Einführender Vortrag zum Titusbrief

Kapitel 1

Einführender Vortrag zum Titusbrief

Die Epistel an Titus hat viele Gemeinsamkeiten mit den Briefen an Timotheus, wie jeder bemerken muss. Das gilt nicht nur dafür, dass sie an Mitknechte und tatsächlich Kinder im Glauben adressiert sind, sondern auch für eine allgemeine Ähnlichkeit in ihrem Charakter. Auch beim Timotheusbrief handelt es sich um einen Hirtenbrief, der an einen Gefährten in der Arbeit gerichtet ist, der sein Werk in den Versammlungen Gottes ausübte. Nichtsdestoweniger gibt es keinen Bibelabschnitt, der nicht seinen eigenen Zweck verfolgt. Außerdem könnte nicht eine einzige Bibelstelle fehlen ohne echten Verlust für die Erlösten und in Wirklichkeit auch für die Verherrlichung Gottes durch uns.

Wir werden sehen, dass in seinem Schreiben an Titus der Apostel die äußere Ordnung mehr in den Vordergrund stellt als in den Timotheusbriefen. Wie wir schon bemerkt haben, entwickelt der Heilige Geist in letzteren nicht die erhabeneren und besonderen Vorrechte der Erlösten Gottes. Stattdessen wird die Kirche an ihrem irdischen Platz der Verantwortlichkeit ausführlich vor unsere Blicke gestellt. Sie ist das Haus Gottes – zunächst in rechter Ordnung, sodann in Unordnung. Der eine Brief übermittelt das Maß der Verantwortlichkeit; der andere gibt uns vorsorgliche Anleitung für jene, die dem Herrn gefallen möchten und vor der geringsten Berührung mit Anmaßung zurückschrecken. Solche werden vom Heiligen Geist belehrt, treu zu sein ohne Furcht und Rücksicht. Sie überlassen alle Folgen Gott und urteilen einfältig ihrem Gewissen entsprechend vor Ihm. Folglich wird ihnen als eine ausdrückliche Verpflichtung auferlegt, sich in einer Weise zu verhalten, wie es die Liebe und Demut eines Heiligen Gottes eigentlich vermeiden möchten, es sei denn, ein zwingendes Wort vonseiten des Herrn liegt vor. Natürlich besteht nicht der geringste Grund, ein solches Verhalten als Anmaßung zu tadeln; denn der Glaube muss sich sowohl in seiner Sprechweise als auch in seinem Verhalten in der gebotenen Weise mit Menschen beschäftigen, die ihn nicht besitzen. Noch weniger sind die Gläubigen denen gegenüber aufgeschlossen, die Gottes Wort verachten und ihren eigenen Zustand nicht erkennen wollen. Alle, die sich von den Gefäßen zur Unehre wegreinigen, befinden sich auf dem allerniedrigsten Platz, nämlich dem des Gehorsams.

Aber in seinem Schreiben an Titus beschäftigt sich der Apostel nicht so sehr mit Fragen zum Haus Gottes – sei es in Hinsicht auf seine verantwortliche Ordnung, sei es in Bezug auf die Vorsorge, welche der Herr für die schlimmsten Zeiten getroffen hat. Paulus führt sich selbst ein als „Knecht Gottes, aber Apostel Jesu Christi, nach dem Glauben der Auserwählten Gottes und nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“ (V. 1). Offensichtlich geht es hier mehr um Wahrheit als um das Haus Gottes. Es geht um das Unvergängliche, dessen Wert selbst angesichts des Ruins des Christentums mehr und mehr empfunden wird. Das Haus Gottes kann, wie wir leider wissen, in ernstester Weise beschädigt werden. Es ist berufen, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit zu sein. (1. Timotheus 3,15). Dennoch konnte es in gröbster Weise verdorben werden, wie es auch tatsächlich geschah. Doch der Glaube der Auserwählten Gottes hört nicht auf; und die Anerkennung der Wahrheit, welche nach der Gottseligkeit ist, bleibt immer eine Pflicht. Der Natur der Dinge nach kann es hier keinen Wechsel geben. Gott hält an ihr fest und stützt sie; und genauso handeln auch solche, die sich seinem Wort beugen.

Folglich liegt in dem Ausdruck „Glauben der Auserwählten Gottes“ eine große Kraft. Ich sage nicht, dass letztere Kennzeichnung auf den Titusbrief beschränkt ist. Der Apostel verwendet sie außerdem im Brief an die Römer – und auch dort mit besonderem Nachdruck – am Ende seiner großartigen Aufzählung der christlichen Vorrechte, jener normalen bleibenden Segnungen der Erlösten Gottes angesichts aller Umstände, welche die Gläubigen schädigen könnten. Er stellt sich auf den Boden eines Herausforderers. Mag sich gegen uns stellen, was will – „Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben? Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?“  In unserem Brief geht es indessen nicht darum, die Christen mit einer Kenntnis ihrer Vorrechte zu versehen, um letztere gegen alle Widersacher festzuhalten wie im 8. Kapitel des Römerbriefs. Trotzdem enthält auch dieses ruhige und doch ernste Schreiben des Apostels an einen vertrauten Mitknecht als eine der letzten seiner Mitteilungen genauso wie jener frühe Brief den Ausdruck „Auserwählte Gottes“. Paulus fügt indessen noch einen anderen Umstand hinzu, nämlich: „nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist.“  Darin liegt keine geringe Bedeutung. Der Glaube der Auserwählten Gottes soll nicht unter einem Scheffel verborgen werden. Er sollte vor den Menschen und dem Feind anerkannt werden und außerdem von Gott erlernt. Wir müssen ihn ohne Kompromisse bekennen, egal, wie groß die Schwierigkeiten sind. Die Anerkennung der Wahrheit – und nicht allein der Glaube daran – darf niemals aufgegeben werden, und zwar in ihrer praktischen Gestalt: Als „Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist, in der Hoffnung des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor ewigen Zeiten.“

