Unterredungen über den ersten Brief an die Korinther
Kapitel 1,1-2,5
Es ist nicht meine Absicht, eine methodische Auslegung dieses Briefes zu geben oder auf alle seine Einzelheiten einzugehen. Ich möchte vielmehr gewisse, in ihm enthaltene Grundsätze zur Darstellung bringen, die in sehr zeitgemäßer Weise zu unseren Herzen und Gewissen reden, damit wir unseren gemeinsamen Wandel mit ihnen in Übereinstimmung bringen.
Die erste Frage ist: Wie lautet die Anschrift dieses Briefes? Wenn er nur an die örtliche Versammlung in Korinth gerichtet wäre, könnte man sich auf diese Tatsache berufen, um sich über die in ihm uns gegebenen Regeln und Vorschriften hinwegzusetzen oder sie doch nicht genau zu nehmen. Nun sehen wir aber von vornherein, dass dieser Brief nicht nur an die Christen in Korinth gesandt worden ist, sondern an „alle, die an jedem Orte den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, sowohl ihres als unseres Herrn“. Es gibt also keinerlei Beschränkung, weder im Blick auf den Ort noch auf die Personen, noch auf die Zeit. Der Brief geht alle an, welche die Autorität des Herrn Jesus anerkennen. Ja, wir dürfen sagen, dass er in einer ganz besonderen Art zu jedem einzelnen von uns und zu uns allen redet. In keinem anderen Briefe ist die Anrede so allgemein gehalten. Ist es demgegenüber nicht verwunderlich, dass in der bekennenden Christenheit gerade die Vorschriften dieses Briefes mehr als alle anderen durchbrochen werden? Und, beachten wir es wohl, gerade hier werden der Versammlung (Gemeinde) bestimmte Gebote gegeben, mehr als an irgendeiner anderen Stelle des Neuen Testamentes. Und ferner: mögen diese Gebote auch bei denen, die ihre verpflichtende Bedeutung nicht anerkennen, kein Gehör finden, alle Christen, die dem Herrn treu dienen wollen, sollten sie auf ihre Herzen schreiben und sie in die Tat umsetzen.
Lasst uns zunächst die Schlingen andeuten, in welche die Heiligen in Korinth gefallen waren, und denen auch wir heute in der einen oder anderen Form nur zu oft unter uns begegnen. Und da wir besser unterrichtet sind als die Korinther, die noch nicht alle Gedanken Gottes in dem geschriebenen Wort besaßen, sind wir strafbarer als sie, wenn wir uns in diesen Schlingen fangen lassen. Indem wir uns ein Bild von dem zu machen suchen, was der Versammlung in Korinth fehlte, zeichnen wir in mancher Hinsicht unser eigenes Bild. In einem Stück jedoch unterscheiden sich die Korinther vorteilhaft von uns, und dieses eine verlieh ihnen einen Charakter, der den Christen unserer Tage mangelt: sie hatten in keiner Gnadengabe Mangel, nicht nur in heute verloren gegangenen Wundergaben, nein, sie waren auch reich in allem Wort und aller Erkenntnis. Das kann man von uns kaum sagen. Begegnet man auch hier und da Christen, denen Gott für die gegenwärtige Zeit wichtige Wahrheiten anvertraut hat, so ist doch die Zahl derer ungleich größer, die diese Wahrheiten, selbst die grundlegenden Heilswahrheiten, nicht kennen.
Wenn wir uns dann aber weiter vergegenwärtigen, welchen Gebrauch die Korinther von ihren mannigfaltigen Gaben machten, so müssen wir leider entdecken, dass sie sie zur Befriedigung ihres geistlichen Hochmuts benutzten, indem sie sich selbst erhoben. Wie oft wiederholt der Apostel sein: „Ihr seid aufgeblasen“! Wollen wir einen Stein auf die Korinther werfen? Nein, gewiss nicht. Wir, die Christen von heute, sind weit weniger entschuldbar als sie; während aber unsere große Armut, verglichen mit dem „Reichtum“ der Korinther, uns in tiefer Demut erhalten sollte, haben wir, sobald uns irgend eine Gnadengabe vom Herrn zuteil wird, kaum etwas Eiligeres zu tun, als hinzugehen und mit ihr zu glänzen.
