Betrachtung über das Evangelium nach Johannes
Einleitung
Die vier Evangelien sind übereinstimmende Zeugnisse über den Herrn Jesus Christus und als solche zu bewerten. Wir dürfen sie nicht als bloße Erzählungen oder Ergänzungen lesen, denn wir gelangen nur dann zu einem umfassenden Bild von unserem Herrn Jesus Christus, wenn wir ihre Verschiedenheit bezüglich ihres Charakters und ihres Zwecks berücksichtigen.
Schon in den Geschichten der Menschen können wir dies feststellen. Der eine Schreiber mag uns den Menschen in seinem häuslichen Leben schildern, der andere mehr in seinem öffentlichen. Um ihn vollständig kennen zu lernen, müssen wir ihn in beiden Bereichen und vielleicht auch noch in vielen anderen Beziehungen sehen. Dasselbe finden wir in den vier Evangelien. Und wenn wir schon bei einem gewöhnlichen Menschen erkennen, wie wünschenswert, wenn nicht gar notwendig, es ist, ein umfassendes Bild zu bekommen, wie viel mehr können wir erwarten, es so vorzufinden, wenn uns die Wege Dessen vor Augen geführt werden, der eine so gesegnete Vielfältigkeit in den Beziehungen sowohl zu Gott als auch zum Menschen aufweist wie unser Herr Jesus Christus.
Der Heilige Geist, der durch die Propheten und andere alte heilige Schreiber der Bibel redete, hatte dies schon vor den Zeiten der Evangelisten getan. Zum Beispiel sehen wir David in dem ersten Buch der Chronika in einem anderen Licht als in den Büchern Samuel. In den Büchern Samuel haben wir seine allgemeine Geschichte. In dem ersten Buch der Chronika finden wir ihn dagegen nicht in allen Ereignissen seines Lebens wie in Samuel, sondern in den Szenen und Handlungen, in denen er uns als ein Vorbild des Herrn als Sohn Davids dargestellt wird. Ebenso verhält es sich im zweiten Buch der Chronika mit Salomo. Wir finden dort nicht seine vollständige Geschichte wie in dem ersten Buch der Könige. Alle seine Sünden werden übergangen. Der Geist Gottes gebrauchte den Schreiber nicht als einen Historiker, als Er den Weg Salomos in den Büchern der Chronika aufzeichnete. Er stellte ihn vielmehr als ein Vorbild jenes größeren Sohnes Davids und Königs von Israel dar, der in seiner ganzen Schönheit der Stolz seines Volkes und der Gegenstand des Begehrens der ganzen Erde ist.
Dies alles ist nur Fülle und Vielfältigkeit, keineswegs Ungereimtheit, und wir sollten darin die Vollkommenheit der Weisheit Gottes in Seinen prophetischen Geheimnissen bewundern. Und was die Wege des gepriesenen Herrn betrifft, die uns in dieser Vielfältigkeit gezeigt werden, so brauche ich nicht zu betonen, dass alles Vollkommenheit ist. Ob es dieser Pfad ist oder jener, der sich vor uns entfaltet, welche Beziehungen Er unterhält, welche Gemütsbewegungen Seine Seele erfüllen, alles ist verschieden, aber doch vollkommen, mag Er an uns vorübergehen in der bewussten Erhabenheit des Sohnes Gottes oder in dem Mitgefühl des Sohnes des Menschen. Ob wir Ihn sehen in Seinen Beziehungen zu den Juden im Matthäus-Evangelium oder außerhalb des Hauses unter den Menschen bei Lukas, als Diener der verschiedenen Bedürfnisse der Sünder bei Markus oder als den einsamen Fremdling vom Himmel bei Johannes: stets ist alles Vollkommenheit. Dies zu erkennen und im Einzelnen zu verfolgen, ist für den Jünger Gewinn und Freude zugleich. „Wunderbar sind deine Zeugnisse; darum bewahrt sie meine Seele“.
Mein Wunsch ist es nun, durch Gottes Gnade im einzelnen über das Evangelium des Johannes, oder wie es eigentlich heißt, das Evangelium nach Johannes, zu schreiben, das heißt über jenen Charakter des Evangeliums, den der Heilige Geist nach Seinem Wohlgefallen nur durch Johannes mitteilt.