Hier berühren wir wieder jenen Gegenstand, der schon im 2. Brief an Timotheus vor uns stand. Doch jetzt seien einige Worte hinzugefügt: Die Gelegenheit war völlig passend. Der Wert des ewigen Lebens erweist sich besonders dann, wenn alles, was mit dem Zeugnis Gottes unter den Menschen in Verbindung steht, ernstlich erschüttert wird. Darin liegt für uns die Glückseligkeit beim Erkennen, wie wahrhaftig die Stellung, in welche wir versetzt sind, von Gott stammt. Es gab eine von Gott auf der Grundlage der Verantwortlichkeit gebildete Schöpfung. Ihr Besitz hing von der Treue des Menschen ab. Alles war bald zugrunde gerichtet. Aber inmitten dieser Verwüstung wirkte Gott nach seiner Weisheit und in unterschiedlichen Weisen, um den ganzen Fragenkreis um den Zustand des Geschöpfes in Beziehung zu sich selbst offen zu legen. Dann, spät in der Geschichte der Welt, kam der Sohn Gottes, der selbst das ewige Leben ist, das bei dem Vater war, und der dasselbe in allen möglichen Umständen hienieden entfaltete.

Hier sehen wir eine andere Ordnung der Dinge: Die Wahrheit ist wirklich offenbart worden, und zwar Gnade und Wahrheit. Jene, die zur Nachfolge und zum Bekenntnis des Heilands berufen wurden, sind im Blick auf ihre Verantwortlichkeit selbst der Beweis dafür, wie sie Schande und Verwirrung über den Namen des Herrn gebracht haben. Weit davon entfernt, seine herrlichen Ratschlüsse aufzugeben, stellt Gott umso vollständiger die Wahrheit vom ewigen Leben heraus, nachdem das christliche Bekenntnis sich verderbt hat. Inmitten der traurigen Flut des Bösen, welche über der Christenheit zusammenschlug, sah der Heilige Geist den richtigen Zeitpunkt gekommen, die Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf die Gnade Gottes zu richten, welche Sünder errettet, und auf die Treue, welche seine Kinder bewahrt. Er offenbart zudem das Wesen jenes Lebens, welches ihr Teil in Christus ist. Darum weist der Apostel in der Einleitung seines Briefes darauf hin. „In der Hoffnung [sagt er] des ewigen Lebens, welches Gott, der nicht lügen kann ...“  Dieser Ausdruck bezieht sich offensichtlich auf jene Personen, mit denen der Brief sich beschäftigt [vgl. Kap. 1,12; Übs.]; denn letztere sind tatsächlich Muster von dem, als welcher der Mensch sich stets erweist – selbst wenn er den Namen Christi trägt. Gott, der nicht lügen kann, hatte auf jeden Fall schon „vor ewigen Zeiten“  seine Verheißung bezüglich des ewigen Lebens gegeben. Auch kann nichts dasselbe antasten. Der Wert dieses ewigen Lebens, das in Christus vor Grundlegung der Welt bestand, wird indessen jetzt umso mehr empfunden. Es ist auf diesen Schauplatz herabgestiegen. Es wurde von den Menschen ganz und gar abgelehnt; nichtsdestoweniger wurde es zum Besitz des Glaubens in Christus. Es strahlt jetzt auf. Dieses Leben ist nicht nur eine Wirklichkeit, nicht nur dass die Gläubigen es in Christus besitzen – nun veranlasst der Heilige Geist sie, davon besonders Kenntnis zu nehmen, stellt seinen Wert heraus und stärkt sie in ihrem Vertrauen darauf. Auf jeden Fall war jenes ewige Leben, in dessen Hoffnung sie gebildet und zu dem sie durch den Heiligen Geist berufen worden sind – jenes ewige Leben, das Gott, der nicht lügen kann, vor Grundlegung der Welt verheißen hat – ihr bewusstes Teil. Sie besaßen es in Christus. Außerdem enthält diese Wahrheit eine außerordentliche Ermutigung und ist tatsächlich von ungeheurer Bedeutung für die Seelen, sowohl in sich selbst, als auch durch die Tatsache, dass der Heilige Geist uns zu einem besonderen Verständnis derselben führt. Die Freude, dieses ewige Leben Christi zu besitzen, während alles, was verdorben werden kann, schon die verhängnisvollen Merkmale eines zerstörerischen Wirkens zeigt, führt uns zu einer wunderbaren Glückseligkeit.