Noch eines zweiten, sehr ernsten Fehlers machten sich die Korinther schuldig; es gab Zwistigkeiten und Spaltungen unter ihnen. Obwohl sie sich, zur Darstellung der Einheit des Leibes, um den Namen Christi versammelten, waren sie doch durch widerstreitende Meinungen zerteilt (V. 10 bis 12). Wir werden darauf zurückkommen. Aber ich frage: Sehen wir unter den heutigen Christen nicht dasselbe? Jeder rühmt sich seiner Meinung, an der er festhält. Nun, alle Meinungen, so richtig und rechtgläubig sie, wie in dem Fall der Korinther, auch sein mögen, können nur zu Spaltungen führen, wenn man sie auf Kosten anderer Wahrheiten in den Vordergrund stellt. Ist der Christus zerteilt? Es ist nicht Übertreibung, wenn ich sage, dass ein erleuchteter Christ keine eigene Meinung haben soll; denn von welchem Wert können persönliche Ansichten sein, wenn wir Christi Sinn haben (Kap. 2, 16)? Nie wird „der Sinn Christi“ mich mit einer Sekte verbinden, während das Festhalten an meinen Meinungen unfehlbar dahin führen wird. Ebenso wird das Wort Gottes mich niemals dahin führen, wogegen meine Ansichten über das Wort Gottes mich stets in die Gefahr bringen, wenn Gottes Gnade mich nicht bewahrt, ihnen den Vorrang vor anderen Ansichten zu geben. Gott gibt Seinen Kindern kein Recht dazu, verschiedene Ansichten zu haben. Dass solche unter den Christen bestehen, ist unbestreitbar; denn es entspricht der sündigen Menschennatur, nicht aber der neuen Natur und dem Geist Gottes. Der Brief an die Philipper (Kap. 3, 15. 16) gibt ihr Vorhandensein zu, schreibt sie aber nicht denen zu, welche durch den Geist die Vollkommenheit ihrer Stellung in Christo erfasst haben. Ohne Zweifel richtet sich der Apostel auch an solche, „die etwas anders gesinnt sind“, ohne aber deren abweichende Ansichten anzuerkennen oder zu entschuldigen; er widerlegt sie auch nicht, sondern wartet auf Gott, dass Er den Unmündigen die Dinge offenbaren möge, zu denen sie noch nicht gelangt waren. Er geht gar nicht auf ihre Meinungsverschiedenheiten ein, rechnet vielmehr auf den Herrn, dass Er diese verschwinden lassen werde; indes bittet er die Gläubigen, in dem, wozu sie gelangt seien, miteinander denselben Weg zu wandeln.
So war es eben nicht bei den Korinthern, die einer dem anderen gegenüber an ihren Meinungen festhielten. Man beachte wohl, dass diese sich auf die ihnen von den Aposteln oder anderen vertrauenswürdigen Gottesmännern (wie Apollos) mitgeteilten Wahrheiten stützten; aber in ihrem sektiererischen Geist beachteten die Korinther nicht, dass sie sich eine Anschauungsweise unter Zurücksetzung einer anderen aneigneten und dadurch, indem sie sich auf einzelne Wahrheiten versteiften, die Wahrheit veränderten. Es gibt nur eine Wahrheit: Christus, der die Wahrheit ist, kann nicht zerteilt werden. Die Gaben sind verschieden, kommen aber von einem einzigen Geist; die Wirkungen sind verschieden, kommen aber von demselben Gott, der alles in allen wirkt. Es kann keine Spaltung in dem Leibe geben. Wenn die Korinther gespaltener Meinung waren, so entsprach das einerseits einem Mangel an Entgegenkommen den Brüdern gegenüber, der stets einen fleischlichen Geist begleitet, anderseits der Wichtigkeit, die sie sich selbst beimaßen, weil sie nicht verwirklichten, dass das Kreuz Christi dem Ich und seiner Wichtigkeit ein Ende gemacht hat.