Dieses Evangelium ist ein Teil des Wortes Gottes, der den Heiligen sehr wertvoll geworden ist. Manche Seele hat sich daran erfreut, ohne vielleicht genau zu wissen, warum dies so ist. Denn die Richtigkeit unseres geistlichen Fühlens und Wünschens ist oft größer als das Maß unserer geistlichen Erkenntnis. Und es ist gut, dass es so ist.
Bevor ich jedoch erkläre, was mir der allgemeine Charakter und die Anordnung dieses Evangeliums zu sein scheinen, möchte ich zur Einführung auf einiges hinweisen, was mir selbst, wie ich glaube, zu einem besseren Verständnis und zu einem völligeren Genuss verholfen hat. Möge der Herr unsere Gedanken bewahren und leiten!
Die Kinder Israel hätten aus ihrer ganzen Geschichte lernen sollen, dass sie völlig abhängig waren von den Hilfsmitteln, die Gott in Sich selbst besaß, außerhalb und unabhängig von ihrem eigenen System. Durch solche Hilfsmittel wurden sie in allen Phasen ihrer Geschichte aufrechterhalten und geleitet. Ihr Vater Abraham wurde durch eine Handlung unumschränkter Gnade berufen (Jos 24,2.3). Gottes eigene Hand hatte sie bewahrt und in Ägypten wunderbar vermehrt (2. Mo 1,12). In fernen Einöden, wo Israel nicht bekannt war, wurde Mose für ihre Befreiung aus Ägypten zubereitet. Ihre ganze Reise durch die Wüste hatte ihnen ihre völlige Abhängigkeit von Gott gezeigt. Durch Seinen Geist, nicht durch Macht und nicht durch Kraft, erfüllte Josua nach Moses Tod seinen Dienst, indem er die Nationen Kanaans bezwang. Und später, obwohl unter anderen Umständen, war es ebenso. Josuas Schwert, der Beweis der Treue des Herrn zu Abraham und seinem Samen, war kaum in die Scheide gesteckt, und der Segen Gottes war kaum aus Seiner Hand, die ihn gegeben hatte, in die Hand Israels gekommen, das ihn bewahren sollte, als er auch schon verloren war. Er entglitt seinem neuen Hüter sogleich. Treulosigkeit und Schwäche kennzeichneten Israel so eindeutig, wie Kraft und Wahrheit bei Gott waren. Israel und Kanaan entsprachen Adam und dem Garten Eden. Ehe das erste Kapitel des Buches der Richter schließt, hat Israel durch seinen Ungehorsam alles verwirkt; die Bewohner des Landes waren nicht ausgetrieben. Aber der Rest dieses Buches zeigt uns die Gegenwart Gottes unter ihnen, nur um den Schaden von Zeit zu Zeit mit Seiner eigenen Hand und durch die Wirksamkeit Seines Geistes wieder zu beheben.
Dies musste notwendigerweise der Charakter der Handlungsweise Gottes in einer Zeit verwirkten Segens sein. Entweder musste das Gericht in Gerechtigkeit ausgeführt, oder es musste Segen in unumschränkter Gnade gebracht werden. Der Mensch, durch die vorangegangene Prüfung für untreu befunden, musste gedemütigt und beiseite gesetzt werden, und Gott selbst musste von Sich aus auf eine neue Weise ins Mittel treten, indem Er etwas Fremdes tat, etwas, was außerhalb des bestehenden Systems lag und von dessen eigentlichen Hilfsmitteln unabhängig war. Alle Befreiungstaten für Israel in der Zeit der Richter trugen diesen Charakter. Das Auftreten einer Debora, eines Gideon, Jephta und Simson ist eine solche Sache, zu der das System, wenn es durch seine eigenen Hilfsmittel auf seinem eigenen Weg aufrechterhalten worden wäre, nie geführt hätte. 1
Von Debora heißt es: „Sie richtete Israel in jener Zeit“. Aber sie war nicht ganz eine Nachfolgerin dessen, der „König in Jeschurun“ war, wie wir vielleicht erwartet hätten. Die Ehre war in die Hand einer Frau übergegangen, denn Israel befand sich in einem schlechten Zustand. Übertretung hatte mit zerstörender Macht Eingang gefunden, und das Hilfsmittel musste, wenn überhaupt, aus Gottes Hand selbst kommen. Und so geschah es. Deshalb singt Debora in ihrem herrlichen Lied: „Du, meine Seele, tritt auf in Kraft“; das war ein Bekenntnis, dass die Quelle ihrer Kraft und ihres Sieges in Gott war, und dass sie in der Kraft des Geistes, und darin allein, den Streit des Herrn gekämpft und gesiegt hatte.
