Der Prophet Jona
Jona flieht vor seinem Auftrag
In den bedauernswerten Zeiten, wo wahres Mitleid sowohl in Juda als auch in Israel immer seltener wurde, wo der Glaube an den kommenden Herrn von Tag zu Tag mehr verloren ging, wo die Verheißungen Gottes vergessen und seine Gebote öffentlich übertreten wurden – in dieser traurigen Zeit erweckte Gott Propheten, die Er damit beauftragte, sich des Volkes und seiner Führer anzunehmen und sie an den Willen Gottes zu erinnern, ihnen sein Gericht anzukündigen und vor allem ihnen die Verheißungen vorzustellen, die mit der Zeit der Erquickung verbunden waren, welche die Ankunft des Messias auf der Erde begleiten und ihr folgen sollten. Durch die Inspiration des Heiligen Geistes haben diese Männer Gottes geredet; durch diesen Geist des Christus, der in ihnen war, gaben sie Zeugnis, indem sie die Leiden, die auf den Messias kommen würden und die Herrlichkeit danach ankündigten (1. Pet 1,11).
Etwa fünfzig Jahre vor dem Verfall der zehn Stämme begannen diese Männer Gottes mit ihren Ankündigungen und Prophetien, indem sie zuweilen Charakterzüge ihres Zeitalters einfließen ließen. Ihre Schriftstücke wurden anschließend in die Sammlung der Bücher des Alten Testaments eingefügt. Sie bestehen aus vier großen und zwölf kleinen Büchern, die den letzten Teil der Sammlung bilden, die man die Propheten nennt. Somit bilden sie ebenfalls einen Teil der Schrift, von welcher der Apostel Paulus sagt, dass sie von Gott eingegeben wurde (2. Tim 3,16). Der Erlöser hat diese Schriften stets als von ihm zeugend zitiert, und die Apostel haben es ihm gleichgetan. Die ehemaligen Botschafter des HERRN haben nicht alle in derselben Zeitepoche gelebt und prophezeit; sie haben es über 300 Jahre hinweg nach und nach getan. Um also den Sinn und die Reichweite ihrer Prophezeiungen gut zu verstehen, muss man sich notwendigerweise daran erinnern, an wen sie gerichtet waren und auch in welcher Zeit und unter welchen Umständen sie ausgesprochen wurden.
Jona ist der erste dieser chronologischen Propheten. Sein Name bedeutet: Taube; es ist der gleiche Name wie der des Vaters von Simon Petrus (siehe Joh 1,43; 21,15–17). Nur ein einziges Mal wird Jona im Alten Testament außerhalb des Buches, das seinen Namen trägt, erwähnt. In 2. Könige 14,25 wird von Jerobeam II., dem König Israels gesprochen, der die Grenzen Israels nach dem Wort des HERRN wiederherstellte, des Gottes Israels, das er geredet hatte durch seinen Knecht Jona, den Sohn Amittais, den Propheten, der von Gat-Hepher, vom Stamm Sebulon war. Das ist alles, was wir über seinen Dienst in Israel wissen. Doch in dem Buch, das seinen Namen trägt und das das fünfte der kleinen Propheten ist, finden wir den Bericht über seinen Auftrag in einer großen heidnischen Stadt – eine absolute Ausnahme in der Geschichte der Prophetie unter dem alten Bund und unter außergewöhnlichen Umständen, die diesen Auftrag begleiteten.