Die Spaltungen waren also eine der schweren Verfehlungen der Korinther; aber es fanden sich noch andere Dinge bei ihnen. Übel aller Art hatten sich in ihrer Mitte eingeschlichen. Es gab unter ihnen einen Fall von Unzucht, dergleichen selbst unter den Heiden nicht vorkam. Es gab Leute, die sich betranken, Brüder, die Händel miteinander hatten, sich gegenseitig vor die Gerichte zogen, einander Prozesse anhängten – alles äußerst tadelnswerte Dinge. Auch fand man in ihrer Mitte falsche Lehren, Leute welche lehrten, „dass es keine Auferstehung der Toten gebe“, und alles das zeigte sich inmitten einer ganz außergewöhnlichen Wirksamkeit des Geistes.
Ist es nun nicht merkwürdig, dass die Korinther angesichts so vieler demütigender Dinge großes Gewicht darauf legten, über gewisse Dinge von untergeordneter Bedeutung Aufschluss von dem Apostel zu erhalten? Sie vergaßen die Demut, die brüderliche Einigkeit, die Reinheit, die Mäßigkeit und stellten dem Apostel Fragen wie z. B., ob man besser tue, zu heiraten oder nicht zu heiraten, ob man ein ungläubiges Weib entlassen, den Götzen Geopfertes essen dürfe usw. Der Apostel beantwortet alle diese Fragen, verfehlt aber nie, zu ihrem Gewissen zu reden; er denkt nicht daran, bloß ihre Neugier oder ihren Verstand zu befriedigen.
Nachdem wir so mit einigen Worten den Zustand der Korinther geschildert haben, können wir uns nunmehr über den Zweck des Briefes besser Rechenschaft geben. Der Geist bedient sich der Unordnung in ihrer Mitte, um uns über die Ordnung zu belehren, welche dem Hause Gottes geziemt; so könnten wir diesem Briefe auch die Überschrift geben: Die Ordnung in der Versammlung. Darum, wenn Spuren von Unordnung sich unter den im Namen des Herrn Versammelten zeigen – und solche gibt es immer wieder – lasst uns dann diesen Brief im Lichte Gottes sorgfältig erforschen, seine Unterweisungen zu verstehen suchen, um so die Ordnung wiederkehren zu sehen. Das ist es, was der Apostel wünschte.
Der Zweck unseres Briefes führt uns zu einer kurzen Besprechung seiner Einteilung. In den beiden ersten Kapiteln entwickelt der Apostel die Grundlage jedes Zeugnisses und aller christlichen Ordnung im Hause Gottes. Zuerst beantwortet er die Frage: Was ist ein Christ? Die Korinther verstanden dies nur unvollkommen. Wenn wir heute diese Frage an unsere Brüder in Christo richten, erhalten wir häufig die Antwort: Ein Christ ist ein Mensch, der mittelst des Glaubens an das Blut Christi Vergebung seiner Sünden empfangen hat, ein Kind Gottes. Nun, diese beschränkte Begriffsbestimmung finden wir in diesen beiden Kapiteln nicht. Ohne Zweifel zeigt der Apostel, dass ein Christ durch den Glauben das Heil erlangt hat (V. 18, 21); aber im Gegensatz zu dem fleischlichen Zustand, der in Korinth herrschte, stellt er fest, dass ein Christ ein Mensch ist, der in Bezug auf sein ganzes bisheriges Leben voll und ganz verurteilt ist, indem er in der Person Christi am Kreuze das Ende seines Daseins als Mensch im Fleische, das Gericht seiner selbst gefunden hat – ein vollständiges Gericht, da Jesus dort als unser Stellvertreter zur Sünde gemacht worden ist. Ein Christ, in der vollen Bedeutung des Ausdrucks, ist ein Mensch, für den jene Wahrheit zur Wirklichkeit geworden ist. Darum sagt der Apostel den Korinthern auch – denn er nennt sie Kindlein in Christo, obgleich er sie als Errettete betrachtet –: „Ich hielt nicht dafür, etwas unter euch zu wissen, als nur Jesum Christum, und ihn als gekreuzigt.“ Das heißt: Indem ich euch Seine Person vor Augen stellte, habe ich euch erklärt, dass ihr selbst durch Sein Kreuz unter das endgültige Gericht Gottes gestellt worden seid.