Ebenso war es mit Gideon. Er stammte nicht aus Juda, dem eine solche Ehre nach altem Recht gebührte, sondern aus Manasse, und seine Familie war die geringste in Manasse. Aber gerade dieser Mann wurde von der Tenne hinweg berufen, um das Schwert zu tragen, das sich bald als das Schwert des Herrn und Gideons auszeichnen sollte. Und was war das Schwert solchen Ruhmes? Dreihundert Mann mit Posaunen und Krügen. Seltsame Kriegswaffen gegen das Heer Midians! Midian floh vor ihnen. Ein Leib Gerstenbrot rollte in das Lager und stürzte die Zelte des Feindes um. Denn es war der Herr selbst, der jetzt wieder in Tätigkeit getreten war, und der Schatz der Stärke Israels konnte daher in einem irdenen Gefäß liegen. 2
Jephta erzählt in seiner Weise dieselbe Geschichte. Als Sohn einer Hure war er von seinen Brüdern in Israel abgelehnt und unter die Heiden vertrieben worden. Aber er ist derjenige, den der Herr zum Retter Israels am Tag ihrer Bedrängnis erwählt. Wo ist jetzt Israels Ehre, wo der Glanz und die Herrlichkeit ihres Systems, wenn der, den seine Brüder verachtet und wie einen gemeinen Gegenstand verstoßen hatten, ihre einzige Hoffnung in ihrem Unglück ist? Die Ehre gehörte ihnen nicht, noch war die Stärke ihres Systems jetzt ihre Hilfe und ihr Schutz. Der Geist Gottes kam über Jephta in unumschränkter Gnade für Israel. Es war der Streit des Herrn. Israel hatte sich selbst unbrauchbar gemacht, aber in Gott war ihre Hilfe.
Das alles finden wir erneut bei Simson bestätigt. Alles, was ihn einführt und leitet in dieser seltsamen Handlungsweise, redet allein von der Kraft und dem Tun Gottes. In dem System Israels war nichts, auf das man hätte rechnen können. Simson war ein Kind der Verheißung, erweckt in dem entehrten Stamm Dan, und so ein Zeichen der Gnade und Unumschränktheit Gottes. Demgemäß wird er auch sogleich für Gott abgesondert und so weit wie möglich von der strengen jüdischen Ordnung der Dinge entfernt. Der Weg, den er beschritt, war dem ausgetretenen Pfad Israels gerade entgegengesetzt. Das Geheimnis Gottes war mit ihm; niemand kannte das Rätsel als nur er selbst. Selbst seine Verwandtschaft dem Fleisch nach kannte es nicht. Mit Vater und Mutter, mit dem Vaterland und dem Gesetz Israels war er fertig; er stand unter einer neuen und besonderen göttlichen Führung. Entgegen dem Gesetz und doch auf Anordnung des Gesetzgebers, heiratete er eine Tochter der Philister. Er ging nicht den gewöhnlichen Weg Israels, noch machte er Gebrauch von den Hilfsquellen Israels, sondern seltsame und überraschende Taten kennzeichneten seinen Weg und zwar von dem Augenblick an, da der Geist ihn im Lager Dans zum ersten Mal antrieb, bis zu der Zeit, da er inmitten der Fürsten der Philister starb. Alles, was er tat, trug einen ausgeprägten Charakter. Eine unbekannte Energie trieb und lenkte ihn. Israels Hilfsmittel waren durch dies alles wiederum beiseite gesetzt; Gott selbst entfaltete sich in Seiner Gnade und Macht.
Nach dem Ende des Buches der Richter finden wir dasselbe. Samuel war, ebenso wie Simson, ein Kind der Verheißung, und ein Kind der Verheißung ist stets ein Zeichen der Gnade (Röm 9,8), denn es heißt: „Nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott.“ Deshalb preist seine Mutter bei seiner Geburt die Gnade. Samuel wird zuerst ein Diener des Heiligtums, aber er wird von dort abberufen, damit ganz Israel in ihm den Propheten Gottes kennen lernen sollte. Endlich sieht Israel in ihm den Errichter des Steins „Eben-Eser“, den Befreier und die Hilfe des Volkes.
