Der Sühnungstag
Kommentar zu 3. Mose 16

Vorwort

Der Sühnungstag

Das Sühnungswerk als historische Tatsache und die biblische Lehre darüber sind für den Gläubigen von großer Bedeutung, weil es die Grundlage für alle Segnungen ist, die Gott den Menschen geben möchte. Ohne das Sühnungswerk Jesu Christi könnten die herrlichen Segnungen Gottes den in Sünde geborenen Nachkommen Adams nicht gegeben werden.

Die Darstellung dieser großen Wahrheit in der Heiligen Schrift unterscheidet sich von den menschlichen Methoden der Unterweisung, ist aber für vieles der göttlichen Lehre von den frühesten Zeiten an charakteristisch. Gott offenbart seine grundlegenden Wahrheiten wie bei der Morgendämmerung und nicht mit einer plötzlichen Lichtfülle wie bei dem Einschalten eines großen Scheinwerfers.

Göttliche und menschliche Arten der Unterweisung stehen in auffallendem Gegensatz zueinander. In den theologischen Schulen der Menschen würden die Gegenstände - und seien sie noch so tiefer Natur - definiert, zusammengefasst und auf eine Reihe von möglichst kurz formulierten Lehrsätzen zurückgeführt werden. Solche Feststellungen, die von allem, was unwesentlich schien, gesäubert wären und die für das Gedächtnis und den Intellekt des Durchschnittsmenschen passend formuliert wären, würden die sanktionierten Glaubensartikel darstellen. Die Existenz zahlreicher und verschiedener Glaubensbekenntnisse der Christenheit gibt den Beweis für die Neigung des menschlichen Geistes, die biblische Lehre in gewisse gut definierte Grenzen zu zwängen. Die Menschen sind alle bereit sie anzunehmen, auch wenn sie nicht alle behaupten, sie verstanden zu haben.

Die Schrift verfolgt einen ganz anderen Plan. Gott erzog, bevor er lehrte. Die Wahrheiten wurden stufenweise Noah, Abraham, Mose und anderen in den folgenden Zeiten vom Garten Eden an offenbart, während die Niederschrift dieser Offenbarung in vielen verschiedenen Formen erfolgte. Hieraus folgt, dass nur geduldige und vergleichende Studien des gesamten Gebietes der Offenbarung von Anfang bis Ende den allgemeinen Bereich und die besondere Beziehung eines gegebenen Gegenstandes erkennen lässt. Und wenn man dies wirklich erkannt hat, stellt man fest, dass die göttliche Wahrheit wie die Sternenwelt in ihrem vollen Ausmaß weit über das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes hinausgeht, wenn auch - wie bei dem natürlichen Licht von Sonne und Sternen - die versöhnende Gnade mit göttlicher Fülle Leben und Schönheit in eine sonst so dunkle und trostlose Welt bringt.

Diese Art und Weise der göttlichen Unterweisung wird anhand des Sühnungswerkes erläutert. Kein einziger Abschnitt der Bibel widmet sich einer Darlegung der Lehre über das Sühnungswerk so, wie eine rein menschliche Abhandlung es tun würde. Trotzdem bildet dieser Gegenstand in der einen oder anderen Weise einen wichtigen Teil in den aufeinander folgenden Abschnitten der ganzen Offenbarung. In kurzen, aber prägnanten Verheißungen, in verschleierten Aussagen über den letztendlichen göttlichen Ratschluss, in den lebendigen historischen Ereignissen, in Psalmen und Gebeten, in Bildern und Gleichnissen, in düsteren Aussprüchen der Propheten, in den priesterlichen Gottesdiensten und Opfern, auf diese und viele andere Weisen wurde den Frommen der Zeit des Alten Testamentes mitgeteilt, dass zur gelegenen Zeit der Gesalbte kommen würde, „um den Sünden ein Ende zu machen und die Ungerechtigkeit zu sühnen“ (Dan 9,24). Im Neuen Testament wurde das, was vorher verheißen und hinsichtlich des Sühnungswerkes geweissagt worden war, in der Tat erfüllt, und der Bericht über die Erfüllung wurde gegeben, wenn auch die vollen Auswirkungen des Kreuzes und Todes des Herrn Jesus bis heute noch nicht zu sehen sind, sondern auf die Zeit ihrer Erfüllung warten.

