Christus vor Augen

Einleitung

Der Kolosserbrief gehört zu den Dokumenten aus Gottes Wort, die uns die höchsten Mitteilungen Gottes an Menschen übermitteln. Der Brief an die Kolosser steht an der Seite des Briefes an die Epheser und ergänzt diesen. Ich möchte immer wieder einen Vergleich ziehen zum Brief an die Epheser, weil dies für das Verständnis beider Briefe sehr hilfreich ist. Der Brief an die Kolosser hat nicht dieselbe Erhabenheit wie der Brief an die Epheser, weil der geistliche Zustand der Gläubigen in Kolossä nicht so gut war wie der der Epheser.

Wie und auf welche Weise das Evangelium nach Kolossä kam, einer nicht unbedeutenden Stadt in der römischen Provinz Asien, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass Paulus, obwohl diese Stadt regional in seinem apostolischen „Bereich“ lag (vgl. Apg 19,10), selbst nie dort gewesen ist, wie uns das zweite Kapitel klarmacht (Vers 1): „Denn ich will, dass ihr wisst, welch großen Kampf ich habe um euch und die in Laodizea, und so viele mein Angesicht im Fleisch nicht gesehen haben.“

Paulus war also nicht persönlich das Werkzeug zur Entstehung der Versammlung dort gewesen. Ich vermute, dass Epaphras, von dem wir in Kapitel 1,7.8 lesen, das Werkzeug war, durch welches das Evangelium in jene Stadt kam. In Apostelgeschichte 19,9.10 lesen wir jedenfalls, dass Paulus in der Schule des Tyrannus in Ephesus ungefähr zwei Jahre das Evangelium predigte. In diesem Zusammenhang erfahren wir, dass alle, die in Asien waren, das Wort Gottes zu jener Zeit hörten. Ich vermute, dass Epaphras einer von denen war, die Paulus dort zugehört hatten. Dann brachte er wohl das Evangelium nach Kolossä, wodurch offenbar viele errettet worden sind.

Gefahren in Kolossä

Wie wir aus dem vorliegenden Bibeltext erfahren, gab es für die Geschwister in Kolossä ernste Gefahren. Es ist wichtig zu bedenken – heute mehr denn je –, dass der Apostel Paulus, wenn er, vom Geist Gottes inspiriert, einen Brief an eine Versammlung sandte, nicht jeder Versammlung mehr oder weniger dasselbe schrieb. Nein, was er schrieb, war immer dem geistlichen Zustand der Empfänger angemessen. Eigentlich ist das eine Binsenwahrheit; aber wir könnten sie durchaus vergessen. Auch wir können heute nicht überall über dasselbe sprechen.

Der Zustand der Kolosser war nicht so, dass Paulus von Anfang an den Ratschluss Gottes ungehindert hätte entfalten können, wie es ihm bei den Ephesern möglich war. Aber wir dürfen Nutznießer davon sein, dass er gezwungen wurde, sich auf eine etwas niedrigere Ebene zu begeben, wie wir sehr deutlich sehen werden. Wir profitieren auch deshalb davon, weil wir vielleicht selbst nicht auf der geistlichen Höhe der Epheser sind. Es ist die Gnade Gottes, dass Er auch dann noch zu uns spricht.

Die Gefahren lernen wir im Verlauf dieses Briefes kennen. Der Apostel geht nicht sogleich darauf ein, wie er es auch in anderen Briefen nicht tut, vielleicht mit Ausnahme des Galaterbriefes. Dort geht er sofort gegen das dort vorhandene Böse vor. Hier tut er es nicht. Aber später zeigt uns der Brief, dass es Gefahren spekulativer, philosophischer Art (Kapitel 2,8) gab. Und nicht nur das, sondern es waren auch Gedanken mystischer Art (K. 2,18) vorhanden. Sogar jüdische Elemente (K. 2,16.20–23) suchten Eingang in diese Versammlung, und selbst der gnostische Irrtum war in seinen Ansätzen schon vorhanden.

Die Gnosis – die Gnostiker

Ich will an dieser Stelle nicht zu lange bei dem Bösen stehen bleiben. Dennoch ist es nützlich, wenn man versteht, warum Paulus so schreiben musste. Die Gnostiker bildeten eine etwas später entstandene Sekte. Man kann wohl kaum davon ausgehen, dass es in dieser Gruppe auch nur einen einzigen Gläubigen gab. Es handelte sich um eine Sekte, die behauptete, die Schöpfung sei durch ein niedrigeres Wesen entstanden, nicht durch Gott. Christus sei auch weder der Schöpfer noch der Sohn Gottes. Da die Schöpfung das Ergebnis eines untergeordneten Wesens sei, müsse man auch die Materie als solche ablehnen. Diese sei in sich böse. Nur durch Vergeistlichung und durch das Ablehnen all dessen, was materiell ist, käme man auf die Höhe der Erkenntnis der Gedanken Gottes.