Im Zusammenhang hiermit scheint es nützlich zu sein, die Wege Gottes zu betrachten. Ihre Vorsätze bestanden zweifellos vor dem Anfang der Welt; sie wurden indessen erst zur angemessenen Zeit offenbart. Gott hat „zu seiner Zeit ... sein Wort geoffenbart ... durch die Predigt“ (V. 3). Das gibt uns eine Gelegenheit, den besonderen Platz zu sehen, welchen das Christentum in den Wegen Gottes einnimmt. Wir bemerken nicht sehr häufig diese sehr auffallende und offensichtliche Wahrheit, dass für die längste Zeit der Geschichte unserer Welt so etwas wie Predigen unbekannt war. Wir sind so an das Predigen gewöhnt, dass wir nicht immer bedenken, was es bedeutet oder welch ein Licht es auf das Wesen Gottes und jene Segnung wirft, die Er uns jetzt in Christus gegeben hat. Während der ganzen vorangegangenen Geschichte der Welt war das Geschöpf als solches der Gegenstand der Handlungsweisen Gottes. Das ist derzeit nicht mehr so. Christus steht nun als Gegenstand vor Ihm; und unsere vorzüglichste Segnung der Gnade durch die Erlösung ist die Tatsache, dass wir Christus als unser Leben besitzen. Ach, dass Gottes Kinder mit aller Einfalt diese Wahrheit erfassen möchten! Welch einen Platz vermittelt sie uns bei dem Wandel durch die Welt! Ich spreche nicht einfach davon, dass wir in Sicherheit sind. Das menschliche Herz neigt stets dazu, das ewige Leben auf die Erlösung vom Zorn und den Eingang in den Himmel – möglicherweise durch ein gewisses Gericht hindurch – zu beschränken. Wäre dieses die ganze Wahrheit – welch eine Schmälerung des Christentums! Wie viel größer ist es, dass wir durch die Autorität eines Gottes, der nicht lügen kann, wissen, dass wir nicht länger zu dieser Schöpfung gehören kraft jenes  einen Lebens, welches wir als Erlöste besitzen! Das verkündigt uns die Predigt in aller Ausführlichkeit. Gott hat jetzt als Gewissheit offenbart, dass wir das ewige Leben, welches in Christus war und dem Wesen nach Christus ist, auf ewig in Ihm besitzen. Folglich hat Gott sein Wort in dieser Zeit durch Predigen bekannt gemacht, indem Er die Allgemeingültigkeit des Zeugnisses der Gnade im Gegensatz zu den engen Grenzen des Gesetzes zeigt. So macht Gott, wenn Er die Christen auffallend für sich absondert und seine Kinder hienieden mit sich selbst verbindet, ihnen bewusst, dass sie nicht zur Welt gehören. Doch diese Wahrheit steht in Übereinstimmung mit dem Evangelium, welches Er überall hin ausgesandt hat. Seine Kirche wird zu derselben Zeit aus der Welt heraus gesammelt, in der sein Wort sich über die ganze Welt ausbreitet. Diese beiden Punkte sind vor allem kennzeichnend für das Christentum; und sie sind von großer Bedeutung für die Seele. Wir sollten sie gut kennen und nicht aufgeben.

Lasst mich das Gesagte noch einmal kurz zusammenfassen! Zuallererst schließt uns das Leben, welches wir in Christus empfangen haben, sozusagen für Ihn ein und gibt uns das Bewusstsein, dass wir als Christen zu einer Daseinsordnung gehören, die niemals beeinträchtigt oder verdorben werden kann. Natürlich hat sie demzufolge keine Beziehung irgendwelcher Art zur Welt oder zum natürlichen Geschöpf, welches durch die Sünde in den Untergang geraten ist. Jenes ewige Leben, das uns gehört, bestand in dem Sohn Gottes, und zwar schon bevor eine Welt erschaffen und verloren gegangen war. Während der Erprobung des Menschen in den unterschiedlichsten Weisen blieb es verborgen. Als die Welt eindeutig verloren war, wie es sich in der Verwerfung des Herrn Jesus zeigte, wurde dieses Leben durch Predigen offenbart. Bis zu dieser Zeit handelte Gott vergleichsweise eingeschränkt und hatte Einzelpersonen bzw. ein besonderes Volk zum Gegenstand. Alles dieses geschah zu einer Zeit, in der es überhaupt noch keine Offenbarung des ewigen Lebens gab.

Das ist aber jetzt der Fall. Indem das Christentum nachwies, dass es im Vergleich zu den früheren Zeitaltern in Hinsicht auf Versagen keine Besserung gab, wurde das ewige Leben mit zunehmender Deutlichkeit enthüllt. So wartete Gott, nachdem alles im Kreuz zum Abschluss gekommen war, noch solange, bis auch das Christentum dem Grundsatz nach gerichtet war. Damit wird nicht gesagt, dass uns danach dieses Leben in Christus gegeben wurde, sondern der Geist Gottes teilt uns erst jetzt zur Kenntnis mit, dass wir jenes Leben besitzen, welches in Christus bestand, als das Evangelium in die Welt hinausging. Als auch das Evangelium an sich – soweit die Menschen dazu in der Lage waren – verdorben wurde oder vielmehr als die offensichtlichen Keime des Christentums überall das Verderben des letzten und erhabensten Zeugnisses Gottes zeigten, richtete Gott erneut die Aufmerksamkeit auf den Kernpunkt der Segnung, die uns mitgeteilt ist. Mag kommen, was will – das ewige Leben ist unser Teil! Mag die Welt im Gericht aufgelöst werden, mag das Geschöpf durch seine Sünde sittlich umkommen – das ewige Leben bleibt! Dieses ewige Leben war in Christus. Es ist jetzt uns gegeben. In dieses Leben sollen wir nach dem Willen Gottes mehr als jemals zuvor eintreten. Wir sollen dasselbe in seinem vollen Wert genießen zu gerade jener Zeit, in der es anscheinend keine andere Freude mehr gibt und wir uns nur auf das zurückziehen können, was niemals verkürzt oder verdorben werden kann. Das ist also „seine Zeit“, in der Er „sein Wort geoffenbart hat durch die Predigt.“

Doch es gibt noch einen anderen Punkt: Das, was [in die Welt] hinausgeht, schließt uns zu Christus hin ein und liefert uns in gesegnetster Weise den wahren Grundsatz unserer Absonderung für Gott; denn letztere hat nichts mit Eingebildetheit und Anmaßung zu tun. Selbsterhebung wird völlig ausgeschlossen. Wie könnte ein Mensch der Natur nach, der sich seiner eigenen Nichtsnutzigkeit bewusst ist, sich über einen anderen rühmen? Jedes böse Prahlen, alles Schmähen entspringt aus dem Ich. Unsere einzige rechte Grundlage des Triumphierens besteht in Jesus Christus, unserem Herrn. Obwohl wir in Ihm einen würdigen Gegenstand des Rühmens besitzen, strömt dieses nichtsdestoweniger aus der Gnade Gottes hervor und wird zur Quelle einer echten Niedriggesinntheit in seinen Augen. Wir sind damit sozusagen im Kreis des göttlichen Lebens eingeschlossen. Er mag klein aussehen, doch in Wahrheit kann nichts in Hinsicht auf weite und tiefe Empfindungen mit ihm konkurrieren. Diese Gefühle ruhen nicht allein auf jenen, die sich innerhalb befinden, sondern sie gehen auch tatkräftig hinaus. Denn neben der Wahrheit, dass wir Christus selbst als unser wirkliches und ewiges Leben – Leben in dem Sohn, unser unwandelbares Teil – besitzen, erkennen wir jene wachsende und weltweite Offenbarung durch die Predigt.