Was wird nun unser Wandel sein, wenn wir diesen wesentlichen Charakterzug eines Christen verwirklichen, indem wir uns in unserer Eigenschaft als Menschen im Fleische für völlig gerichtet und unser ganzes früheres Tun, alle unsere Gedanken als durch das Kreuz zum Abschluss gebracht betrachten? Als Verurteilte und Gerichtete werden wir nicht suchen, uns Wichtigkeit zu geben, weder in unseren eigenen Augen noch in denen anderer. Achten wir wohl auf diesen ersten Schritt, der die Bekehrung und die Vergebung der Sünden stets begleiten sollte. Das Kreuz ist der Ort, wo ich das Ende des Menschen als Sünder, das Ende des natürlichen Menschen, und das Ende der Welt gefunden habe, wie uns der Brief an die Galater belehrt. Das ist der Grund, weshalb der Apostel nichts unter ihnen hatte wissen wollen, als nur Jesum Christum, und Ihn als gekreuzigt.
Am Ende des ersten Kapitels begegnet uns noch ein zweiter Charakterzug des Christen, und ich kenne wenige Stellen in der Schrift, die ihn in treffenderer Weise beschreiben: Aus Gott seid ihr in Christo, „der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung; auf dass, wie geschrieben steht:,Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn’“ (V 30, 31). Als Sünder war ich in Adam; von dem Augenblick an, da ich an den Herrn Jesus glaubte, habe ich meine Verurteilung, die des ersten Menschen, am Kreuze gefunden. Aber jetzt bin ich eine neue Schöpfung in Christo Jesu. Das ist meine Stellung, und der Brief an die Römer entwickelt sie in wunderbarer Klarheit; ich bin aus Gott in Christo Jesu. Alles was ich als Christ besitze, habe ich von Gott empfangen in Christo und durch Christum. Er ist es, der mich zu alledem gemacht hat, was ich bin. Ich bin aus Gott; ich leite meinen Ursprung von Ihm her. Wenn ich irgendwelche Weisheit, irgendwelche Gerechtigkeit, irgendwelche Heiligkeit habe, so ist es in Christo; wenn ich zur Erlösung als dem Ziel meines Laufes gelange, so ist es nur in Ihm. Da bleibt kein Raum für den alten Menschen; alles ist von dem neuen Menschen; was ich bin, kann ich nur Christo zuschreiben.
In Kapitel 2 findet sich noch ein dritter Charakterzug des Christen. Er besitzt den Geist Gottes, die Kraft des neuen Menschen, die ihn befähigt, die göttlichen Dinge zu verstehen. Diese sind uns im Wort Gottes geoffenbart, so dass der neue Mensch durch eine geistliche Kraft gekennzeichnet wird, die ihn unter dieses Wort stellt.
Kommen wir jetzt noch einmal auf die Einteilung des Briefes zurück. Wir haben gesehen, dass die ersten zwei Kapitel vom Kreuze Christi reden als der Grundlage unserer christlichen Stellung. Die Kapitel 3 – 9 behandeln dann die Ordnung, welche dem Hause Gottes geziemt, und die Kapitel 11–14 die Ordnung, die dem Leibe Christi gebührt. Zwischen diesen beiden Kapitelreihen bildet das 10. Kapitel eine Art Einschaltung zwischen dem Hause Gottes und dem Leibe Christi. Wir haben hier die Christenheit oder das christliche Bekenntnis ohne Leben. Dieses 10. Kapitel ist sehr wichtig, da das, was zur Zeit des Apostels eine Ausnahme war, es heute nicht mehr ist. Die gegenwärtige Christenheit besitzt das Abendmahl und die Taufe und geht äußerlich den christlichen Weg, aber ohne göttliches Leben zu haben. Dieses Bekenntnis ohne Leben führt aber zum Gericht. Kapitel 15 behandelt die überaus wichtige Frage der Auferstehung. Der Brief ist also von diesen zwei großen Wahrheiten eingerahmt, dem Kreuz in Kapitel 1 und der Auferstehung in Kapitel 15.
