Einführender Vortrag zum 1. Korintherbrief
Kapitel 1
Wie üblich geben uns die einführenden Worte (Verse 1–3) nicht wenige Hinweise auf das, was folgen wird. Der Apostel bezeichnet sich als „berufener Apostel Jesu Christi durch Gottes Willen“ und verbindet zusätzlich einen anderen Bruder mit sich selbst, nämlich „Sosthenes, der Bruder.“ Er schreibt an die „Versammlung Gottes, die in Korinth ist“ - nicht an die Heiligen, wie im Römerbrief, sondern an die Versammlung in Korinth – „den Geheiligten in Christo Jesu.“ Letzteres stimmt mit dem früheren Brief überein. „Den berufenen Heiligen, samt allen, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn.“
Wir werden finden, dass uns diese Worte in das Hauptthema dieses Briefs hineinführen. Wir dürfen hier nicht die großen Grundlagen der christlichen Lehre erwarten. Die Versammlung wird uns unter praktischen Gesichtspunkten gezeigt und nicht als Kirche Gottes in ihrem höchsten Charakter. Der Brief enthält nicht mehr als nur einen flüchtigen Blick auf ihre Verbindung mit Christus. Nichts weist auf die himmlischen Örter als Bereich unserer Segnungen hin; auch hören wir nichts von den Zuneigungen Christi als Bräutigam zu seinem Leib. Stattdessen wird die Versammlung Gottes angeredet, d. h. solche, die in Christus Jesus geheiligt sind – berufene Heilige, „samt allen, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen.“ Damit wird dem Bekennen des Namens des Herrn Raum gegeben. Es geht hier nicht wie im Epheserbrief um die „Heiligen und Treuen in Christo Jesu, die in Ephesus sind.“ Im Korintherbrief fehlt diese persönliche Nähe, diese Vertrautheit, dieses Vertrauen auf einen wahrhaft heiligen Herzenscharakter.
Die Korinther waren in Christus Jesus geheiligt. Sie hatten den Platz der Absonderung eingenommen, indem sie „den Namen unseres Herrn Jesus Christus“ anriefen. Doch wir müssen dabei die bemerkenswerte Hinzufügung beachten: „Samt allen, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn.“ Diese Worte sind umso bemerkenswerter, weil es keinen Brief gibt, bei dem der Unglaube der Christenheit in einem solchen Ausmaß jede Anwendung auf die heutigen Umstände zu leugnen sucht, wie der erste Korintherbrief. Darüber brauchen wir uns nicht zu wundern. Der Unglaube schreckt vor dem zurück, was die Erlösten zu einem angemessenen Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit in Bezug auf ihre Stellung als Kirche (Versammlung) Gottes auf der Erde aufruft oder vielmehr zurückruft. Die Korinther hatten diese Verantwortlichkeit vergessen. Die Christenheit hat sie nicht nur vergessen, sondern sogar geleugnet, und war so genötigt, einen großen Teil dessen, was wir heute Abend betrachten wollen, als überholt anzusehen. Keiner bezweifelt, dass Gott in vergangenen Zeiten die in diesem Brief geschilderten Verhaltensweisen gewünscht hat. Aber die meisten Christen heutzutage denken nicht im Geringsten ernsthaft daran, sich diesen Anweisungen als maßgeblich für unsere gegenwärtigen Pflichten zu unterwerfen. Wer könnte jedoch bestreiten, dass Gott schon in der Einführung dieses Briefs eine solche Verantwortung klarer und verbindlicher vorgestellt hat als in jedem anderen biblischen Schreiben? Er ist weise und handelt immer richtig. Nicht so der Mensch! Wir haben uns zu beugen und zu glauben.
In den nächsten Versen (4–8) lesen wir von einem anderen Gesichtspunkt, den wir erwägen müssen. Der Apostel spricht davon, dass er seinem Gott allezeit der Korinther wegen dankt, vermeidet aber jeglichen Ausdruck der Dankbarkeit hinsichtlich ihres Zustands. Er anerkennt, dass Gott sie reichlich mit Gaben versehen hat, dass sie in allem reich gemacht waren in allem Wort und aller Erkenntnis und dass sich unter ihnen die Wirkungen des Geistes Gottes und seine Kraft zeigten. Dies ist außerordentlich wichtig, denn wir neigen oft dazu, Schwierigkeiten und Unordnung unter den Heiligen Gottes auf einen Mangel an Aufsicht und Kraft im Dienst zurückzuführen. Aber keine Fülle an Gaben in wenigen oder vielen Personen kann in sich selbst eine heilige geistliche Ordnung bewirken. Unordnung ist niemals allein das Ergebnis von Schwachheit. Natürlich kann letztere zu einem Fallstrick werden; und Satan versucht die Menschen dazu, sich den Anschein einer Kraft zu geben, die sie gar nicht haben. Zweifellos verursacht Anmaßung Unordnung in der Versammlung. Wo hingegen Schwachheit ausschließlich die Seelen anleitet (wie es stets geschehen sollte), ihren Mangel vor den Herrn auszubreiten, ruft sie die gnädige Wirksamkeit des Heiligen Geistes und die nie versagende Fürsorge Dessen hervor, der seine Erlösten und die Versammlung liebt.