Sicherlich werden wir finden, dass, wo immer Kinder Gottes eine dieser Wahrheiten unter Ausschluss anderer aufnehmen, den Seelen unabänderlich ein großer Schaden zugefügt wird. Nehmen wir zum Beispiel solche, in deren Augen es ausschließlich  ein wünschenswertes Ziel gibt, auf dass sich ihre Herzen richten, nämlich die Verbreitung der guten Botschaft durch Evangelisieren! Dieses  ist ein gesegnetes Werk; aber es ist nicht ungefährlich, wenn alles andere unberücksichtigt bleibt. Betrachten wir eine andere Gruppe von Gottes Kindern, und zwar solche, die mit jenem Kreis der Lehre, welcher das enthält, was wir „auserwählt“ oder „christlich“ nennen können, zufrieden sind! Die Wahrheit umfasst jedoch beide Gesichtspunkte. Es ist unbedingt gut, Christus festzuhalten und zu wissen, dass wir in Ihm ewiges Leben besitzen. Erkennst du indessen nicht, dass Gott, als es Ihm gefiel, diese Wahrheit in der Person seines Sohnes bekannt zu machen, gleichzeitig in seiner Gnade die gute Botschaft zu allen Menschen sandte? Dabei durchbrach Er jede Grenze von Rasse, Sprache, Gesetz oder irgendwelchen Trennungen, an die du denken magst. Als es um einen Dienst des Todes und der Verdammnis ging (vgl. 2. Korinther 3,7!), waren Schranken gut und weise. Als das ewige Leben und die Vergebung der Sünden im Namen Christi zu Leitgedanken wurden, konnte Gott – wollte Gott – diese gute Botschaft nicht ausschließlich auf eine einzige der menschlichen Familien eingegrenzt halten. „Prediget das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Markus 16,15).

Offensichtlich verschwinden angesichts dieses Gesichtspunkts geringere Herrlichkeiten aus dem Blickfeld. Es geht nicht mehr um den Messias als solchen. Der Titel „Sohn Davids“ verknüpfte Christus mit einer besonderen Nation. Aber jetzt, indem wir eine weit höhere Herrlichkeit Christi herausgestellt sehen, erkennen wir auch eine weit uneingeschränktere Offenbarung des Wortes Gottes durch die Predigt, „die mir anvertraut worden ist“, wie der Apostel sagt. Tatsächlich können wir finden, dass zum Beispiel Petrus wenig von dieser großen Wahrheit schreibt. Er spricht von Leben; er spricht ausführlich von unserem gesegneten Herrn als dem lebendigen Stein. Er betrachtet auch die Heiligen Gottes als lebendige Steine und berücksichtigt, dass sie durch das Wort Gottes wiedergezeugt worden sind (1. Petrus 2,4ff.; 1,3). Er behandelt das Thema indessen nie so verständnisvoll und eindeutig wie der Apostel Paulus. Wenn er schreibt, sind seine Empfänger ausschließlich jene in der Zerstreuung. Seine beiden Briefe sind an Gläubige aus der Beschneidung gerichtet. Es wäre folglich unnatürlich, wenn er so ausführlich in die Breite und Tiefe gehen würde, mit der Paulus dieses Thema betrachtet. Ich brauche mich jetzt nicht mit Jakobus oder Judas zu beschäftigen, welche offensichtlich von ganz anderen Dingen schreiben. Johannes nimmt gerade jenen Gesichtspunkt auf, bei dem Paulus endet; denn es war sein besonderer Dienst, das ewige Leben zu zeigen. Aber dann betrachtet er es zuerst als das göttliche Leben in der Person Christi, um seine Herrlichkeit zu verteidigen, und zum Zweiten als jenes Leben oder jene göttliche Natur, die in den Erlösten Gottes wohnt. Er stellt es nicht vor in seinen Beziehungen zur Verderbnis der Christenheit, auch beschäftigt er sich nicht ausdrücklich in seinem Brief mit demselben als ein Zeugnis an die Menschheit insgesamt. Paulus zeigt es sowohl in Bezug auf die Ratschlüsse, als auch auf die Wege Gottes, Johannes in Verbindung mit Gottes Natur – zuerst in Christus und dann in den Erlösten. Beide Darstellungsweisen passen bewundernswert zu den Gesichtspunkten Gottes; sie sind jedoch unterschiedlich, auch wenn sie sich in vollkommener Harmonie verbinden lassen.

Darauf folgt Paulus Gruß: „Titus, meinem echten Kinde nach unserem gemeinschaftlichen Glauben: Gnade und Friede von Gott, dem Vater, und Christo Jesu, unserem Heilande!“ (V. 4). Dann fährt er fort, ihn über das Thema zu unterrichten, um dessentwillen er schrieb: „Deswegen ließ ich dich in Kreta, daß du, was noch mangelte, in Ordnung bringen und in jeder Stadt Älteste anstellen möchtest, wie ich dir geboten hatte: Wenn jemand untadelig ist,  eines Weibes Mann, der gläubige Kinder hat, die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt oder zügellos sind. Denn der Aufseher muß untadelig sein“ (V. 5–7). Hier finden wir die Aufstellung feststehender Regeln sowie auch von Grundsätzen, welche Titus' Verhalten leiten sollten. Einer der Hauptpunkte seines Auftrags war, Männer mit gewissen äußeren Aufgaben einzusetzen.

