Da bin ich in ihrer Mitte

Einleitung

Da bin ich in ihrer Mitte

Das vorliegende Buch ist in einer Hinsicht die Fortsetzung meines Büchleins Aus der Finsternis zum Licht. In ihm hatte ich den Weg aufzuzeigen versucht, auf dem der sündige Mensch zu dem heiligen Gott kommen kann. Dass es diesen Weg gibt und dass Christus der Weg ist, sind Tatsachen von unendlicher Tragweite. Wie sich der einzelne dazu stellt, ob er diesen Weg wählt oder verwirft, entscheidet über sein Glück oder Unglück, über Himmel oder Hölle. Aber nehmen wir an – und diese Annahme ist in ungezählten Fällen zur beglückenden Wirklichkeit geworden –, nehmen wir an, es ist der Gnade Gottes gelungen, einen Menschen aus der Finsternis in Sein wunderbares Licht, aus dem Tod in das Leben, aus der Ferne in Seine Nähe zu bringen – was nun?

Da steht nun der von neuem Geborene: Er ist ein Kind Gottes geworden, er erfreut sich der Vergebung der Sünden und der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes. Aber sein weiterer Weg liegt unklar vor ihm. Soll er ihn allein gehen? Mit der „gegenwärtigen bösen Welt“ weiterhin zusammengehen – nein, das geht nicht. Ist er doch aus ihr „herausgenommen“ worden, und ist doch Christus deswegen für ihn gestorben (Gal 1. 4)! Er versteht das auch. So schaut er sich um nach anderen, die dasselbe wie er vor ihm erlebt haben. Er sieht und findet viele andere Kinder Gottes, aber – und das macht die Sache so verwirrend – sie gehen auf ganz verschiedenen christlichen Wegen. Fast unüberschaubar sind Zahl und Charakter der mannigfachen „Kirchen“, Gemeinschaften und Gruppierungen auf christlichem Gebiet. Welche von ihnen ist die richtige? Oder ist gar diese Fragestellung falsch? Ist es vielleicht völlig ohne Belang oder zumindest zweitrangig, auf welchem Weg die Christen gehen, Hauptsache, sie sind von diesem Weg überzeugt und glücklich darauf? Ist es nicht die Pflicht des Christen, die Ansicht des anderen zu respektieren?

Aber er liest und forscht im Wort Gottes, und er findet darin nichts von verschiedenen Kirchen. Es drängt sich ihm die

Frage auf: Wollte Gott eigentlich diese Vielfalt von christlichen Kirchen? Er entdeckt die Stelle in Matthäus 18, die diesem Buch den Titel gab. Doch was bedeutet das Wort Christi, Er sei in der Mitte derer, die in Seinem Namen versammelt sind? Und ist Er wohl hier wie dort, gleichgültig ob man hier dieses oder dort jenes christliche Glaubensbekenntnis zur Grundlage hat? Zum Teil widersprechen sich die Lehrauffassungen vollkommen, und doch nimmt jede Gruppe für sich in Anspruch, Christus sei in ihrer Mitte. Ist das wirklich so?

Das sind Fragen über Fragen, die gerade über den soeben Bekehrten wie eine Flut hereinbrechen. Aber auch der, der sich schon längere Zeit der Gotteskindschaft erfreut, wird sich ihrem Drängen auf die Dauer nicht entziehen können, und das um so weniger, je ernster er es mit dem Wort Gottes nimmt. Er ist vielleicht in eine bestimmte christliche Gemeinschaft hineingeboren worden, schon die Eltern gingen diesen Weg. Aber ist es der richtige? Irgendwann einmal wird er sich mit diesen Fragen konfrontiert sehen, wenn er das, was er um sich herum sieht, mit den Aussagen des Wortes Gottes vergleicht. Dieses Buch will nun jedem Kind Gottes helfen, Antworten auf all diese Fragen zu finden -Antworten, die sich nicht auf Meinungen der Menschen, sondern auf Gottes Wort gründen sollen.

