Betrachtung über Judas (Synopsis)
Der Brief des Judas entwickelt die Geschichte des Abfalls der Christenheit von den ersten verderblichen Elementen an, die in die Versammlung eindrangen, bis zu ihrem Gericht bei der Erscheinung unseres Herrn, und zwar des Abfalls in sittlicher Hinsicht, indem man die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehrte. Bei Johannes waren die Bösen aus der Mitte der Gläubigen ausgegangen, hier sind sie eingedrungen, um zu verderben. Es ist ein sehr kurzer Brief, und die darin enthaltenen Belehrungen werden uns in der gedrängten und energischen Sprache des prophetischen Stils gegeben; dennoch hat der Brief ein unermessliches Gewicht und eine außerordentliche Bedeutung. Das Böse, das sich in der Mitte der Christen eingeschlichen hatte, wird, wie wir hören, nicht weichen, bis es durch das Gericht vernichtet wird.
Wir haben schon früher bemerkt, dass zwischen diesem Brief und dem zweiten Brief des Petrus der Unterschied besteht, dass Petrus von Sünde redet, während Judas den Abfall schildert, das Verlassen ihres ursprünglichen Zustandes vor Gott von Seiten der Versammlung. Die Verleugnung des allerheiligsten Glaubens ist der Gegenstand, den Judas behandelt. Er spricht nicht von äußerer Trennung. Er betrachtet die Christen als eine Anzahl von Personen, die auf Erden eine Religion bekennen, und die anfänglich wirklich das waren, was sie zu sein bekannten. Gewisse Menschen hatten sich unbemerkt unter ihnen eingeschlichen. Sie weideten sich ohne Furcht bei den Liebesmahlen der Christen; und obwohl der Herr erscheinen wird, begleitet von allen seinen Heiligen (so dass die Gläubigen schon zuvor aufgenommen sein müssen), werden jene Personen im Gericht doch noch als zu der nämlichen Klasse gehörend betrachtet; „um zu überführen“, sagt der Apostel, „alle Gottlosen unter ihnen“ (V. 15). Sie mögen sich zwar im Augenblick des Gerichts in offenbarer Empörung befinden, aber es waren Personen, die einst einen Teil der Christenheit ausmachten, es waren Abgefallene, Feinde, die zum Gericht zurückgelassen waren.
Wenn im 19. Verse gesagt wird: „Diese sind es, die sich absondern“, so handelt es sich nicht um eine öffentliche Trennung von der sichtbaren Versammlung (denn Judas spricht von ihnen als in ihr befindlich), vielmehr sondern sie sich in ihrer Mitte von den anderen ab, als wären sie ausgezeichneter als diese, so wie die Pharisäer unter den Juden es taten. Judas bezeichnet diese Personen als solche, die sich mitten unter den Christen befanden und sich für Christen ausgaben. Das Gericht bricht über diese Klasse von Leuten herein. Die Aufnahme der Heiligen lässt sie für das Gericht zurück.
Judas beginnt damit, von der Treue Gottes und von dem Charakter seiner Sorge für die Heiligen zu reden, was dem Gebet Jesu in Johannes 17 entspricht. Sie waren Berufene, geliebt in Gott, dem Vater, und bewahrt in Jesu Christo. Welch ein herrliches Zeugnis! Es erhebt und verherrlicht die Gnade Gottes. „Heiliger Vater“, hatte unser Herr gesagt, „bewahre sie in deinem Namen!“ Und diese Gläubigen wurden geliebt von Gott, dem Vater, und bewahrt in Jesu Christo. Der Apostel redet im Blick auf das Aufgeben des heiligen Glaubens seitens vieler; er wendet sich an die, die bewahrt wurden.
Seine Absicht war gewesen, ihnen über das allen Christen gemeinsame Heil zu schreiben, doch fand er es für nötig, sie zu ermahnen, festzustehen und „für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen“. Denn schon wurde dieser Glaube verderbt durch die Leugnung der Rechte Christi als Herr und Meister. Und indem man so dem eigenen Willen die Zügel schießen ließ, missbrauchte man auch die Gnade und verwandelte sie in einen Anlass zur Ausschweifung. Das sind die zwei Elemente des Bösen, die durch die Werkzeuge Satans eingeführt wurden: die Verwerfung der Autorität Christi (nicht seines Namens) und der Missbrauch der Gnade, um den Begierden freien Lauf lassen zu können. In beiden Fällen war es der Wille des Menschen, den man von allem befreite, was ihn im Zaume hielt. Der Ausdruck „Herrscher“ oder „Gebieter“, den wir im 4. Verse finden, bezeichnet diesen Charakter Gottes. Es ist hier nicht das gewöhnlich für „Herr“ gebrauchte Wort, sondern despoth = Herrscher, Gebieter.