Der sittliche Zustand der Korinther entsprach also durchaus nicht dem Maß der mancherlei Gaben, die sie besaßen. Es ist wichtig, uns daran zu erinnern, denn wir sind oft geneigt zu denken, wenn wir Gott durch Seinen Geist in der Mitte der Seinen wirken sehen, dass dann auch ihr Seelenzustand auf der Höhe Seiner Gaben stehen müsse. Das Beispiel der Korinther gibt uns den Beweis vom Gegenteil. Selbst die Welt konnte über ihre Gaben in Erstaunen geraten, und doch gab es in ihrem sittlichen Verhalten nichts, was diesen Segnungen entsprach. Ihre Neigungen, ein Erbstück des griechischen Heidentums, trieben sie zur Bewunderung des Menschen im Fleisch und zur menschlichen Weisheit. In der damaligen Welt zog die Weisheit der Philosophie viele Jünger an und machte Schule. Redner und Gelehrte hatten ungeheuren Einfluss; man folgte ihnen, man hörte auf sie.
Die Korinther hatten diese fleischlich-menschliche Gewohnheit beibehalten und sie in ihr Christentum übertragen. Diese Lehrschulen verursachten Zwistigkeiten unter ihnen, der eine hängte sich an diesen Weisen, der andere an jenen Redegewandten, der dritte an einen Mann, der mehr Kraft und Energie zeigte. Sie sagten: Ich bin des Paulus, ich des Apollos, ich des Kephas, je nach ihrer natürlichen Bevorzugung dieser Männer. Dem Fleische nach war Paulus ein in der Wissenschaft seiner Zeit wohlunterrichteter Mann, erzogen zu den Füßen Gamaliels, bekannt wegen seiner literarischen Bildung, vertraut mit den Dichtern jener Tage, und als Lehrer von hervorragenden Fähigkeiten. So gab der eine von ihnen dem den Vorzug, was Paulus von Natur war, und sagte: „Ich bin des Paulus.“ – Apollos war ein Jude aus Alexandrien, einer durch ihre Pflege der Wissenschaften berühmten Stadt; von seinen Lippen flossen beredte Worte und fesselten seine Zuhörer, so dass der eine und andere von ihnen die Beredsamkeit des Apollos schmackhafter fand als die Bildung des Paulus. – Petrus war ein einfacher Mann aus dem Volke, aber er war mit einer bemerkenswerten Tatkraft ausgerüstet und hatte viele offenkundige Wunder verrichtet; und da ihm unmittelbar vom Herrn Offenbarungen von hervorragender Bedeutung zuteil geworden waren, hatte man ihm seinen Platz an der Spitze der Zwölfe gegeben. So sagte denn ein dritter: „Ich bin des Kephas“. Schließlich meinte noch ein anderer: „Ich bin Christi“; ich halte mich an die Lehren, die aus Seinem eigenen Munde gegangen sind, als Er hienieden wandelte; ich bilde mich nach der Einfachheit und Reinheit Seiner göttlichen Sittenlehre, wie sie z. B. in der Bergpredigt niedergelegt ist, ich erwähle Ihn zu meinem Lehrer. – Paulus aber fragt: „Ist der Christus zerteilt?“ Ist da nur ein Geist, oder gibt es verschiedene Geister, die in diesen verschiedenen Personen wirken?
Dieses Wort Pauli an die Korinther gilt auch uns, so viele wir den Namen des Herrn anrufen. Erkennt man einige dieser Züge nicht auch in unserer Mitte wieder? Finden ähnliche Gefühle nicht auch in unseren Herzen Raum? Leider müssen wir diese Frage bejahen. Wir sagten schon, dass der Apostel hier die Ursache dieses Übels enthüllt, welches die Kinder Gottes entzweit, anstatt sie zu vereinigen. Er sagt: Brüder, ihr habt das, was das Kreuz im Grunde bedeutet, nicht zur Wirklichkeit werden lassen. Er macht mit allen ihren Anmaßungen kurzen Prozess, indem er in Vers 17 sagt: Ich bin gekommen, um das Evangelium zu verkündigen, aber „nicht in Redeweisheit, auf dass nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde“.
