Rechten der Majestät in der Höhe; indem er um so viel besser geworden ist als die Engel, als er einen vorzüglicheren Namen vor ihnen ererbt hat.“
Das ist der erste Teil der Lehre, auf welcher der Apostel besteht. Falls irgendwelche Wesen besondere Bedeutung oder Erhöhung in den Augen eines Juden genossen, dann waren es die heiligen Engel – und kein Wunder! Gewöhnlich erschien Jahwe früher in ihrer Gestalt, wenn Er die Väter oder die Kinder Israel besuchte. Es gab Ausnahmen; doch in der Regel wurde jene Person, welche in den früheren Tagen den Willen Jahwes an die Väter bekannt machte und Seine Herrlichkeit offenbarte, als „Engel Jahwes“ bezeichnet. In dieser Weise stellte Er Sich vor. Er hatte noch keine Menschheit angenommen. Sie war noch nicht Teil Seiner Person. Ich leugne nicht, daß Er manchmal wie ein Mensch erschien; denn auch ein Engel mag in jeder Verkleidung auftreten, welche Gott gefällt. Aber wie Er Sich auch zeigte – Er war der Repräsentant Jahwes. Folglich verbanden die Juden mit Engeln stets die Vorstellung höchster Wesen, die Jahwe am nächsten standen und als die auserwählten Boten des göttlichen Willens für irgendeine vorübergehende Vision unter den Menschen wirkten. Aber jetzt war Jemand erschienen, Der die Engel bei weitem übertraf. Wer war das? Der Sohn Gottes! Dieser Gedanke hätte sie mit Freude erfüllen sollen.
Wir verstehen leicht, daß jede wirklich aus Gott geborene Seele in Danksagung ausbrechen wird (und muß), wenn sie von einer tieferen Herrlichkeit Christi hört, als sie von Ihm bisher erkannt hat. Wenn wir auf dem Weg der Einfalt von Gott ein Verständnis der Herrlichkeit des Herrn empfangen haben, dürfen wir hier nicht auf Ihn entsprechend unserer Erfahrungen blicken. Wir müssen versuchen, unsere Gedanken in jene Zeit zurückzuversetzen, um die Vorurteile und Schwierigkeiten eines Juden zu verstehen. Es bestanden für ihn besondere Verständnishürden; und eine der größten von ihnen war die Vorstellung, daß eine göttliche Person Mensch werden konnte; denn ein Mensch stand in den Augen der Juden weit unter einem Engel. Gibt es heutzutage nicht viele Menschen, selbst unter den bekennenden Christen (zu ihrer Schande sei es gesagt), die ähnlich denken? Nicht jeder Christ weiß, daß ein einfacher Engel als solcher nur ein Diener ist. Nicht jeder Christ versteht, daß der Mensch zum Herrschen bestimmt ist. Zweifellos ist letzterer ein Diener – jedoch nicht einfach ein solcher, der Befehle auszuführen hat. Er besaß einen gegebenen Bereich, in welchem er als das Bild und die Herrlichkeit Gottes herrschen sollte. Das galt niemals für einen Engel – so etwas gab es nicht und kann es niemals geben. Die Juden verstanden diese Wahrheit noch nicht. Kein Mensch wäre jemals auf diesen Gedanken gekommen. Auch die Masse der Christenheit heute ist diesbezüglich völlig unwissend. Der Zeitpunkt, die Art und Weise und der einzige Weg, in welchen eine solche Wahrheit erkannt werden kann, ist in der Person Christi; denn Er wurde nicht ein Engel, sondern ein Mensch.