Manche Kinder Gottes könnten hier eine Schwierigkeit empfinden. Sie mögen fragen: Wie kommt es, dass der Heilige Geist solche Anweisungen inspirierte, wenn diese Ämter nicht bestehen bleiben sollten? Ich denke, dass sie in zweierlei – in negativer und positiver – Hinsicht von umfassendem praktischen Wert sind. In negativer Hinsicht ermöglichen sie uns, die Anmaßung jener zu beurteilen, welche einsetzen und eingesetzt werden. Mit Hilfe dieser Anweisungen vermögen wir zu sehen, dass Menschen, die sich am meisten solcher Ämterordnung rühmen, fühlbar gegen diese und andere Bibelstellen verstoßen. Wir werden stets finden, und ganz besonders in Zeiten von Schwierigkeiten und Finsternis, dass es keine Sicherheit gibt außer in der Abhängigkeit vom Herrn und dem Anhangen an seinem Wort. Nicht allein werden die Einfältigen und Demütigen durch die Gnade des Herrn bewahrt, es wird sich auch die wahre Ordnung unter ihnen zeigen. Wo immer man sich selbstsicher einer äußeren Ordnung rühmt, dürfen wir nicht überrascht sein, eine echte Abweichung von dem, was der Herr vorschreibt, zu entdecken. Sein Wort weist unveränderlich einen derartigen selbstgefälligen Ton zurück; und er wird keineswegs von seinem Geist hervorgerufen.

Aber außerdem enthält unsere Bibelstelle noch eine unmittelbarere Bedeutung. Zweifellos mangelt uns heute manches; und ich jedenfalls glaube, es ist nach den Gedanken Gottes bei dem gegenwärtigen Zustand der Christenheit, dass es fehlt. Wo gibt es die sittlichen Voraussetzungen für eine gesunde äußere Ordnung, da doch der Zustand beklagenswert schlecht ist, die Weltlichkeit wuchert, das Wort Gottes nur geringe Autorität ausübt und der Geist Gottes systematisch behindert und ausgelöscht wird? In Bezug auf die Einsetzung dieser örtlichen Amtsträger waren die Apostel die Säulen der Autorität. Das Fehlen von Aposteln und folglich auch solcher Abgesandter wie Titus ist schlimm für jene, welche behaupten, alles vollkommen und buchstäblich nach dem Wort Gottes eingerichtet zu haben. Ich für mein Teil bin weit davon entfernt, dieses Fehlen bei dem augenblicklichen Zustand der Christenheit als nachteilig für die Herrlichkeit Gottes zu sehen, und denke, dass jetzt die Gegenwart von Aposteln eine gewaltige Absonderlichkeit wäre. Der Grund ist leicht zu sehen. Es wäre nicht zeitgemäß, denn es würde erstens die Bedeutung der Gedanken, d. h. der Wahrheit, Gottes schwächen, egal, worauf sie sich beziehen; sie bleiben nämlich unveränderbar und verpflichtend. Zweitens würde nicht bedacht, dass Gott die gegenwärtige Zerstreuung seiner Kinder durchaus berücksichtigt und dass Er wünscht, dass wir die Verwüstung, welche in der Christenheit bewirkt worden ist, empfinden. Setzen wir voraus, dass die Apostel (und wir können nicht anders, als dieses voraussetzen) an nichts anderem als dem Wort Gottes festhielten – müssten sie nicht die Beziehungen ablehnen, in welche der Großteil der fehlgeleiteten Christenheit durch Irrtum, Eigenwille, menschliche Tradition usw. im Gegensatz zum Wort Gottes hineingeführt worden ist? Es gefiel Gott angesichts der Verderbnis, die damals schon begann, und des noch viel schwerwiegenderem Abweichens von seinem Wort, das drohte, dafür zu sorgen, dass der Aposteldienst nicht länger anhielt. Er wollte demnach einen Mangel fühlbar werden lassen, der nicht wiedergutzumachen ist, andererseits aber für jene äußere Ordnung benötigt wird, welche die Menschen so lauthals für sich beanspruchen, nachdem alles unwiderruflich verloren ging.

Somit kann leicht nachgewiesen werden, dass allein der Weg des demütigen Gehorsams sicher und heilsam ist; denn er weigert sich, von Gottes Wort abzuweichen. Er erkennt das Fehlen einer allgemeingültigen Autorität an, welche niemand auf der Erde besitzen kann. Außerdem rechtfertigt er den Herrn, welcher als einziger für alle Notlagen genügt und für jede gegenwärtigen Erfordernisse ausreichend vorsorgt. Der Gehorsam bekennt den verdorbenen Zustand des Zeugnisses Gottes auf der Erde, während er andererseits alles anerkennt, was immer von Gott stammt und wo immer es sein mag. Nichtsdestoweniger hält er umso mehr am Wort Gottes als der einzigen und ausreichenden Vollmacht für Glauben und Handeln in einem Zustand des Ruins fest. Die Anweisungen des Apostels sind nicht umsonst gegeben, obwohl weder du noch ich alles tun dürfen, was Titus tat. Wenn wir genauso handeln, ist das Anmaßung.  Titus war ausdrücklich in Kreta zurückgelassen und vom Apostel beauftragt worden, dort Älteste einzusetzen, wir nicht. Nicht Ungehorsam oder Nachlässigkeit liegt auf unserer Seite vor, sondern Furcht Gottes und Aufrechterhaltung einer göttlichen Ordnung, indem wir nicht unsere wahren Befugnisse überschreiten. Andererseits wirkt offensichtlich Selbstüberschätzung in allen, welche einen Apostel oder apostolischen Gesandten ohne Ermächtigung seitens des Herrn nachahmen, indem sie seinem Wort in dieser Imitation zuwiderhandeln. Wer könnte heutzutage wie Paulus auf der Erde bevollmächtigen? Wer einsetzen wie Titus? Sicherlich kein Diener der Krone 1, ein gewöhnlicher Prediger oder eine Synode von Predigern und noch viel weniger eine christliche Gemeinde.