„In Redeweisheit!“ Je mehr ich über den gegenwärtigen Zustand der Christenheit, von der wir einen Teil bilden, nachdenke, desto mehr fällt mir eine allgemeine Neigung auf, sich an den Verstand des Menschen zu wenden. Man hofft die Welt dadurch überzeugen zu können, dass man ihr die Augenscheinlichkeit der christlichen Wahrheiten vorstellt – ich rede hier nicht von Irrlehren –, nicht selten mit großer Redegewandtheit, und dass man dabei Beweise für diese Wahrheiten bringt, die auf das Erkenntnisvermögen zahlreicher, durch die hervorragenden Eigenschaften des Redners angezogener Zuhörerkreise Eindruck machen. In der Regel werden die Zuhörer durch solche Beweise überführt und erkennen an, dass sie beachtenswerte Dinge gehört haben. Der Redner hat vielleicht erklärt, wie die Sünde in die Welt gekommen ist, hat das Dasein Gottes nachgewiesen, hat auch die Lehre vom ewigen Leben entwickelt usw.; aber die Wirkung dieser Wahrheiten auf Herz und Gewissen ist gleich Null. Indem man sich in Redeweisheit an die Menschen wendet – nicht, wie schon gesagt mit Irrlehren, wie sie in unseren Tagen leider so häufig sind – und sich der menschlichen Weisheit bedient, um die Wahrheit der geoffenbarten Dinge nachzuweisen, wird das Kreuz Christi zunichte gemacht.
Der Apostel fügt hinzu: „Das Wort vom Kreuz ist denen, die verloren gehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist es Gottes Kraft“ (V. 18). Indem er so alle Redeweisheit beiseite ließ, predigte er einfach das Wort vom Kreuz. Eine solche Predigt hat zur Folge, dass die Weisen sich abwenden; sie ist für sie ja Torheit, aber für uns ist sie Gottes Kraft. Sie wird nur von solchen verstanden, die in ihrem Gewissen von ihr erfasst werden. Das Wort vom Kreuz hat eine Herrlichkeit besonderer Art. Wir wissen, dass wir dereinst unseren Herrn in Seiner strahlenden Herrlichkeit sehen werden, und dass dann Sein Name an unseren Stirnen sein wird (Off 22, 4). Ja, mehr noch; in Hebräer 2 wird von uns gesagt, dass wir jetzt schon Jesum mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt erblicken. Aber davon ist in unserer Stelle selbstverständlich keine Rede. Hier sehen wir unseren hochgelobten Herrn als „von der Erde erhöht“ an dem Ort, wo die Verachtung der Welt Ihn traf, wo diese in Ihm nur die Torheit Gottes und die Schwachheit Gottes sah, während wir die Weisheit und die Kraft Gottes dort erblicken. Dennoch ist der Sohn des Menschen am Kreuze verherrlicht worden, und Gott in Ihm, wie der Herr selbst in Johannes 13, 31 sagt. Dort, noch vor der Entfaltung Seiner zukünftigen Herrlichkeit, sehen wir Ihn in Seiner wunderbaren Schönheit. An jener Stätte, am Kreuz, lerne ich die Herrlichkeit Christi kennen – eine erlösende Kraft, siegreich über Satan und Sünde, über mich selbst und die Welt; und wenn ich sie so dort erkannt habe, sage ich: Wird irgendein Mensch angesichts des Kreuzes aufzutreten wagen, um seine Weisheit oder seine Erkenntnis ans Licht zu stellen? Oder kann die erhabenste Philosophie des Menschen vor der Schönheit dieses Kreuzes sich auch nur einen Augenblick geltend zu machen suchen? All diese Weisheit ist für immer dahin.
Halten wir fest, dass der Apostel uns hier eine besondere Seite des Kreuzes vorstellt, obwohl auch an dieser Stelle die andere, vornehmste, nicht von ihr getrennt werden kann. Aus diesem Grunde fügt er hinzu: „Es gefiel Gott, durch die Torheit der Predigt die Glaubenden zu erretten“ (V. 21). Jeder Sünder beginnt damit, dass er am Kreuze die Grundlage seines Heils, die Vergebung seiner Sünden findet. Kapitel 15, 3 hebt diese Seite in besonders kraftvoller Weise hervor: „Christus ist gestorben für unsere Sünden, nach den Schriften.“ Römer 5, 8 sagt: „Christus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren“, und Titus 2, 13. 14: „Unser großer Gott und Heiland Jesus Christus hat sich selbst für uns gegeben, auf dass er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit.“ Ohne die Vergebung unserer Sünden können wir an der Errettung nicht teilhaben; auch dürfen wir nicht vergessen, dass diese einfache Wahrheit in den Briefen wie in den Evangelien stets das erste ist, was das Wort uns als Grundlage des Christentums vor Augen stellt. Es hieße die ganze Bibel anführen, wenn man die zahllosen Stellen nennen wollte, welche von der Erlösung reden.