Bei der Gnosis handelte es sich also um ein theosophisches System, das man heute mit der christlichen Wissenschaft 1 vergleichen kann, aber auch mit dem geistigen System der Anthroposophen 2. Das sind außerordentlich böse und gefährliche Systeme, die durch ihre Zugehörigkeit zum christlichen Bereich auch den Namen des Herrn Jesus Christus tragen, von der Erlösung jedoch nichts wissen wollen und den Herrn Jesus nicht als Sohn Gottes anerkennen.

Das Thema des Briefes: Christus bewahrt vor Irrtum

Es ist bewegend zu sehen, dass der Apostel Paulus diesen Geschwistern helfen will. Er tut es auf eine Weise, die uns beeindrucken muss: Er entwickelt vor ihren Augen die Herrlichkeit der Person Christi. Dabei korrigiert er die Gedanken und die Haltung der Kolosser; doch auf eine so schöne Art, dass gerade dieser vor uns liegende Brief vielleicht wie kein anderer Abschnitt in Gottes Wort die Herrlichkeit der Person Christi vor uns stellt. Natürlich ist überall der Herr Jesus der Mittel- und Zentralpunkt in der Bibel – das gilt in Bezug auf jeden Aspekt der Wahrheit und im Hinblick auf jedes Blatt der Bibel. Aber ich kenne keinen anderen Abschnitt, wo dies in so komprimierter Form geschieht wie gerade in diesem Brief.

In dieser Verbindung möchte ich acht Seiten seiner Herrlichkeit nennen, die bereits im ersten Kapitel genannt und dann teilweise im weiteren Verlauf des Briefes weiter behandelt werden.

  1. In Vers 10 wird Er, losgelöst von jedem Namen, als Herr vorgestellt. Er ist der Herr von allem. Ihm steht jede Autorität zu, auch über jeden der Seinen.
  2. Dann haben wir den Herrn Jesus in den Versen 13 und 14 als Erlöser.
  3. In Vers 13 finden wir Ihn als den Sohn der Liebe Gottes.
  4. In Vers 15 haben wir Christus als das Bild des unsichtbaren Gottes.
  5. Dann lesen wir von Ihm in Vers 15 als von dem Erstgeborenen aller Schöpfung. Das ist der Schöpfer selbst, der uns hier vorgestellt wird.
  6. Später finden wir den Herrn Jesus in Vers 18 als das Haupt des Leibes, der Versammlung. Er ist nicht nur Haupt der Schöpfung als der Erstgeborene, sondern auch Haupt der Versammlung, der neuen Schöpfung.
  7. Dann haben wir den Herrn Jesus noch in Vers 18 als den Erstgeborenen aus den Toten. Das ist ein Titel, den der Herr Jesus durch seine Auferstehung erworben hat.
  8. Und schließlich finden wir Ihn als den großen Versöhner (Vers 20). Er ist nicht nur derjenige, der uns versöhnt. Er wird auch das ganze Universum versöhnen.

Wir finden in diesen Versen also Vorzüge Christi, die Er kraft seiner persönlichen Herrlichkeit besitzt. Gewisse Herrlichkeiten allerdings hat Er sich auch erworben, wie der Verlauf des Briefes zeigt (z.B. Erlöser, Erstgeborener aller Schöpfung).

Es ist wichtig, dass wir zudem erkennen, dass wir in dem ersten Kapitel zwei Linien zu verfolgen haben, die parallel laufen: Die eine ist die Linie der ersten Schöpfung. Er ist der Schöpfer aller Dinge, Er ist der Erstgeborene aller Schöpfung, Er ist vor allen, und Er ist der Versöhner „aller Dinge“, für die Christus das Haupt ist. Parallel dazu gibt es eine zweite Linie der neuen Schöpfung. Hier geht es darum, dass Christus das Haupt des Leibes, der Versammlung, ist, der Erstgeborene aus den Toten und der Versöhner derer, die jetzt gläubig geworden sind. Auch hier ist Er das Haupt.

Gegenüberstellung der Briefe an die Epheser und an die Kolosser

Es scheint mir einleitend noch nützlich zu sein, eine gewisse Gegenüberstellung des Briefes an die Epheser und des Briefes an die Kolosser vorzunehmen. Ich denke, alleine das ist schon eine Hilfe zur Auslegung.