Vom ersten Vers an erkennen wir, dass es sich tatsächlich um den gleichen Jona wie in 2. Könige 14,25 handelt, da er in beiden Stellen Sohn Amittais genannt wird. Nun aber, vielleicht zwanzig Jahre nach der Ermutigung, die er Jerobeam II. gemacht hatte, das heißt um das Jahr 860 vor der Geburt des Erlösers, richtete sich Gott an ihn mit den Worten: „Mach dich auf, geh nach Ninive, der großen Stadt, und predige gegen sie; denn ihre Bosheit ist vor mir heraufgestiegen.“
Ninive, deren hebräischer Name „Wohnort des Ninus“ bedeutet, war die Hauptstadt des Assyrischen Reiches. Ihr Ursprung verliert sich in der entferntesten Zeit der Geschichte, da sie bereits in 1. Mose 10,11 erwähnt wird. Sie befand sich an der orientalischen Uferseite des Tigres und wenn man den Historikern glaubt, besaßen ihre Mauern eine Höhe von 30 Metern Höhe und 67–89 Kilometern Umfang. Sie waren durchsetzt von 1.500 Türmen, von denen jeder eine Höhe von 60 Metern hatte. Der Fluss, der die Stadt durchquerte und ihre soliden Mauern machten sie uneinnehmbar. Sie war das Zentrum der Regierung, des Reichtums und eines enormen Handels (siehe Nah 2,10; 3,16). Die Folge dieses Wohlstands waren Hochmut und Zerstreuung. Jede Art von Verbrechen und Sünde herrschte dort mehr als überall sonst. Ihre Bosheit war zu dem HERRN aufgestiegen wie einst die Bosheit der Erbauer Babels und die der Bewohner der Städte der Ebene. Deshalb beauftragt der HERR seinen Diener Jona, sich nach Ninive zu wenden und gegen sie zu predigen. Der Auftrag, Buße oder Gericht Gottes an ein heidnisches und lasterhaftes Volk zu predigen, missfiel dem Propheten sehr. Denn so sehr wie der König Assyriens es nicht unterließ, das Volk Gottes zu unterdrücken, hätte Jona gerne die vollständige Zerstörung der Stadt Ninive gesehen, wohingegen sein Auftrag als Folge hätte, ihren Ruin zu verhüten. Das gesteht er sich selbst in Kap. 4,2 ein, wo er es wagt, Gott aus Trotz und Zorn vorzuwerfen, dass Er sein langes Ertragen und seine Barmherzigkeit beweist: „Ach HERR, war das nicht mein Wort, als ich noch in meinem Land war? Darum bin ich erst nach Tarsis geflohen; denn ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt.“ Ist es nicht überaus traurig, einen Mann Gottes zu sehen, der darüber betrübt ist, dass Gott Gnade übt und der mehr Rache, Gericht, Plagen und Zerstörung über eine schuldige Stadt wünscht, als Buße und Vergebung seiner Bewohner? Und doch ist dieses Empfinden dem menschlichen Herzen sehr vertraut, die reine Gnade gegenüber den Sündern verärgert es dagegen immer. Wie viele Beispiele haben wir hierfür in der Bibel! Wir sehen zum Beispiel in Lukas 9,52.56 die beiden Jünger Jakobus und Johannes, die darüber verärgert waren, dass eine kleine Anzahl Samariter es abgelehnt hatte, ihren Meister zu empfangen, zu ihm sagen: „Herr, willst du, dass wir sagen, Feuer solle vom Himmel herabfallen und sie verzehren, wie auch Elia tat?“ Worauf Jesus sie scharf zurechtweist und sagt: „Ihr wisst nicht, von welchem Geist ihr geleitet werdet!“ Sehen wir auch das Ende des bewegenden Gleichnisses des verlorenen Sohns (Lk 15, 25–32). Der vom Feld zurückkehrende Sohn wird zornig über die Freude, mit welcher der Vater die Rückkehr seines unglücklichen Sohns feiert. Wir sehen die Juden, dargestellt durch den älteren Sohn, von denen Paulus sagt: „die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns durch Verfolgung weggetrieben haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen entgegen sind, indem sie uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet werden“ (1. Thes 2,15–16). Ja, es ist für unser Herz natürlich, sich über die Gnade zu ärgern, besonders wenn sie sich gegen Menschen richtet, die wir in unserem Stolz als weniger wertvoll als uns selbst ansehen. Schade! Wir ähneln nur zu sehr dem Arbeiter, der gegen seinen Herrn murrte, weil dieser dem, der erst zur elften Stunde berufen worden war, den gleichen Lohn gab wie denen, die den ganzen Tag gearbeitet hatten. Diesem sagt der Herr: „Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu tun, was ich will? Oder blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin?“ (Mt 20,15).