Aber, wie schon gesagt und wie wir es hier finden, das ist nicht die einzige Seite, die uns vom Kreuze gegeben ist. Das Kreuz ist die bestimmteste Verurteilung des Menschen, und ich möchte hinzufügen: nicht nur des Menschen als Sünder, sondern des natürlichen Menschen überhaupt. Es ist der Endpunkt seiner Geschichte, die nie wieder von neuem begonnen werden kann. Der erste Teil des Römerbriefes behandelt die Vergebung der Sünden, der zweite zeigt die Verurteilung des alten Menschen. Christus hat der Geschichte desselben im Tode ein Ende gemacht, und wir haben das Recht, ihn für gestorben zu halten. Der Brief an die Galater geht sozusagen noch weiter: Er verurteilt den Menschen, ohne ihm irgendwie Raum, Recht oder Ansehen zu geben. In ihm heißt es: „Ich bin mit Christo gekreuzigt“, und weiter: „Die Welt ist mir gekreuzigt, und ich der Welt.“
Diese vornehmste Wahrheit hatten die Korinther nicht erfasst. Sie waren erkaufte und errettete Christen, aber sie waren fleischliche Christen. Sie hatten jene Seite des Kreuzes Christi nicht praktisch verwirklicht; sie hatten nicht verstanden, dass alle Weisheit der Welt und alle Gaben des natürlichen Menschen in den Dingen Gottes keinerlei Wert haben. Wer das praktisch verwirklicht hat, ist befreit, ist nicht aufgeblasen und setzt kein Vertrauen mehr auf sich selbst. Man ist fertig mit dem Ich, man hat kein Vertrauen mehr auf eigene Kraft und eigene Einsicht; denn die Kraft der Welt und die Weisheit des Menschen sind nur Schwachheit und Torheit. Man hat sein Vertrauen auf die Schwachheit und Torheit Gottes gesetzt; da liegen die wahre Kraft und die wahre Weisheit. Beides habe ich am Kreuze gesehen; ich habe dort gelernt, dass diese Schwachheit Gottes – Gott selbst, gekreuzigt in der Person eines Menschen, Christus – die Kraft Gottes zum Heil war. Dort habe ich den Anfang meines Daseins vor Gott gefunden, dort auch die Gedanken Gottes betreffs meiner kennen gelernt, welche nur Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung in Christo sind.
Es gibt hier also drei Gegenstände zu beachten: In erster Linie stellt der Apostel das Kreuz vor unsere Augen, die Schwachheit und Torheit Gottes, die sich aber als Seine Kraft und Weisheit zum Heil erweisen.
An zweiter Stelle weist er auf die Gegenstände hin, an welche Gott bei diesem Werke gedacht hat. Hat Er Weise, Verständige, Edle auserwählt? O wie war ein solches Wort geeignet, die Anmaßungen der Korinther zu dämpfen! „Denn“, sagt Paulus, „sehet eure Berufung, Brüder, dass es nicht viele Weise nach dem Fleische, nicht viele Mächtige, nicht viele Edle sind; sondern das Törichte der Welt hat Gott auserwählt, auf dass er die Weisen zu Schanden mache; und das Schwache der Welt hat Gott auserwählt, auf dass er das Starke zu Schanden mache; und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott auserwählt, und das was nicht ist, auf dass er das, was ist, zunichte mache, damit sich vor Gott kein Fleisch rühme“. Alles das, worauf die Korinther Ansprüche machten, hatte gar keinen Wert vor Gott; und sie wären nicht Seine Kinder gewesen, wenn sie in Seinen Augen das gewesen wären, was sie in den Augen der Welt so sehnlichst zu sein begehrten. Sie trachteten danach, unter den Weisen dieses Zeitlaufs einen Ehrenplatz zu haben und sich so selbst zu verherrlichen, während Gott in dem am Kreuze für sie vollbrachten Werke ihnen keinerlei Rolle zugeteilt hatte und alle Herrlichkeit für „den Herrn“ in Anspruch nahm. Stufe um Stufe lässt Er sie in ihrer Selbstachtung hinabsteigen, bis zu dem Range dessen, „was nicht ist“.