Später finden wir in David erneut Gottes eigenen Weg und Seine Hilfsquellen entfaltet in der Zeit der Bedrängnis Israels. Denn David wurde von den Schafhürden genommen, um Israel zu weiden. Sein Vater und seine Brüder schenkten ihm keine Beachtung. Israel kannte ihn nicht, aber der Herr erwählte und salbte ihn. Für eine Weile wurde er ein flüchtender und armer Wanderer, aber am Ende befestigte er das Königtum in seinem Haus für immer durch einen Bund „gewisser Gnaden“.
So ist jeder Abschnitt dieses wunderbaren Weges, von der Berufung Abrahams, ihres Vaters, bis zur Erhebung Davids zum König, über Mose, Josua, die Richter und Samuel, gekennzeichnet durch die Gnade Gottes, während sich die Hilfsmittel ihres eigenen Systems, alles, was sich in ihren Händen befand, als völlig untauglich erwiesen.
Ich möchte hinzufügen, dass die Propheten eine andere Reihe von Zeugen derselben Wahrheit darstellen. Sie waren durch eine außerordentliche Wirksamkeit des Geistes Gottes zur Führung Israels erweckt worden. Die ursprüngliche Ordnung der Dinge in Israel sah keinen solchen Dienst vor. Das Volk sollte in stetem Gedenken und im Gehorsam den Worten gegenüber verharren, die Mose überliefert hatte (S. 5. Mo 6,11.31). Da es aber diese Worte vergessen hatte, wurde eine außergewöhnliche Anwesenheit des Geistes Gottes erforderlich und dann auch in der Person und dem Dienst der Propheten wirksam.
So wurde nicht nur durch eine Reihe von Lehrern und Propheten, sondern auch durch eine Anzahl von Herrschern und Befreiern das Zeugnis von der Notwendigkeit der Hilfe Gottes für sie jeder folgenden Generation Israels hinterlassen. Das zeigte ihnen fortgesetzt, dass sie in ihrem Bund nicht bestehen konnten, und dass ihre Hoffnung auf entgültige Ehre und Ruhe in der Gnade und Macht Gottes lag. Wir wissen, dass es später so sein wird. Israel wird am Ende der Tage als Volk Gottes dastehen in der Kraft, die in Jesus für das Volk aufbewahrt ist. Auf Ihn weisen deshalb diese beiden Reihen von Zeugen hin, und in Ihm, dem wahren Propheten und König Israels, werden sie enden. Welche Erquickung wird es für die sein, die des Menschen und seiner Taten überdrüssig sind, in einer Umgebung zu leben, wo der Mensch in den Hintergrund getreten sein wird, und wo Gott allein hervortritt! „Der Hochmut des Menschen wird gebeugt und die Überheblichkeit der Männer erniedrigt werden; und der HERR wird hoch erhaben sein, er allein, an jenem Tag.“
Aber es gab noch einen anderen, tieferen Vorsatz Gottes, der ständig in der Geschichte Israels zu sehen war. Die hervorragenden Personen, die ich erwähnte, stammten alle aus Israel und bestätigten Israels Vorrechte. Aber Gott hatte Absichten, die über Israel hinausgingen, Absichten von sehr erhabenem Charakter, die die Heiden betrafen. Das deutete Er durch eine andere Reihe von Zeugen an, die, wie wir sehen werden, von ausgezeichneten Personen gebildet wurde und die alle Heiden oder Fremdlinge für Israel waren.
Zu allen Zeiten scheint es eine Anzahl von Heiden gegeben zu haben, die inmitten Israels lebten und eine geringere Klasse als die Kinder Israel darstellten, obgleich sie mit ihnen die Segnungen und Verordnungen genossen. 3 Andererseits gab es auch eine Reihe ausgezeichneter Heiden, die, wann immer sie in der Geschichte auftraten, einen Platz einnahmen und auf einen Schauplatz und zu einem Dienst berufen wurden, der sie weit über den Boden Israels erhob. Beides ist, wie ich glaube, sehr bezeichnend und beleuchtet die Pläne, die in Gottes Ratschlüssen den Heiden und Fremdlingen vorbehalten sind. Die große Masse von ihnen wird später im Reich einen Israel gegenüber untergeordneten Platz einnehmen, aber doch in der Freude Israels; es wird aber eine auserwählte und bevorzugte Schar geben, diejenigen nämlich, die jetzt berufen sind, die Kirche Gottes zu bilden, deren Stellung und Würde weit erhaben über derjenigen Israels sein wird (Off 21,9–11.23.24).