Jetzt, wo das volle Licht der Schrift leuchtet, finden wir keine Aufzählung theologischer Themen und keine Analyse des Sühnungswerkes. Im Gegenteil, es war die Art der apostolischen Lehrer, die verschiedenen Lehren in Verbindung mit ihrem Einfluss auf die Irrtümer und Schwierigkeiten der christlichen Praxis, so wie sie entstanden, zu besprechen. Die einzige scheinbare Ausnahme - denn sie kann genauer betrachtet nicht als solche angesehen werden - ist der Brief an die Hebräer, der der Erläuterung der vielen Merkmale gewidmet ist, durch die der Herr Jesus Christus in seiner Person und durch sein Werk das jüdische Ritual nicht nur ersetzt, sondern weit übersteigt.

Deshalb kann man nur etwas von der grundlegenden Wahrheit des Sühnungswerkes lernen, wenn man die verschiedenen dazugehörigen Abschnitte aus beiden Testamenten zusammenträgt und sie sorgfältig in ihrem Zusammenhang und in ihrer gegenseitigen Beziehung betrachtet. Der inspirierte Brief an die Hebräer ist für diesen Zweck von höchstem Wert, weil er die eigentliche Bedeutung der Bilder lehrt und erläutert und zur gleichen Zeit die Anwendung ihres unfehlbaren und unveränderlichen Schlüssels - Christus selbst - zeigt.

Bei dem Studium irgendeines Themas, dem in den bildhaften Erläuterungen des Alten Testamentes Raum gegeben ist, ist eine nüchterne, demütige und ergebene Vorstellungskraft von höchster Bedeutung, damit nicht irgendeine der Begrenzungen der Bilder, vielleicht unbewusst, durch die Neigungen einer überschwänglichen Fantasie dem Herrn Jesus zugeschrieben wird und die wesentliche Fülle seiner Person in einem gewissen Maß entehrt wird.

Unter den zahlreichen Schattenbildern des ganz unvergleichlichen Aktes des Sühnungswerkes, wie sie in den Zeremonien, die das mosaische Gesetz mitteilt, enthalten sind, besitzt die Reihe von Vorschriften für den zehnten Tag des siebten Monats des jüdischen Jahres viele einzigartige Merkmale. Von diesen Merkmalen sind vielleicht die folgenden die bedeutendsten:

  1. Die Zeremonien des großen Sühnungstages kehrten nur jährlich wieder, im Gegensatz zu allen anderen Opfern und gottesdienstlichen Handlungen (mit Ausnahme des Passahs, das auch nur „Jahr für Jahr“ wiederkehrte).
  2. Nur am großen Sühnungstag wurde das Blut der Opfertiere in das Allerheiligste gebracht und auf und vor den Deckel gesprengt.
  3. Das ganze Ritual dieses Tages in der Hütte wurde von Aaron selbst ausgeführt, der hierbei nicht die Amtskleidung trug, die seinem würdigen Dienst als Hoherpriester zukam, sondern ein weißes Gewand aus Leinen, ähnlich wie das, das die ganze übrige Priesterschaft trug.
  4. Die Opfer, die am großen Sühnungstag gebracht wurden, umschlossen in ihrer Auswirkung und in ihrem Umfang:
    a) den Hohenpriester selbst und sein Haus
    b) die ganze Versammlung Israels
    c) den ganzen Ort
    d) das Zelt der Zusammenkunft und
    e) den Altar vor dem Herrn (3. Mo 16,5-33)
  5. Die detaillierte Beschreibung der Vorgänge am großen Sühnungstag findet sich nur in 3. Mose 16. Andere damit verbundene Opfer werden in 4. Mose 29,7-11 erwähnt.
  6. In der folgenden Geschichte des Volkes Israel haben wir in der Schrift keinen einzigen expliziten Hinweis auf die wirkliche Feier dieses Tages, auch wenn wir aus dem Brief an die Hebräer wissen, dass sie „alljährlich“ geschah (Heb 9,25).
  7. Einer der beiden Böcke, der zum Sündopfer für das Volk gehörte, wurde nicht geschlachtet. Es gibt keinen anderen ähnlichen Fall, mit Ausnahme der beiden Vögel, die für einen geheilten Aussätzigen genommen wurden, und von denen einer nicht geschlachtet wurde (3. Mo 14,1-7).

Diese besonderen Kennzeichen betonen die außergewöhnliche Bedeutung, die dem großen Sühnungstag in der von Gott verordneten Reihe der Opfer zukam. Diese Vorrangstellung wird auch durch die vielen Anspielungen auf dieses spezielle Bild im Brief an die Hebräer weiter verstärkt.

