Der wahre Weinstock (Johannes 15)
Die Kapitel 13 bis 16 im Johannes-Evangelium bilden einen ausgesprochen gesonderten Teil dieses Buches. Sie geben uns die kostbare Unterhaltung des Herrn mit seinen Jüngern auf dem Obersaal in der Nacht seiner Überlieferung wieder. Dieser Abschnitt ist jedoch selbst noch einmal in zwei Teile unterteilt. Die Kapitel 13 und 14 sind gekennzeichnet durch Gnade - Er verheißt, wiederzukommen, den Sachwalter zu senden, sich selbst ihnen offenbar zu machen, und ihnen seinen Frieden zu geben. Die Kapitel 15 und 16 betonen mehr die Verantwortlichkeit. Dies ist ganz deutlich in dem Gleichnis von dem Weinstock und den Reben zu sehen. Christus bezeichnet sich selbst als den wahren Weinstock, sein Vater ist der Weingärtner. Im Alten Bund wurde Israel als der Weinstock Gottes bezeichnet. Der HERR hatte aus Ägypten einen Weinstock gezogen, die Nationen vertrieben und ihn gepflanzt (Ps 80,8). Er hatte diesem Weinstock viel geduldige Sorgfalt zuteil werden lassen und ihm viele Sonderrechte gewährt - doch was war die Frucht davon? „Warum habe ich erwartet, dass er Trauben brächte, und er brachte schlechte Beeren“ (Jes 5,4)? Israel - der Mensch nach dem Fleisch - hatte versagt; Vorrechte und Vergünstigungen ließen da, wo alles böse und verderbt war, nichts Gutes hervorkommen. Wie oft hatte der HERR gesandt! Wie geduldig hatte er ertragen und gewartet! Doch alles war vergeblich gewesen: Israel war ein fruchtloser, unnützer Weinberg. Als Christus in das Seinige kam, fand er nicht Götzendienst vor, wie in den bösen Tagen der Könige; er fand Religion, und davon eine ganze Menge. Wir lesen nirgends etwas davon, dass der wiederhergestellte Überrest in die alten, götzendienerischen Wege ihrer Väter abgeglitten ist; aber als der Messias kam, fand er sie hinab gesunken in kalten, toten Formalismus. Die Festtage wurden eingehalten, die Opfer wurden gebracht - aber wo war die Frucht für Gott? Wehe über Israel!
Deshalb nahm er gewissermaßen den Platz Israels ein (von Gott aus Ägypten herausgeführt, genau wie das Volk auch; Mt 2,15; Hos 11,1), und begann die Geschichte Israels noch einmal von neuem, indem er sagte: „Ich bin der wahre Weinstock“. Den gleichen Grundsatz sehen wir in Jes 49. Der HERR wendet sich dort nicht an die Nation, sondern an Christus: „Du bist mein Knecht, Israel, an dem ich mich verherrlichen werde“ (Vers 3). Wenn Israel auch versagt hatte - er würde nicht versagen, sondern reichlich kostbare Frucht auf einem Schauplatz hervorbringen, auf welchem der göttliche Weingärtner bislang vergeblich danach gesucht hatte.
Der Weinstock hat jedoch auch Reben. Das sind die Jünger und in der Tat auch alle die, welche sich selbst mit Christus in Verbindung bringen und seinen Namen bekennen. Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen Errettung und Fruchttragen, zwischen einer Rebe am Weinstock und einem Glied am Leib Christi. Diesen Unterschied nicht zu erkennen, bedeutet, der Unterweisung von Joh 15 verlustig zu gehen, und, was noch weitaus ernster ist, es gefährdet den Frieden und die Ruhe des Gewissens, deren solche berechtigt sind, sie zu genießen, die in Christus und auf Seinem Werk ruhen. Wenn ich über Errettung nachsinne, dann denke ich an Gnade; wenn jedoch das Fruchtbringen vor meinem Herzen ist, dann denke ich an Verantwortlichkeit. Jede Rebe in ihm soll Frucht bringen, nur dadurch erweist sie sich als sein Jünger; und Frucht kann nur als das Ergebnis des Bleibens in ihm getragen werden. Was wären wir ohne ihn? „Außer mir könnt ihr nichts tun“. Deshalb werden wir immer wieder über die Notwendigkeit belehrt, von ihm abhängig zu bleiben. Es ist unsere Sache, auf ihn zu rechnen und uns auf Seine Fülle der Gnade zu stützen, damit sich der neue Mensch in der Kraft des Heiligen Geistes entfalten kann. Sein Wunsch ist „viel Frucht“, nicht bloß hier ein wenig und dort ein wenig; es soll jetzt schon etwas von dem fortwährenden Fruchtbringen in der Herrlichkeit seiner Gegenwart (Off 22,2) zu sehen sein.