Der erste dieser ausgezeichneten Fremdlinge, der uns begegnet, ist Melchisedek. Die Würde, mit der er ausgezeichnet wurde, ist allgemein bekannt und braucht nicht im Einzelnen besprochen zu werden. Er steht aber nur am Anfang einer Reihe von Personen, die gleich ihm in ihrer Generation und zu ihrer Zeit berühmt waren.
Nach ihm begegnen wir Asnat und Zippora, den Frauen Josephs und Moses. Sie hatten beide kein Teil an Abraham, aber sie wurden Mütter von Kindern, die diesen beiden berühmten Vätern in Israel zu einer Zeit geboren wurden, als sie getrennt von Israel waren, und sie erhielten Würden, um die sie die höchsten Töchter Israels beneidet haben mochten.
Als nächster wird Jethro eingeführt, der es bei dem Auszug Israels aus Ägypten, ohne zu Recht gewiesen zu werden, unternahm, obwohl er nur ein Fremdling war, in Gegenwart Aarons Priesterdienst auszuüben und Mose einen Rat zu geben, der die Angelegenheiten der Verwaltung berührte. Er nahm eine Zeitlang einen hervorragenden Platz in der Mitte Israels ein. Die größten Herrlichkeiten Israels waren überstrahlt. Mose und Aaron, König und Priester in Jeschurun, werden durch diesen Fremdling beiseite gesetzt, ein Vorbild der großen Dinge, die, wie zuvor bei Melchisedek, zu den Heiden kommen sollten.
Nach Jethro ist es Rahab, eine andere Fremde, die es, wie wir wissen, zu hohem Ansehen in Israel brachte, zu einem Ansehen, nach dem sich die Töchter des Landes beständig sehnten. Denn die Hoffnung Israels kommt dem Fleisch nach durch sie (Mt 1,5), und sie ist die einzige, von deren Glauben in Verbindung mit dem Abrahams, des Vaters der Juden, gesprochen wird (Jak 2,23–25).
In Jael, der Frau Hebers, des Keniters, sehen wir wiederum eine berühmte Fremde. Durch ihre Hand demütigte Gott den König von Kanaan vor Israel in einer ganz besonderen Weise, so dass ihr Loblied gesungen wird: „Gesegnet vor Frauen sei Jael, die Frau Hebers, des Keniters, vor Frauen in Zelten gesegnet!“ (Ri 5,24).
Dann haben wir in einer anderen Frau, in Ruth, der Moabitin, wiederum einen Fremdling. Obwohl sie die Tochter eines unreinen und verworfenen Volkes ist, wird ihr ein Platz gleich den ersten Müttern in Israel zuteil. Wie schon bei Rahab, kommt die Hoffnung der Nation dem Fleisch nach durch sie (Mt 1,5), und es wird ihr ein Platz eingeräumt, der an Würde dem der Rahel gleichkommt (Rt 4,11). Sie stand nicht in natürlicher Blutsverwandtschaft mit Israel, aber durch Gnade wird sie auf Israel aufgepfropft, um die Trägerin des Stammes Isais zu werden, an dessen Spross, wie wir wissen, alle Hoffnung des Volkes hängt.
Auch in den Zeiten Davids wird der Fremdling höchst ehrenvoll beachtet. Das zeigt uns zunächst Urija. Er war ein Hethiter, aber seine Treue gegen den Gott Israels und sein ergebener Eifer in der Sache Israels stehen in leuchtendem Gegensatz zu Israels erstem, vornehmstem und bestem Sohn in jenen Tagen. Dieser arme Überrest aus den unreinen Heiden weist keinen geringeren Sohn Israels als den König David selbst zurecht.
Wir begegnen zur Zeit Davids noch einem Fremdling in der Person Ittais, des Gatiters (2. Sam 15). Er erscheint mit allen seinen Männern, um sich mit David zu verbinden, und die Sprache eines solchen Tuns war die der Ruth zu Noomi: „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Ittai war nicht von Israel, aber er stand treuer zu Israels König als Israel selbst. Denn als sein Volk sich zu Absalom wandte und das Land sich in Aufruhr befand, war es dieser Fremdling, der David auf Leben und Tod anhing.