Gerade in jener Wahrheit bestand ihre Schwierigkeit, welche für uns so einfach ist; denn wir haben den erstaunlichen Platz erkannt, den der Mensch in der Person Christi einnimmt. Sein Menschsein mußte Ihn notwendigerweise unter einen Engel erniedrigen, dachten sie. Der Apostel hatte darum das zu beweisen, was für uns ohne Diskussion offensichtliche Wahrheit – eine Offenbarung seitens Gottes – ist. Diese Beweisführung entnimmt er ihren heiligen Schriften. „Denn zu welchem der Engel hat er je gesagt: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“?“ (V. 5). Nun, es ist wahr, daß Engel gelegentlich „Söhne Gottes“ genannt werden (z.B. Hiob 1). Aber niemals vorher hatte Gott jemand herausgestellt und zu ihm gesagt: „Du bist mein Sohn.“ In einer unbestimmten allgemeinen Weise spricht Er von allen Menschen als Seinen Söhnen. Ähnlich redet Er auch von Engeln als Söhnen. Adam war ein Sohn Gottes (Lk 3, 38) – und zwar unabhängig von der Gnade Gottes – einfach schon als ein Geschöpf, in dessen Nase Gott den Odem des Lebens gehaucht hatte. Adam war ein Sohn Gottes; Engel sind Söhne Gottes. Aber zu welchem Engel hat Er je in einer solchen Weise gesprochen? Zu keinem! Er sagte diese Worte zu einem Menschen; denn Er sprach von dem Herrn als Messias hienieden; und darauf liegt der Nachdruck in diesem Abschnitt. Der Ausspruch gilt nicht dem Sohn in Seinem ewigen Charakter. Darin läge nichts Wunderbares. Gewiß wäre niemand davon überrascht, daß der Sohn Gottes unter dem Gesichtspunkt Seines ewigen Wesens größer als ein Engel sein sollte. Aber daß Er, ein kleines Kind auf der Erde, als Sohn der Jungfrau betrachtet, über allen Engeln im Himmel stand – das war ein Wunder in jüdischen Augen. Doch was wurde in ihren Schriften klarer bewiesen? Nicht einem Engel im Himmel, sondern dem Säugling in Bethlehem sagte Gott: „Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt“ und außerdem: „Ich will ihm zum Vater, und er soll mir zum Sohne sein.“ Letzteres wurde geschichtlich gesehen von Davids Sohn gesagt. Wie üblich wurde jedoch vorausgeblickt auf einen größeren als David oder seinen weisen Sohn, der David unmittelbar folgte. Christus ist der wahre und beständige Gegenstand des Heiligen Geistes in Seiner Inspiration.
Als nächstes folgt ein noch kraftvollerer Beweis Seiner Herrlichkeit: „Wenn er aber den Erstgeborenen wiederum in den Erdkreis einführt, spricht er: „Und alle Engel Gottes sollen ihn anbeten“.“ (V. 6). Weit davon entfernt, in irgendeiner Weise an die Herrlichkeit des Herrn Jesus heranzureichen, befiehlt Gott Selbst allen Engeln, den Herrn anzubeten. „Und in Bezug auf die Engel zwar spricht er: „Der seine Engel zu Winden macht und seine Diener zu einer Feuerflamme.““ (V. 7). Sie sind nur Diener, wie groß auch ihre Macht, ihre Aufgabe und ihr Wirkungsbereich sein mögen. Sie mögen eine einzigartige Stellung als Diener einnehmen und eine geistliche Natur nach dem Wohlgefallen des Herrn; dennoch sind sie nur Diener. Sie herrschen nicht. „In Bezug auf den Sohn aber: „Dein Thron, o Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und ein Zepter der Aufrichtigkeit ist das Zepter deines Reiches; du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehaßt; darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl über deine Genossen.““ (V. 8–9). Nichts wird von Seinen Genossen gesagt, bevor Gott Selbst Ihn als Gott angeredet hat. Die Engel beten Ihn an. Gott begrüßt Ihn als Gott; denn das war Er. Er betrachtete es nicht als Raub, Gott gleich zu sein – eins mit dem Vater (Phil 2, 6).
Das ist indessen bei weitem nicht alles. Die Kette des biblischen Zeugnisses wird weiterverfolgt und mit einem anderen, noch wunderbareren Zitat bestätigt. Das Wort „Gott“ kann auch in einem untergeordneten Sinn verwendet werden. Elohim hat Seine Stellvertreter, die daher ebenfalls „Götter“ genannt werden. Richter und Könige werden in der Bibel so genannt. Der Herr spricht selbst davon zu den Juden (Joh 10, 34–35). Das Wort Gottes kam herab und beauftragte sie, in irdischen Dingen zu regieren; denn es geht hier nicht um mehr als richterliche Angelegenheiten. Trotzdem waren sie da und vertraten in ihrem Wirkbereich die Autorität Gottes. Sie werden „Götter“ genannt, wenn auch mit einer eindeutig sehr untergeordneten Machtvollkommenheit. Es gibt indessen noch einen anderen Namen Gottes, der nie verwendet wird außer mit der Bedeutung unumschränkter Oberhoheit. Das ist der furchterregende und unübertragbare Name „Jahwe“. Wird der Messias denn irgendwo als „Jahwe“ bezeichnet? Sicherlich! Unter welchen Umständen? In Seiner tiefsten Erniedrigung! Ich betrachte jetzt nicht den Gesichtspunkt des Verlassenseins Christi durch Gott, obwohl es sich um dieselbe Zeitspanne handelt.