Nachdem der Brief das Böse, das sich heimlich unter die Christen eingeschlichen hatte, gekennzeichnet hat, zeigt er den Gläubigen, dass das Gericht Gottes ausgeführt wird über die, die nicht nach der Stellung wandeln, in die Gott sie ursprünglich gesetzt hatte.
Das Übel bestand nicht nur darin, dass einige Menschen sich neben eingeschlichen hatten (was an und für sich schon ein großes Übel war, weil dadurch die Tätigkeit des Heiligen Geistes unter den Christen gehemmt wurde), sondern auch darin, dass das Gesamtzeugnis vor Gott, das Gefäß, welches dieses Zeugnis aufrechthielt, schließlich (wie dies schon bei den Juden der Fall gewesen war) bis zu einem solchen Grad verdorben werden musste, dass es das Gericht Gottes über sich bringen würde. Und so verderbt ist es geworden.
Wir finden hier also den großen Grundsatz des Verfalls des von Gott in der Welt aufgerichteten Zeugnisses, und zwar mittels des Verderbens des Gefäßes, das es enthält und seinen Namen trägt. Indem Judas auf das sittliche Verderben, als den Zustand der Bekenner kennzeichnend, hinweist, führt er als Beispiele dieses Verfalls und seines Gerichts Israel an, das in der Wüste (bis auf zwei Männer, Josua und Kaleb) fiel, sowie die Engel, die ihren ersten Zustand nicht bewahrten und deshalb in Ketten der Finsternis für das Gericht des großen Tages aufbewahrt werden (V. 5. 6).
Das letzte Beispiel erinnert den Apostel an ein anderes, an das von Sodom und Gomorra, in dem uns Unsittlichkeit und Verderben als die Ursachen des Gerichts vor Augen geführt werden. Der Zustand dieser Städte ist hienieden ein beständiges Zeugnis von ihrem Gericht.
Jene gottlosen Menschen, von denen Judas spricht, sind, obwohl sie den Namen „Christen“ tragen, nur Träumer, denn die Wahrheit ist nicht in ihnen. Die beiden Grundsätze, die wir bereits angedeutet haben, kommen in ihnen zur Entfaltung: die Befleckung des Fleisches und die Verachtung der Autorität. Die letztere offenbart sich in einer zweiten Form, nämlich in der Zügellosigkeit der Zunge, in einem Eigenwillen, der sich in Schmähungen von Würdenträgern äußert, während der Erzengel Michael, wie der Text sagt, nicht einmal wagte, den Teufel zu lästern, sondern sich, in dem würdigen Ernst eines nach Gottes Gedanken Handelnden, auf das Gericht Gottes selbst berief (V. 8. 9).
Sodann zählt Judas die drei Arten oder Charakterzüge des Bösen und der Entfremdung von Gott auf. Zunächst redet er von der Natur, von dem Widerstand des Fleisches gegen das Zeugnis Gottes und gegen sein wahres Volk – von dem Antrieb, den diese Feindschaft dem Willen des Fleisches gibt. Dann spricht er von kirchlichem Bösen, von dem Lehren von Irrtümern um Lohn, während man weiß, dass diese Lehren der Wahrheit zuwider und gegen das Volk Gottes gerichtet sind, und drittens von offenem Widerstand, von der Auflehnung gegen die Autorität Gottes in seinem wahren König und Priester.
Zur Zeit, als Judas seinen Brief schrieb, hielten sich die Personen, die Satan in die Kirche einführte, um ihr geistliches Leben zu ersticken und das von dem Geist prophetisch vorausgesehene Ergebnis herbeizuführen, unter den Heiligen auf und nahmen teil an jenen frommen Festen, zu denen sich die Gläubigen zum Zeichen ihrer brüderlichen Liebe versammelten. Sie waren „Flecken“ bei diesen „Liebesmahlen“, die sich selbst ohne Furcht auf den Auen der Gläubigen weideten. Der Heilige Geist bezeichnete sie in der schärfsten, nachdrücklichsten Weise. Sie waren zweimal gestorben, von Natur und durch ihren Abfall, fruchtleer – sie trugen zwar Früchte, aber diese vergingen, weil sie unzeitig waren –, entwurzelt, überall ihre eigenen Schändlichkeiten ausschäumend, Irrsterne aufbewahrt für das Dunkel der Finsternis. Schon vor alters hatte der Heilige Geist durch den Mund Henochs das Gericht angekündigt, das über sie hereinbrechen sollte. Das weist uns auf eine sehr wichtige Seite der Belehrung hin, die uns hier gegeben wird, nämlich dass das Böse, das sich unter den Christen eingeschlichen hatte, fortdauern und bei der Wiederkunft des Herrn zum Gericht noch vorhanden sein würde. Der Herr wird mit den Myriaden seiner Heiligen kommen, um das Gericht über all die Gottlosen unter ihnen auszuführen, wegen all ihrer Werke der Gottlosigkeit, die sie verübt, und wegen all der harten Worte, die sie wider Ihn geredet haben (V. 14. 15). Es sollte also ein ununterbrochen fortschreitendes System des Bösen bestehen von den Tagen der Apostel bis zur Ankunft des Herrn. Das ist ein ernstes Zeugnis betreffs dessen, was unter den Christen vorgehen sollte.