  1. Im Epheserbrief haben wir die Versammlung Gottes in ihrem ewigen, zeitlosen Aspekt. Die Versammlung Gottes ist dort die Fülle des Christus. Das würden wir nicht wagen zu sagen, wenn Paulus es nicht geschrieben hätte.
    Im Kolosserbrief haben wir nicht die Fülle des Leibes vor uns, sondern die Fülle des Hauptes, in dem die ganze Fülle der Gottheit wohnt. Hier geht es somit nicht um die Schönheit der Versammlung, sondern um die Schönheit des Hauptes der Versammlung – des Herrn Jesus.
  2. Im Brief an die Epheser sehen wir den Gläubigen schon im Himmel. Nicht mit Christus, aber in Christus. Mit Christus – darauf müssen wir noch ein wenig warten. Aber in Christus versetzt in die himmlischen Örter – das sind wir schon heute.
    Im Kolosserbrief wird der Gläubige auf der Erde gesehen. Aber er ist nicht in Christus, obwohl das an sich wahr ist, sondern Christus ist in ihm, nämlich die Hoffnung der Herrlichkeit.
    Die Hoffnung finden wir bis auf eine Ausnahme nicht im Epheserbrief. Warum nicht? Weil der Gläubige dort schon dort ist, wo er hingehört. Im Kolosserbrief werden wir noch auf der Erde gesehen und sind auf der Reise, das Ziel vor uns: Das ist die Hoffnung, die vor uns liegt.
  3. Im Epheserbrief haben wir in jedem Kapitel mindestens ein- oder zweimal die Erwähnung des Heiligen Geistes, sogar jeweils einen Hinweis auf die Lehre des Heiligen Geistes. Es handelt sich tatsächlich um eine Lehre über den Heiligen Geist. Denn es ist ein Irrtum zu denken, dass der Heilige Geist nicht auch über sich selbst spräche. Er nimmt zwar im Allgemeinen von den Dingen Christi und gibt sie uns (Joh 16,14). Auch führt Er uns in die ganze Wahrheit ein (Joh 16,13). Aber Er redet durchaus auch über sich selbst, wofür der Epheserbrief ein Beispiel ist.
    Im Kolosserbrief stellen wir eine nahezu vollkommene Abwesenheit der Lehre des Heiligen Geistes fest. Der Heilige Geist wird nur einmal flüchtig und in speziellem Zusammenhang genannt (1,8).
  4. Man kann den Epheserbrief überschreiben: Welch eine wunderbare Versammlung hat der Herr Jesus! Den Kolosserbrief können wir überschreiben: Welch ein wunderbares Haupt hat die Versammlung!

Für unsere bösen Tage (vgl. Eph 5,16) ist der Kolosserbrief ein ausgesprochen wichtiges aber auch schönes Thema. Wir können einmal alles vergessen, was uns so viel Not macht. Es tritt in den Hintergrund, wenn wir die Schönheit der Person Christi betrachten.

Der Brief an die Kolosser beginnt mit den Worten „Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen“. Paulus hat den Kolosserbrief aus einem Gefängnis in Rom geschrieben. Er stellt sich in seiner Autorität vor, die weder menschlichen Ursprungs ist, noch durch Menschen vermittelt worden war. Er war ein „Apostel“! Aber er war kein Apostel der Versammlung, sondern Apostel „Christi Jesu“. Dieser hatte ihn berufen. Das ist übrigens bis heute für jeden Diener wahr. Wenn wir auch keine Apostel mehr haben, wird doch jeder Diener des Herrn durch Ihn und durch niemand sonst zum Dienst berufen.

Berufung in den Dienst

Die Versammlung beruft keinen Diener. Als einmal die Ältesten in Antiochien die Hände auf Barnabas und Paulus legten (vgl. Apg 13,3), hatte dies nichts damit zu tun, dass sie die beiden in irgendeiner Weise in das Werk des Herrn gesandt hätten. Nein, sie waren längst im Werk des Herrn tätig. Eine Versammlung kann nicht ins Werk des Herrn senden, aber sie kann sich eins machen mit den Dienern – durch das Auflegen der Hände wird dies deutlich gemacht.

Fußnoten

  • 1 Die christliche Wissenschaft ist eine um 1879 gegründete Sekte von Mary Baker Eddy und lehnt unter anderem die wörtliche Bedeutung der Bibel und die Dreieinheit Gottes (Vater, Sohn, Heiliger Geist) ab. Vergebung ist das geistige Verständnis, dass das Böse unwirklich ist. Damit hat das Böse keine moralische Bedeutung mehr für das Gewissen eines Menschen. (Anm. d. Red.)
  • 2 Anthroposophie ist eine von Rudolf Steiner begründete geistige Weltanschauung. Nach Steiner befindet sich der Mensch (und die gesamte, also auch die geistige Welt) in beständiger Entwicklung (Evolution). Das Ziel des anthroposophischen Schulungsweges ist es, durch Meditation, Selbsterziehung und Beobachtung auf einer lebenslangen „Suche“, höhere Bewusstseinsebenen zu erreichen. (Anm. d. Red.)
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