Auf den folgenden Seiten lässt der Autor das Licht des Neuen Testamentes auf die symbolischen Vorgänge am großen Sühnungstag fallen, und er erweist damit dem, der die Bibel erforscht, eine sehr große Hilfe. Der Kämmerer aus Äthiopien sagte: „Wie könnte ich denn (verstehen), wenn mich nicht jemand anleitet?“ (Apg 8,31). Und viele empfinden auf ähnliche Weise diese Notwendigkeit der Anleitung, wenn sie die schwierigen Vorschriften für die Priester und Leviten lesen.

Viele Ausleger haben bei ihren Erklärungen im Hinblick auf die Bilder Fehler gemacht, indem sie den inspirierten Hinweis vergaßen, dass die Schatten des Gesetzes „nicht der Dinge Ebenbild selbst“ (Heb 10,1) haben. Infolgedessen haben sie dem Herrn Jesus das Zusammentreffen von zeitlichen, örtlichen, wesensmäßigen und inhärenten Aspekten zugeschrieben, die untrennbar mit den Bildern verbunden waren, die aber dem Ebenbild selbst ernsthaft Abbruch tun. Das erste Kapitel des Hebräerbriefes lehrt uns, dass Gott in diesen Tagen durch seinen ewigen Sohn redet. Angesichts der Ausstrahlung seiner Herrlichkeit versinken die Priester und Opfer des alten Bundes im Dunkel. Wenn man dem Herrn Jesus und seinem Werk die Begrenzungen der Bilder auferlegt, verbreitet man nicht allein eine falsche Auslegung der Schrift, sondern man redet auch öffentlich herabsetzend von dem Sohn Gottes.

Es waren viele Einzelheiten in den Opferfeierlichkeiten, die für den großen Sühnungstag 1 vorgeschrieben waren, zusammengefasst. Aber diese Einzelheiten wiesen einzeln und auch gemeinsam ohne Zweifel auf „das eine Opfer Jesu Christi“ hin. Was im Bild „oftmals“ (Heb 9,25) an jenem Tag getan wurde, geschah „ein für alle Mal“ (Heb 7,27) durch den Herrn Jesus. Der Stier und der Bock des HERRN wurden (1) auf dem Brandopferaltar am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft geschlachtet, aber (2) das Blut wurde in das Allerheiligste innerhalb des Vorhangs gebracht, während (3) die Körper anschließend außerhalb des Lagers verbrannt wurden. In dem Bild stellten diese drei Dinge drei aufeinander folgende Ereignisse an drei verschiedenen Orten dar. Aber in dem Gegenbild, wie es das Neue Testament offenbart, erfüllte sich alles zur selben Zeit und am selben Ort in einer Person. Das Verbrannte außerhalb des Lagers (3) wird ausgelegt als Bild für die Leiden Christi außerhalb des Tores und damit vor und bei seinem Tod (Heb 13,11.12). Wie kann man denn die Meinung vertreten, dass das, was dem Sprengen des Blutes auf und vor den Deckel (2) entsprach, was im Bild zwischen dem Schlachten des Opfers (1) und dem Verbrennen der Körper (3) stattfand, von unserem Herrn im Himmel und nach seinem Tod vollbracht wurde?

Wird das allein auf Grund des Vorbildes erkannt? Wenn das der Fall ist, dann ist die Deutung von 3. Mose 16 unhaltbar. Es gab ein nachfolgendes symbolisches Ereignis, das außerhalb des Lagers (3) stattfand und das, wie wir aus dem Brief an die Hebräer wissen, auf das Leiden am Kreuz hinweist.

Wird das so behauptet auf Grund der Notwendigkeit, das Blut von dem Altar zu dem Deckel zu bringen? Wenn das der Fall ist, dann fällt ein entehrender Makel auf die Person und das Opfer des Herrn Jesus Christus. Es war einfach naturgemäß notwendig, dass das Blut des geopferten Stieres und Bockes von Aaron vom Eingang des Zeltes der Zusammenkunft in das Allerheiligste getragen wurde - zu dem streng abgeschiedenen Ort des Allerheiligsten. Es lag deshalb etwas Zeit zwischen dem Vergießen des Blutes auf dem Altar vor den Augen des Volkes und dem Sprengen des Blutes auf den Deckel innerhalb des Vorhangs, einer Handlung, die dem menschlichen Auge verborgen blieb.

Aber bei dem Gegenbild bestand keine solche Notwendigkeit für aufeinander folgende Handlungen, erst auf der Erde und dann im Himmel. Ohne der Lehre des Neuen Testamentes Gewalt anzutun, kann dies von „Jesus, dem Sohn Gottes“ nicht gesagt werden, der „durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat“ (Heb 9,14). Die Schrift legt Wert darauf, die Einheit des Opfers Christi zu betonen. Er wurde „einmal geopfert“ (Heb 9,28), er hat „ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht“ (Heb 10,12), „mit einem Opfer“ (Heb 10,14) hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden.