Darin wird der Vater verherrlicht, und wir wandeln in dem bewussten Genießen seiner Liebe und bewahren und halten die Gebote Christi. Die Hand des Vaters ist auf den Seinen - immer in Liebe - um ihre Fruchtbarkeit noch zu vermehren: „Jede Rebe, die Frucht bringt, die reinigt er, damit sie mehr Frucht bringe“. Das Reinigen ist oftmals unangenehm und mit Schmerzen verbunden, und wir neigen dazu, die göttliche Absicht darin nicht zu erkennen, wenn wir die Reinigung an uns erfahren; doch es ist in allem die Liebe, die dies zur Verherrlichung Gottes und zum Wohlergehen der Seele so anordnet. In unserem Innern sprießen Dinge hervor, die sich heimlich entfalten und heranwachsen können, und von denen wir möglicherweise nur ein geringes Bewusstsein haben; wenn man nun zulassen würde, dass sich diese Dinge weiter entfalten können, würde dies unseren Fortschritt zur moralischen Gleichförmigkeit des Bildes Christi ernsthaft verzögern. Wir stehen unter der sorgfältigen Beobachtung des Weingärtners (Ackerbauers). Die Heiligen sind Gottes Ackerfeld (1. Kor 3,9); und das Messer zum Beschneiden wird in Gnade und in Liebe benutzt. Kostbare Handlung! Sie ist nötig wegen unseres trügerischen Herzens auf unserem Wandel durch diese gegenwärtige Szene.
Aber nicht alle Reben sind auch Wiedergeborene, denn hier ist das Bekenntnis und nicht das Leben der Gegenstand; die Echtheit des Bekenntnisses zeigt sich in der Frucht: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“ (Mt 7,16). Deshalb fährt der Herr damit fort, zu sagen: „Wenn jemand nicht in mir bleibt, wird er hinausgeworfen wie die Rebe und verdorrt; und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen“. Beachte, die Rede ist ganz allgemein: „Wenn jemand“. Der Herr sagt hier nicht zu den Elfen „ihr“ wie in den Versen 4 und 5, denn bezüglich ihrer Echtheit gab es keinen Zweifel, er selbst hatte sie gerade als rein bezeichnet „um des Wortes willen“ (Vers 3). Bei der Fußwaschung in Kap 13 hatte er es anders ausgedrückt: „Ihr seid rein, aber nicht alle“, denn zu diesem Zeitpunkt war Judas Iskariot noch gegenwärtig. Der Verräter aber war inzwischen hinausgegangen, und alle Zurückgebliebenen waren echt - wie oft sie auch versagen mochten. Judas Iskariot ist ein Beispiel der Klasse von Menschen, von denen der Herr hier spricht: er war nicht in Ihm geblieben - zu seinem ewigen Verlust und Untergang. Andere finden wir in Johannes 6,60: die Reden des Herrn waren „hart“ für sie; sie gingen zurück und wandelten nicht mehr mit Ihm, obwohl doch er, und nur er allein, Worte ewigen Lebens hatte.
Wahrlich gesund sind die „wenns“ der Heiligen Schrift. Sie sollen nicht in dem Gläubigen Zweifel erwecken, dies ist auf keinen Fall das Ziel des Geistes, sondern sie sollen die Bekenner des Namens des Herrn sichten und prüfen und untersuchen. Wo die göttlichen Ratschlüsse entfaltet werden, wie im Epheser-Brief, finden sich keine „wenns“, denn da ist alles von Gott. Wo jedoch die menschliche Verantwortlichkeit dazukommt, wie im Kolosser-Brief und im Hebräer-Brief, werden sie wieder und wieder in ernster Weise durch den Heiligen Geist gebraucht. Es gibt einen passenden und richtigen Gebrauch solcher Warnungen, aber es gibt auch einen schlimmen Missbrauch, der in unbefestigten Seelen Zweifel erweckt.