Der HERR regiert (Psalm 93)
Wie allgemein bekannt ist, sind die Psalmen in fünf Abschnitte eingeteilt, von denen jedes Buch durch seinen eigenen, besonderen Charakter geprägt ist. Das vierte Buch der Psalmen, in dem sich Psalm 93 befindet, hat als Zentralthema die Einführung des Erstgeborenen in den Erdkreis, um das Seufzen seines geprüften Überrestes zu beschwichtigen, um die Missetaten zu unterdrücken und ganz besonders mit den großen Widersachern der letzten Tage zu handeln, und um sein Reich inmitten der Stämme Israels aufzurichten, welches sich von dort über die ganze Erde ausdehnen wird.
„Der Herr regiert“; dies wird nicht eher wahr werden, als dass Christus erscheint. Psalm 102 liefert den Beweis für die gewaltige Tatsache, dass der einst Erniedrigte und Jehova ein und dieselbe Person ist. In den Tagen seines Leidens musste er sagen: „Er hat meine Kraft gebeugt auf dem Weg, hat verkürzt meine Tage. Ich sprach: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! - Von Geschlecht zu Geschlecht sind deine Jahre“. Die Antwort lautete: „Du hast einst die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk...“ (Vers 24-26; vgl. mit Heb 1,10-12). Also wurde sein Titel in den Tagen seiner Erniedrigung und Leiden anerkannt; und in den Tagen, in denen er Zion wieder aufbauen wird, wird er als Jehova in seiner Herrlichkeit erscheinen. Sein Reich wird durch schreckliche Gerichte eingeführt und aufgerichtet werden - alle Schriften geben davon Zeugnis. Mit Babylon muss gehandelt werden und es muss beseitigt werden (obwohl dies mehr durch die Vermittlung des Tieres und seiner zehn Könige geschehen wird, bevor Christus tatsächlich aus den Himmeln erscheinen wird), die zwölf Stämme müssen von ihren Aufrührern gereinigt werden, der Assyrer muss erniedrigt werden, und das Tier und der Mensch der Sünde müssen dem Feuersee übergeben werden. Es ist ein völlig irriger Gedanke, dass die Friedensherrschaft mit den gleichen sanften Mitteln herbeigeführt wird, mit denen das gegenwärtige Evangelium der Gnade Gottes verkündigt wird. Es ist der Ratschluss Gottes, durch das Evangelium 'ein Volk für seinen Namen' herauszunehmen (Apg 15,14), damit diese Miterben Christi und durch den Heiligen Geist Glieder seines Leibes sein sollen, während er als das Haupt noch im Himmel ist. Es wird nicht abgestritten, dass die Wirksamkeit des Evangeliums für die (zugunsten der) ganzen Welt ist. Gepriesen sei Gott, es ist so; aber die Heilige Schrift lehrt an keiner Stelle, dass auch die ganze Welt dieses Evangelium empfangen wird - und gerade das Gegenteil wird überall gesagt. Doch trotz des Unglaubens des Menschen und der Ablehnung seiner Wahrheit führt Gott unbemerkt seine Ratschlüsse zur Ehre und Verherrlichung seines Sohnes aus. Der Sohn sitzt zur Rechten des Vaters und wartet auf den Zeitpunkt, bis seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt sind; dann wird er kommen - nicht nur zur Vernichtung einiger seiner Feinde erscheinen, sondern den Stab seiner Macht aus Zion senden, inmitten seiner Feinde herrschen, und Könige am Tag seines Zorns vernichten.