Genauso schaut Jona nur auf sich und bangt darum, dass er seinen Ruf als Prophet durch die Barmherzigkeit Gottes einbüßen könnte. Seine wichtigste Aufgabe war jedoch, dem Wort des Erlösers, das Er an ihn gerichtet hatte, ohne Diskussion zu gehorchen. Stattdessen macht sich der Sohn Amittais auf, um wie einst Elia nach Tarsis1 zu fliehen, wie sein Herz es ihm sagte: „vom Angesicht des HERRN weg“. War es nicht ebenso sinnlos wie rebellisch, einen solchen Gedanken zu haben? Hätte er als Prophet nicht wissen müssen, dass ein solcher Gedanke Torheit war? Hätte er nicht wie David sagen sollen: „Wohin sollte ich gehen vor deinem Geist und wohin fliehen vor deinem Angesicht? Nähme ich Flügel der Morgenröte, ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres, auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen“ (Ps 139,7.9). Auch hier ist der arme Jona nur ein treues Bild dessen, was wir alle von Natur aus sind. Wenn wir von unseren Herzen geleitet werden, irgendetwas Schlechtes zu tun, worin unser Gewissen uns anklagt, ist es dann nicht wahr, dass wir uns in Sicherheit wähnen, sofern unsere Sünde anderen Menschen nicht bewusst wird, da wir sie im Verborgenen oder in der Dunkelheit der Nacht getan haben? Ist es nicht wahr, dass wir dabei völlig vergessen, dass da immer ein offenes Auge ist, das uns sieht und in unseren Herzen liest? Erinnern wir uns an das Wort, das im Anschluss an das kommt, was wir gerade zitiert haben: „Nur Finsternis möge mich umhüllen, und Nacht werde das Licht um mich her.“ (Ps 139,11).
Kommen wir aber zurück zu Jona, der vor dem Angesicht des HERRN fliehen möchte. Mit diesem Ziel vor Augen geht er nach Japho hinab, einer alten Stadt der Philister am Ufer des Mittelmeers mit einem sehr bekannten Hafen (siehe 2. Chr 2,15; Esra 3,7). Im Neuen Testament wird sie Joppe genannt. Dort wohnte die fromme und wohltätige Frau namens Tabitha (oder Dorkas), die krank wurde und starb, während der Apostel Petrus auf seiner Reise in ihrer Nähe, in Lydda vorbeikam. Nachdem er durch die Jünger gerufen wurde, begab er sich nach Joppe und erweckte Dorkas (Apg 9,36–43). Anschließend verbrachte er einige Tage bei einem gewissen Simon, einem Gerber, dessen Haus sich am Ufer des Meeres befand, als ein Engel Gottes ihn zu Cornelius brachte, der den Apostel von Cäsarea, wo er wohnte, nach Joppe holen ließ. Es handelt sich um das heutige Jaffe, das 55 Kilometer von Jerusalem entfernt liegt.
Der Prophet erreicht Japho, wo er ein Schiff findet, das nach Tarsis fährt. Nachdem er das Fährgeld bezahlt hat, steigt er in das Schiff, um damit weit weg vom Angesicht des HERRN zu fliehen. Das zeigt uns, dass wenn wir dem Weg des Ungehorsams gegenüber Gott folgen, Satan Freude daran findet, uns die Mittel dazu gut erreichbar zu machen. Zu jener Zeit muss es eine Seltenheit gewesen sein, dass ein Boot in Japho abfahrbereit Richtung Tarsis zur Verfügung stand und doch findet Jona genau so eins. Wenn er außerdem nicht das benötigte Geld für diese lange Reise gehabt hätte, hätte er nicht an Bord gehen können. Gott ließ alles das zu, da Er wusste, wie Er seinen untreuen Diener erreichen und zurückbringen konnte. Er musste ihn eine ernste Lektion lehren, wie wir es, wenn der Herr es schenkt, in unserer weiteren Betrachtung sehen werden.
Fußnoten
- 1 Tarsis befand sich wahrscheinlich im Süden Spaniens oder Richtung Cádiz, am anderen Ufer des Mittelmeers.