Wir Gläubigen alle verstehen durchaus das ernste Gericht über unsere Sünden von Seiten Gottes, als Jesus am Kreuz die Sühnung vollbrachte. Wir finden in dem Kreuz indessen noch mehr. Das ist der Gegenstand von Psalm 102. Der Messias wurde vom Menschen und vom Volk vollständig der Schande ausgesetzt. Dennoch nahm Er – und darin lag Seine Vollkommenheit in diesen Umständen – alles aus der Hand Jahwes. In dieser Lage „schüttete Er Seine Klage aus“ 1. Jahwe hob Ihn empor; und Jahwe warf Ihn nieder (Ps 102, 10). Stände hier, wie in Psalm 22, die Sühne im Blickfeld, würde dann nicht zuerst von Seinem Niederwerfen und danach von Seinem Emporheben gesprochen? Das ist die Art, in der wir Christen natürlicherweise an Christus denken, weil es den Bedürfnissen des Sünders und der Antwort Gottes in Gnade näher steht. Hier jedoch hebt Jahwe Ihn empor und wirft Jahwe Ihn hin. Das bezieht sich offensichtlich auf Seinen Platz als Messias und nicht auf Seine Stellung als der leidende und danach verherrlichte Christus als Haupt der Kirche. Er wurde als der wahre Messias auf der Erde von Jahwe emporgehoben und wurde auch auf der Erde von Jahwe niedergeworfen.
Zweifellos war der Mensch das Werkzeug dabei. Die Welt, welche Er gemacht hatte, erkannte Ihn nicht. Sein eigenes Volk nahm Ihn nicht an und wollte Ihn nicht haben. Der jüdische Unglaube haßte Ihn. Je mehr die Juden Ihn kennen lernten, desto weniger konnten sie Ihn ertragen. Die Güte, die Liebe und die Herrlichkeit Seiner Person zogen nur die tödliche Feindschaft des Menschen und insbesondere Israels an das Licht; denn sie waren schlimmer als die Römer. Alles dieses nahm Er in der Vollkommenheit Seiner Abhängigkeit von Jahwe an. Er Selbst kam, um zu leiden und von gottlosen Händen den Tod zu empfangen; doch damit erfüllte Er den Willen und die Absichten Gottes, Seines Vaters. Er wußte sehr gut, daß die ganze Macht des Menschen oder Satans nicht einen Augenblick wirksam sein konnten, bevor Jahwe es erlaubte. Daher wurde alles sanftmütig, doch mit keineswegs weniger Qual aus der Hand Jahwes angenommen. Weniger oder anderes wären nicht vollkommen gewesen. Inmitten der tiefsten Empfindung von Seiner Erniedrigung auf die unterste Stufe und indem Er davon Ausdruck gab, nahm der Messias alles von Jahwe an. Außerdem vergleicht Er Seinen eigenen Zustand der Verlassenheit, des Niedergeworfenseins und der Erfolglosigkeit mit zwei Dingen. Erstens erwartete Er ohne Zögern und mit Gewißheit, daß jede Verheißung an Israel und Zion ihre Erfüllung finden wird, während Er, der Messias, sich darunter beugt, jeder möglichen Erniedrigung ausgesetzt zu sein. Außerdem weist Er auf den Gegensatz hin zwischen Ihm selbst und der großen gebietenden Wahrheit der unveränderlichen Beständigkeit Jahwes. Und welche Antwort gelangt aus der Höhe zu dem heiligen Leidenden? Jahwe im Himmel antwortet Jahwe auf der Erde. Er erkennt an, daß der geschlagene Messias Jahwe ist und dieselbe Ewigkeit und Unveränderlichkeit besitzt wie Er Selbst.
Welcher weitere Beweis ist danach noch erforderlich? Welche denkbare Frage bliebe noch übrig? Nichts könnte in Hinsicht auf Seine göttliche Herrlichkeit überzeugender sein! Nach allem diesen hält der Apostel es nur noch für nötig, das verbindende Glied zwischen Christi gegenwärtigem Sitzen auf dem Thron Jahwes im Himmel und den an Schwere zunehmenden Beweisen Seiner göttlichen Herrlichkeit zu zitieren. Er beginnt damit, daß Er Sohn ist, der in der Zeit und in der Welt gezeugt wurde. Danach spricht er ausdrücklich von Seiner Beziehung zu Gott als Nachkomme Davids. Nicht Salomo, außer im Sinnbild, sondern Christus ist in Wirklichkeit und letztendlich gemeint. Er wird von den Engeln Gottes angebetet und als nächstes von Gott als Gott und zuletzt von Jahwe als Jahwe anerkannt. Alles schließt ab mit dem Zitat von Psalm 110, 1, welches darlegt, daß Gott Christus auffordert, sich als Mensch zu Seiner Rechten in der Höhe niederzusetzen bis zur Stunde des Gerichts über Seine Feinde. Psalm 110 ist einer der bedeutungsvollsten Psalmen in der ganzen Sammlung und von größt-möglicher Wichtigkeit. Er spricht sowohl davon, was heute für den Christen eingeführt worden ist (das wird allerdings hier übergangen), als auch von den zukünftigen Segnungen Israels. So stellt er eine Brücke zwischen dem Alten und dem Neuen dar. Darum wird er häufiger im Neuen Testament zitiert als irgendeine andere alttestamentliche Schriftstelle.
Fußnoten
- 1 Siehe den Titel von Psalm 102! (Übs).