Schließlich lernen wir zu Davids Zeit noch einen Fremdling oder Heiden kennen, Arawna, und, wie üblich, auf einem Weg der Auszeichnung und Ehre. Davids Übertretung hatte die Nation unter Gericht gebracht, und der Engel des Herrn, der durch das Land ging, schlug seine Tausende, bis auf das Geheiß des Herrn seine Hand stillstand bei der Tenne dieses Jebusiters. Dort rühmte sich zum ersten Mal die Barmherzigkeit wider das Gericht. Sünde hatte in Israel geherrscht im Tod, aber Gnade herrschte erstmalig zum Leben auf dem Erbteil dieses Heiden. Welche Sprache redet dieses alles, wenn auch ohne Worte!
Aus den Zeiten der Könige möchte ich die Witwe von Sarepta und Naaman, den Syrer, erwähnen. Nicht dass einer dieser beiden es zu einer hohen Stellung in Israel gebracht hätte wie die anderen, von denen ich sprach, aber sie wurden bleibende Denkmäler der auszeichnenden und auserwählenden Gnade (Lk 4,25–27). Nach ihnen kommen wir zu Jonadab, dem Sohn Rekabs (2. Kön 10), der Mithelfer Jehus beim Gericht über das Haus Ahabs wurde.
So wird uns in der Zeit der Patriarchen und nacheinander in den Zeiten Moses, Josuas, der Richter, Davids und der Könige gelegentlich der Fremdling vorgestellt, und immer mit Auszeichnung. Aber außer diesem gelegentlichen Zeugnis bestand auch ein Zeugnis von der beständigen Gegenwart der Heiden in Israel. Ich meine die Familie der Rekabiter, zu der dieser Jonadab gehörte, die in Israel von den frühesten bis zu den späteren Zeiten, von Mose bis Jeremia, bestand (Ri 1,16; 1. Chr 2,55; Jer 35,8). Alle diese vielen Jahrhunderte wohnten sie als Fremdlinge im Land. Sie gingen am Anfang aus der Stadt in die Wüste, und am Ende sehen wir sie diesen gleichen Charakter festhalten. Sie bauten keine Häuser, kauften keine Felder, sie säten weder Samen, noch pflanzten sie Weinberge; allezeit wohnten sie in Zelten und aßen nicht von der Frucht des Weinstocks. Sie bildeten eine beständige Ordnung von Nasiräern und waren abgesonderter für Gott als Israel selbst. Und sie hielten ihr Gelübde so treu, dass der Herr, als er das Gericht über Sein Volk ankündigte, ihnen am Ende verhieß, dass es ihnen nicht an einem Mann fehlen sollte, der alle Tage vor Ihm stände. Während der langen Zeit ihres Wohnens in Zelten innerhalb Israels ist es immer zu ihrem Lob, wenn wir von ihnen hören, und sie nehmen immer einen Ehrenplatz ein und verharren in dem Charakter der Heiligkeit, der sie, wie auch die anderen Fremdlinge, weit über die Stellung des Volkes erhebt. 4
Nach allem möchte ich folgendes bemerken: Wie Melchisedek den Juden ein Hinweis auf eine bessere Ordnung des Priestertums als desjenigen Aarons hätte sein sollen (Heb 7), so mag diese Reihe von Fremdlingen, die sozusagen im Gefolge Melchisedeks hinterherkamen, ein ständiger Hinweis auf die den Nationen vorbehaltenen besseren Dinge, die besser waren als alles, was Israel auszeichnete, gewesen sein. Israel mochte durch sie auf die Berufung der Kirche vorbereitet gewesen sein, die mit dem Sohn Gottes als ihrem Haupt der wahre Fremdling auf der Erde ist, und die eine ehrenvollere Stellung unter Gott innehaben soll, als sie Israel je kannte. Alle diese bevorzugten Fremdlinge des Alten Testaments weisen auf die Kirche hin, denn die Kirche hat nicht denselben Weg wie Israel eingeschlagen. Sie ist da ein Fremdling, wo Israel zu Hause war. Ihr Bürgertum ist in den Himmeln und nicht auf der Erde. Die Heiligen sind Söhne Gottes, und die Welt kennt sie nicht, wie sie Christus nicht kannte. Mit Christus gestorben und auferstanden, bestehen sie so bis zum Ende der Zeitalter (1. Kor 10,11). Jesus hatte keinen Platz auf der Erde, und sie halten sich hier nur auf und sind, da mit Ihm verbunden, dem Grundsatz nach von allem getrennt, was sie umgibt, wie die Rekabiter vom Volk Israel getrennt waren, unter dem sie nur ihre Zelte aufgeschlagen hatten.