Gott hatte Sorge getragen, dass diese Anweisung nicht in einem allgemeinen Brief oder den an eine Versammlung enthalten ist. In den Briefen an die Römer, Korinther, Galater, Epheser usw. werden solche Aufträge nicht erteilt und noch weniger in den Briefen von Jakobus, Petrus oder Johannes. Wenn der Apostel die Kirche an irgendeinem Ort anschreibt, legt er nirgendwo Richtlinien für die Einsetzung von Ältesten oder Bischöfen nieder. Hätte er so gehandelt, wären die führenden Brüder oder vielleicht die Erlösten insgesamt nur zu schnell bereit gewesen, die Angelegenheit in die eigenen Hände zu nehmen. So wie es ist, gibt es keine denkbare Entschuldigung dafür. Die Anordnungen wurden Einzelpersonen gegeben, die einen besonderen Platz im Werk Gottes und seiner Kirche einnahmen. Niemand anderes war dazu berechtigt. Weder Apollos, noch Silas wagten es, Titus wohl. Ihm war nämlich ein inspirierter Brief geschrieben worden. Zweifellos entsprach seine Gabe dieser Obliegenheit. Doch zudem besaß er eine äußere Bevollmächtigung und ein inspiriertes Beglaubigungsschreiben, die ihn berechtigten – nein, verpflichteten – tätig zu werden. Wo gibt es zur heutigen Zeit eine solche Person? Folglich kann keiner, der aufgrund der Tatsache, dass Titus in derartiger Weise vom Geist Gottes mit Kraft versehen war, das Recht auf eine gleiche Handlungsweise beanspruchen. Dennoch sind diese Anweisungen keinesfalls überlebt, sondern von bleibendem Wert.

Auf ihre heutige Bedeutung möchte ich jetzt die Aufmerksamkeit richten. Auch wenn wir in der Abwesenheit von Aposteln nicht die angemessene Vollmacht besitzen, in dieser Weise zu handeln, um Männer mit örtlichen Ämtern an diesem oder jenem Ort zu bekleiden, dürfen wir doch auf solche achten, welche die geschilderten Kennzeichen aufweisen. Falls wir nämlich Männer sehen, die das besitzen, was der Geist Gottes als passend für den Aufseher oder Ältesten betrachtet, besteht offensichtlich die Verpflichtung für die Kinder Gottes, diese Kennzeichen in ihren Personen anzuerkennen. Zweifellos wird ein untreues Herz Nutzen daraus ziehen, dass solche niemals förmlich als Älteste eingesetzt worden sind. Ein Gläubiger mit dem Geist göttlichen Gehorsams wird möglicherweise noch achtsamer darin sein, Anerkennung und Ehre zu erweisen, wo es kein solches äußeres Anrecht gibt. Auf diese Weise prüft ein ruinierter Zustand das Herz mehr als jener, in dem sich alles noch in seiner anfänglichen Ordnung befindet. Wenn alles in einem normalen Zustand ist, werden selbst die Unachtsamen oder jene, die früher oder später aufsässig werden, von der Kraft des allgemeinen Stroms, der in die richtige Richtung fließt, eingeschüchtert. Wenn dieser Strom indessen schwächer wird, sich Untiefen zeigen und auf dem Weg alle Sorten Hindernisse auftauchen, genau dann ist der Augenblick gekommen, dass sich echter Glaube und Demut des Herzens bei Gläubigen nicht allein zeigen, sondern auch vom Herrn besonders geschätzt werden. Achten wir zum Beispiel darauf in den Botschaften an die sieben Versammlungen! (Offenbarung 2–3). Daran erkennen wir mit Gewissheit, dass die Gnade des Herrn nie besiegt oder kraftlos sein wird.

Wir können folglich keine Ältesten ernennen, weil wir nun mal keine Apostel oder apostolische Gesandte sind. Trotzdem handeln wir ganz und gar falsch, wenn wir keinen Nutzen aus dem ziehen, was das Wort Gottes in Hinsicht auf örtliche Ämter niedergelegt hat. Wir können aus diesen Versen und aus anderen Schriftstellen auf jeden Fall genug entnehmen zu unserer praktischen Warnung und Leitung. Dadurch werden wir auch vor der Verwechslung von Gaben mit Ämtern bewahrt, welche der Vater des klerikalen (Kirchen-)Systems ist, sei es päpstlich, völkisch oder freikirchlich. Außerdem können wir unterscheiden, was bleibt und was aufhören sollte.

„Wenn jemand untadelig ist,  eines Weibes Mann, der gläubige Kinder hat, die nicht eines ausschweifenden Lebens beschuldigt oder zügellos sind“ (V. 6). So geht es hier hauptsächlich um das sittliche Ansehen. Das sollte gut beachtet werden! Nicht eine beachtliche Gabe ist vorrangig. Im Umgang mit den praktischen Schwierigkeiten der Erlösten Gottes sind geistliche Kraft und Erfahrung von größtmöglichem Wert. Das sollte natürlich verbunden sein mit einem tadellosen Ruf des Dieners selbst und seiner Angehörigen. Das sind die Männer, welche wirklich Tag für Tag in den Misstönen der Umstände zum Guten der Seelen wirken, und zwar in rechter Weise. Andere mögen weit mehr Fähigkeiten besitzen, um das Evangelium auszubreiten oder das Wort Gottes auszulegen. Damit meine ich natürlich nicht, dass im Umgang mit den praktischen Schwierigkeiten Männer ausreichend zur Ältestenschaft befähigt sind, welche nicht das Wort Gottes auf die vergänglichen Lebensumstände passend anzuwenden wissen. Es ist indessen klar, dass ein Ältester oder Bischof (Aufseher) nicht notwendigerweise ein Lehrer sein muss, obwohl er in der Lage sein sollte zu lehren – mit dem Wort Gottes Widersprechende zu überführen und die Schwachen zu ermutigen. Das alles ist offensichtlich in Übereinstimmung mit der Schrift. Aber das Aufseheramt erfordert nicht unbedingt eine Lehrgabe. Es braucht nicht über den Dienst von Haus zu Haus hinauszugehen. Daher glaube ich, dass es für die Kinder Gottes eine ausdrückliche Pflicht und von großer Bedeutung ist, nicht nur jene zu beachten, die zu einem ausgedehnten öffentlichen Werk berufen sind. Zweifellos hat im Allgemeinen in der Christenheit der Irrtum seinen höchsten Stand erreicht. Aber auch solche, die sich von den Gefäßen zur Unehre reinigen möchten, haben häufig diese Wahrheit nicht mit dem nötigen Nachdruck berücksichtigt.