Es ist sehr bemerkenswert zu sehen, wie der inspirierte Schreiber jene, die Ausschweifung begünstigenden Personen mit den Empörern, die am letzten Tag der Gegenstand des Gerichts sein werden, auf eine Stufe stellt. Es ist derselbe Geist, dasselbe Werk des Feindes – obwohl es für den Augenblick zurückgehalten wird –, das dem Gericht Gottes entgegenreift. Arme Versammlung! Doch es ist nichts anderes als der allgemeine Gang der menschlichen Geschichte; nur mit dem Unterschied, dass jetzt, nachdem die Gnade Gottes völlig offenbart und den Menschen vom Gesetz befreit hat, entweder Heiligkeit des Herzens und der Seele und williger, freudiger Gehorsam unter dem vollkommenen Gesetz der Freiheit, oder Zügellosigkeit und offenbare Empörung die Folge sein müssen. Hierin ist das Wort wahr, dass das Verderben des Köstlichsten das schlimmste Verderben ist. Wir müssen hier noch hinzufügen, dass die Bewunderung der Menschen, um dadurch Vorteil aus ihnen zu ziehen, ein anderer charakteristischer Zug dieser Abtrünnigen ist. Es ist nicht Gott, auf den sie blicken.
Die Apostel hatten die Heiligen schon gewarnt, dass diese Spötter kommen würden, die nach ihren eigenen Lüsten wandeln, sich selbst erheben, den Geist nicht haben, sondern sich in dem Zustand der Natur befinden.
Es folgen jetzt praktische Ermahnungen für die Bewahrten. Nach der Energie des geistlichen Lebens und der Kraft des Geistes Gottes sollten sie sich durch die Gnade selbst erbauen und sich in der Gemeinschaft Gottes erhalten. Der Glaube ist für den Gläubigen ein allerheiligster Glaube; er liebt ihn, weil er ein solcher ist. Derselbe bringt ihn in Beziehung, in Gemeinschaft mit Gott selbst. Was er in den schmerzlichen Umständen, von denen der Apostel spricht, zu tun hat, mögen diese sich auch immer weiter entwickeln, ist, sich auf jenen allerheiligsten Glauben aufzuerbauen. Der Christ pflegt die Gemeinschaft mit Gott und zieht durch die Gnade Nutzen aus den Offenbarungen seiner Liebe. Er hat seinen besonderen Gedankenkreis, in den er sich vor dem Bösen um ihn her zurückzieht, und so wächst er in der Erkenntnis Gottes, von dem ihn nichts zu scheiden vermag. Sein eigenes Teil wird ihm nur umso deutlicher, je mehr das Böse zunimmt. Seine Gemeinschaft mit Gott ist in dem Heiligen Geist, in dessen Kraft er betet, und der das Band zwischen Gott und seiner Seele bildet; seine Gebete stehen in Übereinstimmung mit der Innigkeit dieses Verhältnisses und werden belebt durch die Einsicht und Kraft des Geistes Gottes.