In Korinth war es nicht so. Dort zeigte sich eine selbstbewusste Ausübung von Kraft. Gleichzeitig fehlte den Korinthern die Furcht Gottes und das Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit hinsichtlich der Ausübung dessen, was Gott ihnen gegeben hatte. Sie waren wie Kinder, die sich mit einer nicht geringen ihnen zur Verfügung gestellten Kraft selbst belustigten, welche in Gefäßen wirkte, denen es ganz und gar an Selbstgericht fehlte. Das war eine der Ursachen, und zwar eine Hauptursache, der Schwierigkeiten und Unordnungen in Korinth. Diese Einsicht ist auch für uns von großer Bedeutung, denn es gibt solche in der Versammlung, die beständig nach einem Wachstum der Kraft als das einzige Allheilmittel für die Kirche rufen. Welcher nachdenkende geistliche Christ kann bezweifeln, dass Gott sieht, wie wenig seine Erlösten eine derartige Kraft ertragen können? Kraft in dem Sinn, in welchem wir jetzt von ihr reden, d. h. Kraft in Form einer geistlichen Gabe, ist weit davon entfernt, die größte Notwendigkeit oder das wichtigste Erfordernis für die Erlösten zu sein. Zudem – handelt Gott jemals so, dass Er sich in einem gefallenen Zustand auf eine solche Weise offenbart? Das bedeutet nicht, dass Ihm Schranken gesetzt sind oder dass Er nicht der Allmächtige ist – auch nicht, dass Er nicht geben will, und zwar großzügig, wie es seiner eigenen Herrlichkeit zusteht. Er gibt jedoch in Weisheit und Heiligkeit, um die Seelen zu Gewissensübungen und einem zerbrochenen Geist zu führen. Dadurch erhält Er ihr Empfinden von der Berufung seiner Kirche und dem Zustand, zu welchem sie herabgesunken ist, wach, und vertieft es sogar.
In Korinth war die Lage allerdings keineswegs so. Wir befinden uns, wenn ich so sagen darf, am Beginn des Entstehens der Kirche Gottes unter den Nichtjuden. So fehlte es dort nicht an einem erstaunlichen Muster von der Kraft des Heiligen Geistes als Zeugnis von dem Sieg, den Jesus über Satan errungen hatte. Dieser wurde durch die Kirche Gottes, also auch die Versammlung in Korinth, offenbart. (Jedenfalls hätte es so sein sollen.). Die Korinther hatten indessen Gottes Absichten aus dem Auge verloren. Sie waren vollständig erfüllt von ihrer eigenen Person, von ihren Beziehungen zueinander und der übernatürlichen Kraft, welche die Gnade im Namen des Herrn ihnen mitgeteilt hatte. Bei der Inspiration des Apostels in seinem Schreiben an die Korinther schwächt der Heilige Geist in keinster Weise das Empfinden von der Quelle und dem Charakter jener Kraft ab. Er besteht darauf, dass sie eine Wirklichkeit ist, und erinnert daran, dass sie von Gott stammt. Aber gleichzeitig stellt Er das göttliche Ziel in dieser Angelegenheit vor. „Gott“, sagt der Apostel; „ist treu, durch welchen ihr berufen worden seid in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn“ (V. 9).