Darüber hinaus wird die Vollendung des Sühnungswerkes Christi von dem Apostel mit dem Leib verbunden, ohne einen Hinweis darauf, dass das Werk zum Teil im Leib und zum Teil im körperlosen Zustand vollbracht worden sei: „Durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi“ (Heb 10,10) sind wir geheiligt. Und das Opfer dieses Leibes geschah ganz gewiss am Kreuz. Siehe auch Kolosser 1,21.22.

Selbst in der von Gott gegebenen  Anleitung für den Vorgang am großen Sühnungstag wurde deutlich gesagt, dass die beiden Böcke ein Sündopfer darstellten (3. Mo 16,5), obwohl nur eines der Tiere geschlachtet wurde. Und die Zeremonien, die mit dem toten und dem lebendigen Bock verbunden waren, fanden ihre ganze Erfüllung in dem „einen Opfer“ Jesu Christi.

Die Reihenfolge der von dem HERRN für den großen Sühnungstag vorgeschriebenen Dinge zeigt, dass, nachdem das Blut des Stieres und des Bockes auf dem Deckel gesprengt worden war, das Blut auf die Hörner des Brandopferaltars ringsum getan und siebenmal an denselben gesprengt wurde (3. Mo 16,18.19). Wenn man der Meinung ist, dass das Sprengen des Blutes am allerheiligsten Ort wegen seiner chronologischen Folge darstellt, dass Christus nach seinem Sterben im Himmel das Sühnungswerk vollbrachte, kann man dann auch aus ähnlichen Gründen annehmen, dass die folgende Anwendung des Blutes an dem Altar am Eingang des Zeltes der Zusammenkunft eine weitere folgende Handlung Christi auf der Erde versinnbildlicht? Wir glauben nicht, dass es irgendein Jota oder Strichlein im Neuen Testament gibt, das solch einen wilden Flug der Fantasie unterstützt.

Die Wahrheit wird durch den Irrtum nicht von der Stelle gerückt und wir sehen in dieser Auslegung einige Unstimmigkeiten. Denn das angebliche Sühnungswerk Christi im Himmel bringt Verwirrung in die göttlich geordneten Bilder und achtet die unendliche Person des Gegenbildes gering, welche selbst der Gnadenstuhl durch unseren Glauben an sein Blut ist und von Gott zur Sühnung eingesetzt worden ist (Röm 3,25; 1. Joh 2,2; 4,10). Wenn Paulus erklärt, dass der Herr Jesus das Sühnungsmittel oder der Gnadenstuhl selbst ist und dabei das Wort verwendet, das sich auch in Hebräer 9,5 findet, dann benutzt Johannes ein verwandtes Wort und wendet es auf den Herrn Jesus an und erklärt, dass Er das Sühnopfer ist. Er ist alles in allem. Gelobt sei sein Name!

Alle verschiedenen Merkmale der Sühnung werden in diesem Tag zusammengefasst und gefestigt. Wir glauben an Ihn und beten Ihn an. Er hing am Kreuz und sagte, als Er wusste, dass alles vollendet war: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,28-30). Er war derjenige, der einst zu dem Menschen redete. Jetzt litt Er dort und vollbrachte das Werk. Die Annahme, dass sein Werk auf der Erde vollbracht wurde und nicht im Himmel, dass aber ein zusätzlicher Dienst im Geist von Ihm nötig sei, um die Sühnung im Himmel zu vollbringen nachdem Er „nach dem Fleisch getötet war“, ist eine nutzlose Spekulation. Sie ist ebenso unbegründet wie die Annahme, dass Christus vor seiner Auferstehung den Verlorenen im Totenreich predigen würde.

Es könnte über das große Thema des Sühnungswerkes noch viel mehr gesagt werden. Aber wir haben es gar nicht nötig damit fortzufahren, weil der Leser in dem vorliegenden Kommentar von Bruder W. Kelly über 3. Mose 16 eine wunderbare und umfassende Einführung in dieses Thema mit seinen verschiedenen Aspekten besitzt.

5. Oktober 1924, W. J. Hocking

Fußnoten

  • 1 Nach der Anmerkung der Elberfelder Übersetzung Edition CSV Hückeswagen (2003) zu 3. Mose 23,27 kann es anstelle „Versöhnungstag“ auch „Sühnungstag“ heißen. Tatsächlich ist in 3. Mose 16 auch eher von Sühnung und nicht von Versöhnung die Rede.
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