Zum dritten stellt der Apostel sich selbst den Korinthern als Beispiel hin. (Kap. 2, 1 – 5.) Von Beginn seiner Laufbahn an hatte er seine eigene Nichtigkeit verwirklicht, wie er dies in seinem zweiten Briefe mit den Worten zum Ausdruck bringt: „Denn der Gott, der aus Finsternis Licht leuchten hieß, ist es, der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi“ (2. Kor 4, 6). Seine Seele als eifriger, rechtgläubiger und wohlunterrichteter Jude war, gleich der ganzen Welt, seit den Tagen der Schöpfung, in die vollständigste Finsternis versunken; Gott hatte einst gesagt: „Es werde Licht!“ – und es ward Licht, so dass Er aus Dingen, die nicht sind, Dinge gemacht hat, die in Erscheinung traten. Der Apostel scheint also sagen zu wollen: Ich gehörte zu dem, was nicht war, und das hat Gott genommen, um eine neue Schöpfung daraus hervorgehen zu lassen. Auch fügt er hier hinzu: „Als ich zu euch kam, kam ich nicht nach Vortrefflichkeit der Rede oder Weisheit.“ Solche Dinge waren nicht bei ihm zu finden gewesen, als er ihnen das Evangelium gebracht hatte; er hatte nicht dafür gehalten, etwas unter ihnen zu wissen, als nur Jesum Christum, und Jesum Christum als gekreuzigt. Das Kreuz war vor allem anderen der Charakter Christi, den er verkündigte, und dieser Charakter machte mit allen ihren Anmaßungen ein Ende. Hatten sie damals, wenn sie ihre Augen auf den Apostel richteten, vielleicht gesagt: Was für ein einsichtsvoller Mann ist doch dieser Paulus? „Ich war bei euch in Schwachheit und in Furcht und in vielem Zittern.“ Ihr habt sicherlich nichts in meiner Person oder in meinen Worten gefunden, das euch hätte denken lassen können, ich setze irgendwelches Vertrauen auf das Fleisch oder auf die Kraft des Menschen.
Nachdem Paulus so das Kreuz als die Verurteilung alles dessen, was im Menschen ist, vorgestellt hat, zeigt er ihnen dann (V. 30. 31), dass es für den Gläubigen einen anderen Platz gibt als den des natürlichen Menschen: „Ihr seid aus ihm in Christo Jesu.“ Welch eine Wahrheit! Diese armen Korinther (und wie oft auch wir!) legten mehr Wert auf die Verherrlichung des Menschen, als auf die Tatsache, dass wir aus Gott sind, dass unsere Abstammung und unsere Geburt als Christen aus Gott ist, und weiter, dass Gott, als er uns errettete, das, was nicht ist, nahm und daraus etwas ewig Bestehendes schuf. Es gibt also in dem Heilsplan keinerlei Raum mehr für den Menschen. Das hat Paulus an einer anderen Stelle veranlasst zu sagen: „Ich kenne einen Menschen in Christus.“ Für ihn gab es keinen anderen Platz mehr als diesen. Wer seine Stellung in Christo verstanden hat, hat keinen Gegenstand mehr, dessen er sich rühmen könnte. Paulus begehrte nichts anderes, als in Ihm erfunden zu werden (Phil 3, 9).
In dem ganzen Briefe begegnen wir immer wieder der Verurteilung des Hochmutes des Fleisches, das stets eine gute Meinung von sich selbst hat. (Kap. 3, 21; 4, 6. 18; 5, 2 – 6; 8, 1. 2; 13, 4.) Unter so vielen Zügen, die bei den Korinthern den fleischlich gesinnten Menschen kennzeichneten, gab es vor allem diesen einen; die hohe Meinung, welche sie von sich und ihren Gaben hatten, weil sie es nicht praktisch verwirklicht hatten, dass der Mensch als solcher keinerlei Platz vor Gott hat.