Unmittelbar danach spielt er auf die Spaltungen unter den Korinthern an und fordert sie auf, „in demselben Sinne und in derselben Meinung völlig zusammengefügt“ zu sein. Er informiert sie von den Berichten, die ihn durch die Hausgenossen der Chloe erreicht hatten, nämlich dass Streitigkeiten unter ihnen vorkamen. Einige sagten: „Ich bin des Paulus“, andere: „Ich des ... Apollos“, wieder andere: „Ich des ... Kephas“ und eine weitere Gruppe: „Ich aber Christi“ (V. 12). Es gibt keine Art des Missbrauchs, zu der das Fleisch die Wahrheit nicht herabzuwürdigen vermag. Der Apostel wusste jedoch, wie er den Namen und die Gnade des Herrn zusammen mit den erhaben einfachen Wahrheiten seiner Person und seines Werkes in das Problem einführen konnte. Sie waren auf seinen Namen getauft worden. Der Herr war für sie gekreuzigt worden. Und beachten wir: Vom Beginn dieses Briefs an steht das Kreuz Christi im Vordergrund. Es ist nicht so sehr sein Blutvergießen, auch nicht sein Tod und seine Auferstehung, sondern sein Kreuz. Diese Wahrheit wäre am Anfang des Römerbriefs genauso unangebracht wie die Herausstellung der Versöhnung hier. Auslöschung der Sünden durch Christus, sein Tod und seine Auferstehung werden von Gott vor solchen Heiligen ausführlich dargelegt, welche die Kenntnis über die feste, unwandelbare Grundlage der Gnade benötigen. Die Erlösten in Korinth hingegen mussten vor allem lernen, welch anstößiger Widerspruch darin liegt, die Vorrechte der Kirche (Versammlung) Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes, welche in ihren Gliedern wirkte, zu eigenen Zwecken, zu ihrer persönlichen Ehre und Erhöhung zu verwenden.
Das Kreuz ist es, welches den Stolz des Menschen zunichte macht und all seinen Glanz in den Staub wirft. Daher stellt der Apostel Christus als den Gekreuzigten vor die Korinther. Für den Juden war dies ein Ärgernis, für den Griechen eine Torheit. Dabei legten diese Korinther sehr viel Wert auf das Urteil vonseiten der Juden und Griechen. Sie standen unter dem Einfluß der Menschen. Sie hatten nie den vollständigen Ruin des Menschen verwirklicht. Sie schätzten die Weisen, Schriftgelehrten und Schulstreiter dieser Welt. Sie waren die Lehrschulen ihrer Zeit und ihres Landes gewohnt. Ihre Vorstellung ging dahin: Wenn das Christentum schon solche großen Taten durch arme und einfache Leute zu vollbringen vermag – was könnte nicht alles geschehen, wenn es von den Fähigkeiten, der Gelehrsamkeit und der Philosophie der Menschen unterstützt würde! Wie müsste es im Triumph zum Sieg führen! Dann müssten sich die Großen beugen und die Weisen in dasselbe hineinkommen! Welch ein großartiger Wechsel würde stattfinden, wenn nicht allein die ungelehrten Armen, sondern auch die Großen und Edlen, die Weisen und Klugen sich alle in dem Bekenntnis zu Jesus verbänden!
Ihre Gedanken waren fleischlich und nicht von Gott. Das Kreuz schreibt sein Urteil auf den Menschen und „Torheit“ auf seine Weisheit, gerade so wie es von den Menschen als Torheit zurückgewiesen wird. Denn was könnte haarsträubend unvernünftiger für einen Griechen sein als die Tatsache, dass der Gott, welcher Himmel und Erde gemacht hat, Mensch wurde und als solcher durch die verruchten Hände seiner Geschöpfe auf der Erde gekreuzigt wurde? Dass Gott seine Macht gebrauchen kann, um die Menschen zu segnen, war selbstverständlich. In dieser Ansicht stimmten die Nichtjuden mit den Juden überein.
Aber auch der Jude fand sein Ärgernis im Kreuz, denn er erwartete einen Messias in Macht und Herrlichkeit. Obwohl also Jude und Grieche sozusagen gegensätzliche Pole darstellten, stimmten sie doch von ihren unterschiedlichen Standpunkten aus völlig darin überein, das Kreuz zu verachten und nach einer Erhöhung des Menschen, so wie er ist, zu trachten. Folglich bevorzugten beide (welche von den Gegebenheiten abhängige Art des Widerstands sie auch zeigen mochten und in welch unterschiedlicher Form auch immer) das Fleisch und blieben in Unwissenheit über Gott. Der eine verlangte Zeichen, der andere Weisheit. Das war der Stolz der menschlichen Natur, sei es im Selbstvertrauen oder im Beharren auf religiöse Vorrechte.
Daher führt der Apostel Paulus im letzten Teil von Kapitel 1 das Kreuz Christi im Gegensatz zur fleischlichen Weisheit sowie zum religiösen Stolz ein, indem er auch Nachdruck auf Gottes Unumschränktheit legt, Seelen zu berufen, wie Er es will. Er spielt auf das Geheimnis an (Kapitel 2), entfaltet allerdings nicht die gesegneten Vorrechte, die aus unserem Einssein mit dem gestorbenen, auferstandenen und aufgefahrenen Christus zu uns strömen. Stattdessen zeigt er auf, dass der Mensch überhaupt nichts dazu tun kann. Gott ist es, der auserwählt und beruft; und Er kann das Fleisch nicht gebrauchen. Es gibt ein Rühmen; doch dieses ist ausschließlich im Herrn. Vor Gott kann sich kein Fleisch rühmen.