Während wir den Evangelisten und Lehrern ihren Platz überlassen, sollten wir auch jene würdigen, welche in einfacher und weniger auffallender Weise sich selbst Tag für Tag der Aufgabe widmen, die Bande der Zuneigung zu stärken und die Quellen der Unordnung zu hemmen. Wir wissen nämlich alle, wie letztere sich ständig in christlichen Versammlungen zeigen. Solche Männer sind es, die in alter Zeit von einer dafür zuständigen Autorität zu Ältesten oder Aufsehern ernannt wurden, wie es hier gesagt ist: „Der Aufseher muß untadelig sein als Gottes Verwalter, nicht eigenmächtig, nicht zornmütig, nicht dem Wein ergeben, nicht ein Schläger, nicht schändlichem Gewinn nachgehend, sondern gastfrei, das Gute liebend, besonnen, gerecht, fromm, enthaltsam, anhangend dem zuverlässigen Worte nach der Lehre, auf daß er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die Widersprechenden zu überführen“ (V. 7–9). Wenn wir also Männer sehen, die heutzutage auf diese Weise und mit den genannten Voraussetzungen arbeiten, sollten sie sicherlich respektiert und anerkannt werden als Männer, welche die Eigenschaften von Ältesten haben und deren Werk verrichten, auch wenn aufgrund der Umstände keine formale Einsetzung mehr möglich ist.

Was die Tätigkeit von Ältesten besonders unter diesen Nichtjuden – sei es auf Kreta oder anderswo – so dringend nötig machte, war das jüdische Element als beständige und folgenreiche Ursache von Schwierigkeiten. Das geschah auf zweierlei Arten, von denen wir, wenn wir der Vernunft folgen, nicht erwarten würden, dass sie sich vereinigen. „Denn es gibt viele zügellose Schwätzer und Betrüger, besonders die aus der Beschneidung, denen man den Mund stopfen muß“ (V. 10–11). Ich meine nicht unbedingt Juden, wenn ich vom „jüdischen Element“ spreche. Ach, das Böse des Judentums infiziert auch Nichtjuden. Einige werden vom Geist der Überlieferung durchdrungen, andere sind in großem Maß getränkt mit Gesetzlichkeit. Diese sind die Menschen, welche insbesondere Ärger hervorrufen, „denen man“, wie wir lesen, „den Mund stopfen muß, welche ganze Häuser umkehren, indem sie um schändlichen Gewinnes willen lehren, was sich nicht geziemt.“ Dazu dient das Zeugnis eines ihrer eigenen Propheten. Dieses Zeugnis ist wahr, sagt der Apostel. Einer von ihnen, dem keinesfalls Vaterlandsliebe fehlte, besaß genug Gewissen, um zu bekennen: „Kreter sind immer Lügner, böse, wilde Tiere, faule Bäuche“ (V. 12). Darum sollte Titus sie scharf zurechtweisen. Welche Sünde und Torheit wäre es, eine solche Sorge um ihre Seelen als Mangel an Liebe sowie als Herrschsucht zu brandmarken! Mögen wir uns stets an diese Tatsache zu unserem Nutzen und zu unserer Leitung erinnern!

Obwohl die Menschheit, ach!, in vielen Kennzeichen des Bösen übereinstimmt und, wo wir sie auch finden, sich überall dieselbe verdorbene Natur zeigt, berücksichtigt der Geist Gottes durchaus den Volkscharakter – und ganz besonders im praktischen Dienst. Wohin uns unser Los versetzt hat – wir benötigen Weisheit und Erfahrung. Das gilt auch in Hinsicht auf die Aufseher, von denen Paulus schreibt. Älteste haben einen örtlichen Auftrag. Darin gleichen sie nicht Lehrern oder Predigern, von denen viele ausgehen und verschiedene Länder und weit verstreute Städte auf ihren ausgedehnten Rundreisen unter den Nationen besuchen. Älteste als solche hingegen waren notwendigerweise in ihrem Dienst auf jene Gegend beschränkt, in welcher sie lebten, obwohl sie zusätzlich Gaben haben mochten, die sie auch anderswohin führen konnten. Es war für sie von äußerster Bedeutung, sich die besonderen Neigungen derjenigen vor Augen zu halten, unter denen sie lebten und wirkten. Auf dieser Grundlage handelt und spricht der Apostel hier selbst. Er bezieht sich auf die Ansicht eines ihrer eigenen Dichter; denn ein Dichter ist oft ehrlicher als ein Philosoph – und einem religiösen Eiferer kann man niemals vertrauen. Ein gefeierter „Denker“ verliert sich meistens in träumerischen Spekulationen seines Arbeitszimmers. Ein Dichter mag in der Tat leichtfertig (frivol) sein, aber er enthüllt doch den wahren Charakter. Das mag in seiner eigenen Person geschehen; auf jeden Fall drückt er normalerweise die Empfindung des Zeitalters und des Ortes, an dem er sich befindet – wenn nicht sogar das Herz in seinen Tiefen –, aus. So war es auch mit dem, was einer ihrer eigenen Dichter, den der Apostel zitiert, über seine Landsleute sagt. Paulus schreibt jetzt nicht an die Kirche (Versammlung). Es ist zu bezweifeln, dass der Apostel so freimütig an die Kreter selbst geschrieben hätte. Andererseits war es fraglos von großer Bedeutung für seinen Mitarbeiter unter ihnen, diese Information im Gedächtnis zu tragen.