Es ist genauso falsch, anzunehmen, die Zeit dieser Herrschaft sei jetzt. Ohne jeden Zweifel hat Gott die Ober-Herrschaft und hält zu allen Zeiten die Gräueltaten zurück oder richtet sie; auch veranlasst er, dass das Böse des Menschen seinem Willen dienlich ist - doch es kann noch nicht mit den Worten unseres Psalms gesagt werden: „Der Herr regiert“. Die Zeiten der Nationen nehmen noch immer ihren Lauf, den beiden „Tieren“ ist ihre Herrschaft noch nicht entrissen worden, und auch ist dem Sohn des Menschen seine königliche Macht noch nicht verliehen worden. Anzunehmen, die Zeit dieser Herrschaft wäre bereits gekommen, würde bedeuten, in den gleichen verheerenden Irrtum wie die Korinther zu verfallen, zu denen der Apostel sagen musste: „Schon seid ihr gesättigt, schon seid ihr reich geworden; ihr habt ohne uns geherrscht, und ich wollte wohl, dass ihr herrschtet, damit auch wir mit euch herrschen möchten“ (1. Kor 4,8). Die Zeit der Herrschaft war für den Apostel noch nicht gekommen, was die fleischlichen Korinther auch immer denken mochten. Treu trug er die Malzeichen des Kreuzes und war zufrieden damit, als Kehricht der Welt und als Abschaum aller geworden zu sein (1. Kor 4,13). Es war ihm vollkommen zuwider, auf dem Schauplatz, wo es für seinen Herrn nur ein Kreuz und ein Grab gegeben hatte, in Ehren und in Ruhe und Bequemlichkeit zu leben. Es ist das Kennzeichen Babylons, sich selbst zu rühmen und herrlich und in Freuden zu leben und in seinem Herzen zu sagen: „Ich sitze als Königin, und Witwe bin ich nicht“ (Off 18,7). Das Reich in der gegenwärtigen Zeit steht in Verbindung mit Drangsal und Ausharren (Off 1,9; Apg 14,22); bald jedoch wird es sich in Macht und Herrlichkeit entfalten. Noch ist Christus verborgen, dann jedoch wird er offenbart werden; jetzt leidet der Gerechte noch und der Gesetzlose ist erhöht; dann aber wird der Gerechte erhöht sein und der Gesetzlose wird zu Staub unter seinen Fußsohlen werden. Jetzt seufzt die Schöpfung noch und ist geplagt, dann wird sie „freigemacht werden von der Knechtschaft des Verderbens zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Rö 8,21). Was für ein vollkommener Gegensatz!
Dann wird die Zeit des Eingreifens Jehovas gekommen sein: „Er hat sich bekleidet mit Hoheit; der Herr hat sich bekleidet, er hat sich umgürtet mit Stärke“; das Ergebnis davon wird sein, dass der Erdkreis feststehen und nicht wanken wird. Ich zweifle nicht, dass dieser Ausdruck moralisch zu verstehen ist, denn die Grundlagen der Erde werden dann - wie auch jetzt - ihren Lauf nicht ändern; alles wird unter der Regierung Christi befestigt und sicher sein. Es ist keine neue Macht, denn wir lesen: „Dein Thron steht fest von alters her, von Ewigkeit her bist du“; aber es ist eine Macht, die sich auch tatsächlich erweisen wird. Gott hatte zugelassen, dass die Gräuel ihren Lauf nahmen, hatte den Strömen („Belials“; Ps 18,4) erlaubt, ihre Stimme zu erheben; aber in den Tagen, von denen wir hier sprechen, wird er in seiner Kraft erscheinen und alles Böse unterdrücken. Die Gesetzlosigkeit wird nicht länger in dreister, unverfrorener Weise ihr Haupt erheben: „Und der Herr wird hoch erhaben sein, er allein, an jenem Tag“ (Jes 2,11). Immer noch ist es inmitten des Aufruhrs der Ungöttlichen für die Seele eine Beruhigung, dass „der Herr in der Höhe gewaltiger ist als die Stimmen großer Wasser, als die gewaltigen Wogen des Meeres“. Der jüdische Überrest in den Leiden der letzten Tage wird die Erquickung dieser Worte erproben; auch unsere Herzen erfahren dies in gewissem Maße und ruhen darin.