Dabei möchte ich nicht verhehlen, dass dieser Fragenkomplex einer der schwierigsten überhaupt ist. Den Weg zu beschreiben, wie ein sündiger Mensch zu Gott kommen und die Vergebung seiner Sünden erlangen kann, ist dagegen vergleichsweise einfach. Aber warum sind diese Fragen so schwierig? Liegt es vielleicht daran, dass die Heilige Schrift darüber nicht klar genug redet? Gewiss nicht! Aber sie ist eben kein Rezept-Buch, wo man zur Lösung verschiedener Fragen einfach ein entsprechendes Rezept aufschlagen kann. Die Heilige Schrift will als Ganzes gelesen und verstanden werden, und das setzt ernstes Ringen und Erforschen des Alten wie des Neuen Testaments in der Kraft und Abhängigkeit des Heiligen Geistes voraus. Zudem teilt Er Seine Gedanken nur dem mit, der in der entsprechenden Geisteshaltung zu Ihm kommt, der – um es schlicht zu sagen – bereit ist, Ihm zu gehorchen.

Ein sehr ernster Hinderungsgrund zum Verstehen der Wahrheit Gottes sind Vorurteile, vorgefasste Meinungen. Sie sind oft ganz unbewusst vorhanden und haben ihre Ursache in verschiedensten Dingen wie Erziehung, Bildung, Gewohnheiten, überkommene Traditionen, im menschlichen Charakter und so weiter. Dem Wort Gottes stellen sich menschliche Traditionen entgegen, die infolge ihres ehrwürdigen Alters in den Augen vieler einen verbindlichen Charakter angenommen haben und den Anspruch auf Autorität erheben. Von ihnen freizukommen, ist in der Regel sehr schwer, weil es gegen die menschliche Natur ist. Aber gerade das ist ein weiterer Grund dafür, dass sich das Erfassen dieses Teiles der göttlichen Wahrheit oft so schwierig gestaltet und mit tiefen Herzensübungen verbunden ist. Dennoch hoffe ich auf das Erbarmen Gottes, dass Er Licht verbreiten und Kraft verleihen wird zur Verherrlichung Dessen, der für uns gestorben ist.

Ich habe oft gesagt: Den Sünder ermahnt Gott nicht. Täte Er es nämlich, würde Er damit zugeben, dass er so verloren nun auch wieder nicht sei. Aber Seine Kinder ermahnt Er. Er ermahnt sie in vielerlei Hinsicht. Um aber diesen Ermahnungen entsprechen zu können, muss man die Beziehungen verstehen lernen, auf die sie gegründet sind und in die Er die Seinen gebracht hat. Das aber gerade ist der Punkt, wo es am meisten fehlt: Viele Gläubige verstehen vielfach nur sehr mangelhaft, in welch kostbare Beziehungen sie durch die Gnade Gottes zu Gott, zu dem Herrn Jesus Christus und zueinander gekommen sind.

Deswegen ist mein Anliegen – ihm ist der erste Teil meines Buches gewidmet –, diese göttlichen Beziehungen vorzustellen, in denen die wahren Christen stehen, und zwar im Unterschied zu denen stehen, die im Alten Testament das Volk Gottes bildeten, zum Volk Israel. Kaum etwas ist für das Verständnis alles weiteren so wichtig, wie die Unterschiede zwischen den Wegen Gottes mit Israel und Seinem Handeln mit der wahren Kirche sehen zu lernen. Das ist der Startpunkt des Buches. Hat man erst einmal diese Unterschiede mit dem Herzen erfasst, sind die besten Voraussetzungen dafür gegeben, auch die besondere Stellung der Kirche zu verstehen und wertzuschätzen.

So ist der erste Teil des Buches der mehr lehrmäßige Teil, in dem die gesegnete Stellung der Kinder Gottes in ihrem korporativen Aspekt beschrieben wird. Er bildet das unbedingt notwendige Fundament für den zweiten, den mehr praktischen Teil. Damit will ich nicht sagen, dass nicht auch der zweite Teil Lehre enthält. Ganz im Gegenteil. Aber in ihm komme ich dann auf die praktischen Fragen zu sprechen, die ich eingangs berührt habe – Fragen, die mit dem gemeinsamen Weg der Gläubigen zu tun haben. Die beiden Teile zusammen sollen somit ein möglichst umfassendes Bild bieten von dem eigentlichen Wesen der wahren Kirche einerseits und ihren Erscheinungsformen in der Praxis des Zusammenkommens andererseits.