Ihr Volkscharakter musste berücksichtigt werden. Wenn dieser auch geringe Bedeutung hat, wo es sich um die Gnade des Heiligen Geistes handelt, so wird er doch zu einer ernsten Handhabe für den Feind der Seelen, der die verschiedenen Wirkungen des Fleisches zur Erfüllung seiner Absichten im Widerstand gegen die Herrlichkeit Christi nutzt. Die unzuverlässige Gesinnung der Kreter würde sie schnell veranlassen, jüdische Fabeln anzunehmen oder das Gesetz im Allgemeinen zu missbrauchen. Das war die doppelte Gefahr, über die ich einige Worte sagen möchte. Das Gesetz bewirkt nicht nur traditionelle Gewohnheiten oder sklavisches Anhangen an menschliche Vorschriften in den Dingen Gottes, welche so schnell anwachsen und den praktischen Glauben zerstören. Gleichzeitig erhebt sich auch, wie wir es auf den ersten Blick kaum vermuten würden, die Einbildungskraft. Der Apostel spricht von jüdischen Fabeln; und es ist bemerkenswert, wie die berühmte Sammelstelle des Rabbinismus bis in unsere Tage diesen doppelten Charakter trägt 2. Auf der einen Seite sehen wir eine knechtische Anhänglichkeit an den Buchstaben ohne die geringste Einsicht in den Geist der Heiligen Schrift, auf der anderen die wildesten Erdichtungen, um die Phantasie von Frauen und Kindern zu nähren. Wie steht das Wort Gottes dazu in einem Gegensatz, welches eine gesunde Übung von Herz und Gewissen entsprechend dem Glauben der Auserwählten Gottes fördert!

Nichts kann so vor diesen beiden Schlingen bewahren wie die Heilige Schrift. Das Wort Gottes liefert uns keineswegs einfach eine Richtlinie der Pflicht, welcher wir zu folgen hätten. Die Pflichten in der Bibel sind die Ausdrücke des Lebens in Beziehung auf die Umstände, in welche Gott uns versetzt hat. Darum sollte das Hauptwerk eines jeden Lehrers nicht darin bestehen, irgendetwas als ein einfaches Gebot, dem blindlings und verständnislos gefolgt werden muss, vorzustellen, sondern den Weg des göttlichen Willens, den wir zu gehen haben, mit Christus selbst zu verknüpfen. Dadurch wird jeder Knecht in eine unmittelbare Verbindung zum Meister geführt, um ausschließlich von seiner Gnade jegliche benötigte Weisheit und Kraft zu erwarten für die Aufgabe, zu der Er uns berufen hat. Wenn dann möglicherweise der Lehrer auf irgendeine Weise verschwindet, bleibt dennoch Christus; und was Ihm entspricht, redet weiterhin zum Herzen. Ohne einen Lehrer vermag ein Christ manche Wahrheit vielleicht nicht zu sehen; aber alles andere vergeht, wo ein Mensch sozusagen Auge in Auge vor Christus und sein Wort gestellt wird.

Das ist nach dem Willen Gottes der Gegenstand aller Lehre. Niemals darf der Lehrer oder der bloße Buchstabe einer Pflicht zwischen die Seele und den Herrn treten. Stattdessen sollte die geringste praktische Pflicht mit dem Willen sowie der Gnade und Herrlichkeit dessen verbunden werden, der unser Leben ist. So handelte der Apostel selbst, als er Titus als seinen Bevollmächtigten – wenn ich so sagen darf – in Bezug auf seine Arbeit unter den Kretern zur Vorsicht mahnt und mit Anweisungen versieht. Es ist nämlich keine leichte Aufgabe, die Seelen vor dem zu bewahren, was der Teufel anstelle der Wahrheit einzuführen sucht – nämlich Fabeln und eine falsche Anwendung des Gesetzes. Denn beide schließen das Wort Gottes aus, das einzige Nährmittel für den Glauben. Auf der einen Seite wendet sich das Gesetz an den Menschen im Fleisch, anstatt ihm das Todesurteil zu verkünden. Auf der anderen Seite erfüllen jüdische Fabeln die Phantasie, anstatt Herz und Gesinnung ausfließen zu lassen zum gesegneten Eingang in das Leben Christi, um es hienieden entsprechend dem Wort Gottes auszuleben.

Danach fügt Paulus seiner Anweisung noch einen weiteren Punkt hinzu. „Den Reinen ist alles rein; den Befleckten aber und Ungläubigen ist nichts rein“ (V. 15). Wie wahr! Der Unglaube setzt ständig sogar das kostbare Wort Gottes herab, macht es zur Grundlage für einen Weg seiner Selbstsucht und trennt es dadurch von Christus. So ist dem Ungläubigen nichts rein. Auf der anderen Seite besteht die Kraft des Erlösten Gottes im Heiligen Geist, welcher entsprechend jenem Leben wirkt, welches in Christus ist. Paulus spricht von den praktischen Wegen auf der Erde. Welch eine großartige Quelle besitzt der Gläubige! Möge es so sein, dass alle jene, welche in der Lehre tätig sind, immer wissen, wo das Geheimnis ihrer Kraft liegt! Hier wird die Fähigkeit vorgestellt, alles, was vor uns kommt und uns obliegt, mit Christus zu verbinden. Im Gegensatz zur Kraft des Glaubens, welcher dem Reinen alles rein macht, spricht der Apostel sehr ernst von dem Charakter derjenigen, die nicht glauben. „Sie geben vor, Gott zu kennen, aber in den Werken verleugnen sie ihn und sind greulich und ungehorsam und zu jedem guten Werke unbewährt“ (V. 16). Wie wird dieses Bild von der Christenheit in unseren Tagen mit Leben erfüllt!

Fußnoten

  • 1 d. i. des Staates (Übs.)
  • 2 Rabbinismus: Jüdische Gelehrsamkeit; Kelly spricht wohl vom sogenannten Talmud. (Übs.)
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