So erhielten sich die Gläubigen in dem Bewusstsein, in der Gemeinschaft und in dem Genuss der Liebe Gottes. Sie blieben während ihres Aufenthalts hienieden in seiner Liebe, aber als ihr Ziel erwarteten sie die Barmherzigkeit des Herrn Jesu Christi zum ewigen Leben (V. 21). In der Tat, wenn man sieht, was die Früchte des menschlichen Herzens sind, so fühlt man, dass es die Barmherzigkeit des Herrn Jesu sein muss, die uns an jenem Tag ohne Flecken vor seinem Angesicht darstellt, zum ewigen Leben bei einem Gott der Heiligkeit. Es ist ohne Zweifel seine unfehlbare Treue; aber angesichts von so vielem Bösen denkt man eher an die Barmherzigkeit (Vergleiche, was Paulus unter ähnlichen Umständen sagt: 2. Tim 1,16). Die Barmherzigkeit hat einen Unterschied gemacht zwischen denen, die fallen, und denen, die aufrecht bleiben (vgl. 2. Mo 33,19). Auch wir haben einen Unterschied zu machen zwischen denen, die fortgerissen werden. Es gibt solche, die durch andere verleitet worden sind, und solche, in denen die Tätigkeit der Begierden eines verderbten Herzens zutage tritt; wo wir das letztere sehen, da müssen wir gegen alles, was von diesem Verderben zeugt, als gegen etwas Unerträgliches, Hass offenbaren.
Der Geist Gottes redet in diesem Brief nicht von der Wirkung der Erlösung. Er beschäftigt sich mit den listigen Verführungen des Feindes, mit seinen Anstrengungen, die Regungen des menschlichen Willens mit dem Bekenntnis der Gnade Gottes zu verbinden, und so einerseits das Verderben der Versammlung und andererseits den Zerfall der Christen herbeizuführen, indem er sie auf den Weg bringt, der zum Abfall und zum Gericht führt. Im Vertrauen auf Gott wendet sich der heilige Schreiber am Schluss seines Briefes an Ihn, wenn er an die Gläubigen denkt, an die er schreibt: „Dem aber“, sagt er, „der euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seiner Herrlichkeit tadellos darzustellen vermag mit Frohlocken, dem alleinigen Gott ... sei Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt!“ (V. 24. 25).
Es ist wichtig, die Art und Weise zu beachten, in welcher der Geist Gottes in den Briefen von einer Macht redet, die uns ohne Anstoß und untadelig bewahren kann, so dass nicht einmal ein Gedanke von Sünde entschuldbar ist. Nicht als ob das Fleisch nicht in uns wäre, aber weil der Heilige Geist in dem neuen Menschen wirkt, so ist es nie notwendig, dass das Fleisch wirke oder auf unser Leben Einfluss ausübe (vgl. 1. Thes 5,22). Wir sind vereinigt mit Jesu; Er stellt uns vor Gott dar, Er ist unsere Gerechtigkeit. Aber zugleich ist Der, welcher in seiner Vollkommenheit unsere Gerechtigkeit ist, auch unser Leben, so dass der Heilige Geist die Offenbarung derselben Vollkommenheit, einer praktischen Vollkommenheit, in unserem täglichen Leben hervorzubringen sucht. „Wer da sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat.“ So sagt auch der Herr: „Ihr nun sollt vollkommen sein, gleichwie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“
Hierin gibt es einen Fortschritt. Der auferstandene Christus ist die Quelle dieses Lebens in uns, das wieder zu seiner Quelle hinaufsteigt und diesen Christus, dem wir in der Herrlichkeit gleichgestaltet werden sollen, als seinen Gegenstand und sein Ziel anschaut (vgl. Phil 3). Aber die Wirkung davon ist, dass wir kein anderes Ziel haben: „Eines aber tue ich!“ So ist, was auch der Grad der Verwirklichung sein mag, der Beweggrund immer vollkommen. Das Fleisch tritt nicht als Beweggrund auf, und in diesem Sinn sind wir untadelig.
Der Geist also verbindet (weil Christus, unsere Gerechtigkeit, auch unser Leben ist) unser Leben mit dem schließlichen Ergebnis eines vor Gott untadeligen Zustandes. Das Gewissen weiß durch die Gnade, dass eine unbedingte Vollkommenheit unser Teil ist, weil Christus unsere Gerechtigkeit ist. Aber die Seele, die sich dieser Tatsache vor Gott erfreut, hat das Bewusstsein der Vereinigung mit Ihm und sucht die Verwirklichung dieser Vollkommenheit gemäß der Kraft des Geistes, durch den wir so mit dem Haupt vereinigt sind.
Dem, der das zu vollbringen vermag, indem Er uns vor allem Anstoß bewahrt, schreibt unser Brief alle Herrlichkeit, Majestät, Macht und Gewalt zu, vor aller Zeit und jetzt und in alle Ewigkeit.
Besonders eindrucksvoll in dem Brief des Judas ist dies, dass er das Verderben der Versammlung, von dem ersten unvermuteten Eindringen desselben bis zu seinem schließlichen Gericht, verfolgt, indem er zugleich zeigt, dass das Böse in seinem Lauf nicht aufgehalten wird, sondern bis zu jenem Tag seine verschiedenen Formen und Wandlungen durchschreitet.