Im letzten Vers werden zwei wichtige Grundsätze herausgestellt: 1. die Zuverlässigkeit des Wortes Gottes, und 2., dass seinem Hause Heiligkeit geziemt auf immerdar. „Deine Zeugnisse sind sehr zuverlässig“. Welch ein Ruheort für das aufrichtige Herz inmitten der zunehmenden Verwirrung und Gottlosigkeit, wo die Gesetzlosigkeit triumphiert und die Macht Gottes sich nicht sichtbar erweist! Wir befinden uns hier - wie auch anderswo in den Psalmen - auf ausgesprochen jüdischem Boden, aber das Wort Gottes wird uns hier in der gleichen Weise vorgestellt wie im 2. Timotheus-Brief, wo der Geist Gottes durch den Apostel das Verderben des Christentums in den deutlichsten Farben malen lässt. Die Schriften in ihrer ganzen Vollkommenheit werden uns dort als unser alleiniges Hilfsmittel vorgestellt; sie sind durch Inspiration von Gott eingegeben. Sie sind imstande, uns weise zu machen zur Errettung, und nützlich zur Lehre, zur Überführung usw. Und Timotheus sollte darauf achten, das „Wort“ zu predigen, auch wenn es der großen Masse in den Ohren kitzeln und sie sich von der Wahrheit abkehren und zu den Fabeln hinwenden würde (2. Tim 3,14 - 4,4). Das Wort Gottes - seine Zeugnisse - bietet dem Glauben eine solide Grundlage, auch in einer Zeit, in der auch andere Dinge scheinbar einen ordentlichen Weg weisen. Glauben wir dies wirklich?
Weiter noch beachtet der Glaube das, was Gott gebührt, wie groß und weit verbreitet das Böse auch sein mag; daher lesen wir: „Deinem Haus geziemt Heiligkeit, Herr, auf immerdar“. Die Natur und das Wesen Gottes ändern sich nie, und zu keiner Zeit werden seine Ansprüche abgeschwächt. Der Glaube weigert sich, mit dem Strom zu schwimmen, wie leicht und ruhig dieser auch dahinfließen mag; er setzt sich für die Heiligkeit ein - und das im gemeinschaftlichen wie auch im persönlichen, individuellen Charakter. Es steht uns niemals frei, mit dem Bösen voranzugehen; es wäre weit besser, allein voranzugehen, als dies zu tun. Die Wahrheit Gottes muss um jeden Preis getrennt vom Bösen aufrechterhalten werden, wenn wir seine Zustimmung und Anerkennung haben wollen. In unseren Tagen scheint es für viele ein Grundsatz zu sein, den Weg Gottes inmitten des Bösen weiterzugehen; sie seufzen darüber und protestieren gegen das Böse. Doch das ist nicht der Weg, wie er in der Schrift vorgezeichnet ist, denn da geht es um Absonderung von all dem Bösen zu dem Namen des Herrn hin. Die Welt wird einen protestantischen Christen dulden, nicht aber einen, der sich heiligt und absondert. Was könnte deutlicher sein, als die Anordnungen in 2. Tim 2? „Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“; und: „Wenn nun jemand sich von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet“ (Verse 19 und 21). Das ist der Weg Gottes, und für unsere Seelen ist es das Beste, wenn wir seinen Willen zu tun begehren. In dem „großen Haus“ ist das Wesensmerkmal nicht Heiligkeit, sondern eine Form der Gottseligkeit ohne Kraft mit genau den gleichen Kennzeichen des Heidentums unter dem Deckmantel des Namens des Herrn (vgl. Rö 1 mit 2. Tim 3). Der Grundsatz Gottes heißt Absonderung vom Bösen, doch solchen, die diesen Grundsatz ausüben wollen, kostet es oftmals sehr viel. Aber unser Gott wird zu allen Zeiten seine Siebentausend haben (1. Kön 19,18); möchte es uns eine Ehre bedeuten, von ihm zu diesen gerechnet zu werden!