Aber da ist noch eine Gruppe von gläubigen Christen, an die ich mich mit diesem Buch wenden möchte. Es sind Kinder Gottes, die einen nach der Schrift an und für sich richtigen Platz einzunehmen wünschen. Sie haben aus dem Dienst und den Kämpfen der Diener des Herrn, die vor ihnen diesen Weg gegangen sind, unschätzbaren Nutzen ziehen dürfen. Durch diesen Dienst sind sie „in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt“ worden (2. Pet 1. 12). Aber gerade sie bedürfen der beständigen Erinnerung an „diese Dinge“, obwohl sie sie grundsätzlich kennen, damit ihre „lautere Gesinnung“ aufgeweckt werde (2. Pet 3,1). Sie selbst haben vielleicht nie für die Wahrheit kämpfen müssen, erfreuen sich jedoch eines großen Lichtes durch die, die es getan haben. Viele sind eben auch in diesen Platz einfach hineingeboren worden und wissen zum Teil gar nicht so recht, warum sie diesen Weg gehen. Wenn man sich nicht genötigt sah, „für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen“ (Jud 3), besteht dann nicht die große Gefahr, das Gute, das einem mehr oder weniger „in den Schoß gefallen“ ist, leichten Herzens wieder aufzugeben? „Kaufe Wahrheit und verkaufe sie nicht“ ist der Rat des Wortes Gottes (Spr 23,23), und es ist mein herzliches Verlangen, ihnen, ja, allen Kindern Gottes bei der Verwirklichung dieses Rates zu helfen.

Überhaupt möchte ich zeigen, wie wunderbar die Gedanken Gottes sind und welche Segnungen damit verbunden sind, sich mit ihnen zu beschäftigen und ihnen zu folgen. Das führt zur Anbetung und zu einer demütigen Gesinnung und wird diese Brüder und Schwestern im Herrn davor bewahren, sich über andere zu erheben, die vielleicht nicht das Vorrecht hatten, in dem Wort Gottes so klar unterwiesen zu werden wie sie. Wahre Erkenntnis des Herrn und Seines Wortes macht demütig. Kann man über etwas, was man nur aus reiner Gnade besitzt, hochmütig sein? Und werden wir nicht, wenn uns die Wahrheit Gottes vorgestellt wird, wenn das göttliche Licht in unser Leben, in unser Herz leuchtet -werden wir nicht zutiefst empfinden, dass wir alle in der Verwirklichung dessen, was wir als wahr erkannt haben, mehr oder weniger versagt haben? Und werden wir nicht auch anerkennen müssen, dass der Herr Jesus mit unserer äußeren Einnahme eines durchaus richtigen Platzes nicht zufrieden sein kann? Glauben wir wirklich an das, was Er gesagt hat? „Da bin ich in ihrer Mitte“ -unermessliche Zusage, in der Tat! Aber vielleicht war Er zugegen, und wir haben es gar nicht gemerkt! Kann das, darf das ein Dauerzustand sein?

Noch eine Frage drängt sich mir in diesem Zusammenhang auf: Ist nicht die Gefahr unübersehbar, dass wir uns an Kostbarkeiten, Herrlichkeiten, Vorrechte durch jahrelangen Umgang mit ihnen derart gewöhnen können, so dass sie uns nichts Besonderes mehr bedeuten? Das muss keineswegs so sein. Wenn aber die Wahrheit Gottes keinen Einfluss mehr auf unser Herz nimmt, weil wir anderen Gedanken Einlass gewährten, dann wird es so sein. In diesem Falle ist es nur noch eine Frage der Zeit, wann wir das Licht, das Gott uns schenkte, wieder verlieren werden. Doch da sei Gott davor! Unsere „lautere Gesinnung“ aufzuwecken – ach, wenn Ihm das doch bei uns allen gelänge! Möge Er in Seiner Gnade dahingehend die schwachen Bemühungen des Verfassers segnen und sein eigenes Herz wie das Herz aller Leser weit öffnen für Sich und Sein Wort und uns alle überströmend glücklich machen in der Erkenntnis Dessen, der uns geliebt und Sich selbst für uns hingegeben hat!

So lege ich dieses Buch im Vertrauen zu Gott in die Hand des Lesers. Ich tue es, nicht ohne all denen zu danken, die durch ihren Rat und ihre Mühe bei Durchsicht und Korrektur zu seiner Entstehung mitgeholfen haben.

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