Ich will indessen nicht behaupten, dass die Begebenheiten dieser Fremdlinge vorbildlich seien. Ich hebe nur die Tatsache ihrer hohen Auszeichnung in Israel hervor als einen Hinweis Gottes auf Seine erhabenen, hohen Vorsätze bezüglich der Kirche, des wahren Fremdlings. Die Begebenheiten einiger von ihnen mögen Vorbilder gewesen sein, aber es sind nicht die Einzelheiten ihrer Geschichte, die ich vor Augen habe, sondern einfach die Tatsache ihrer Erhöhung in Israel. 5
So enden also zwei Reihen von Persönlichkeiten in Christus. Die Reihe der ausgezeichneten Israeliten oder verdienstvollen Juden, die durch die besondere Wirksamkeit des Geistes zur Hilfe und Führung Israels berufen wurden, endete, wie bereits bemerkt, in Christus als dem wahren Propheten und König Israels, dem Gott Jeschuruns, der am Ende der Tage „der Schild ihrer Hilfe und das Schwert ihrer Hoheit“ sein wird. Die Reihe der hervorragenden heidnischen Fremdlinge, die einen Charakter aufrechterhielten und Würden und Ehren trugen, die den Boden und die gewöhnliche Berufung Israels weit überragten, endet in Christus als dem Haupt Seines Leibes, der Kirche. Das kommende Reich wird Ihn und diejenigen, die mit Ihm in unterschiedlicher Weise vereinigt sind, in diesen unterschiedlichen Herrlichkeiten offenbaren. Alle Dinge im Himmel und auf der Erde werden dann in Ihm vereinigt sein. Die wahren Fremdlinge, die Heiligen, werden in den Himmeln glänzen „wie die Sonne im Reich ihres Vaters“, und Israel wird seine Ruhe, seine heilige Ruhe, auf der Erde unter David, seinem Fürsten und Hirten, finden.
Nun, dies alles führt mich zu unserem Evangelium. Denn das Johannesevangelium ist das entsprechende Zeugnis von Christus als dem Sohn Gottes, dem Fremdling auf der Erde, und von den Heiligen, die mit Ihm in diesem Charakter verbunden sind und in Beziehung zum Vater stehen. Das gibt ihm in der Tat seine besondere Kennzeichnung und macht es für uns zu einem höchst kostbaren Teil der Geheimnisse Gottes.
Möchten wir verständige Herzen haben, um die in diesem himmlischen Wort enthüllten Geheimnisse zu verstehen! Könnten wir es nur erkennen! Jeder Zug trägt seine eigene, göttliche Autorität in sich. Aber, Geliebte, die einzig sichere und nützliche Erkenntnis ist die, die wir durch den Geist in Gemeinschaft mit dem Herrn erlangen, und die uns, haben wir sie erworben, zu noch innigerer Gemeinschaft mit Ihm führt. Möchten wir das immer mehr erfahren!
Ich möchte jetzt unser Evangelium kurz in seiner Anordnung betrachten, soweit mir Gnade dazu verliehen ist. Man wird naturgemäß eine Einteilung in vier Teile entdecken, wie ich wenigstens gefunden habe. Ich unterbreite dies dem Urteil meiner Brüder.
Fußnoten
- 1 Wir besitzen sogar schon vor den Zeiten der Richter ein Gegenstück davon. Der ungewöhnliche Dienst Eldads und Medads und ihrer Genossen war die unumschränkte Vorsorge Gottes durch den Geist für das Versagen Moses, für seine ungeduldige Weigerung, das ausschließlich ihm anvertraute Werk fortzuführen. Er lernte dadurch zur Beschämung seines Unglaubens, dass die Hand des Herrn nicht zu kurz war (4. Mo 11,27).
- 2 2. Kor 4,7 scheint eine Anspielung auf Gideons Fackeln und Krüge zu sein.
- 3 2. Mo 20,10; 3. Mo 17,12; 18,26; 23,22; 4. Mo 9,14; 15,14-16.26.29; 35,15; Jos 8,35; 1. Chr 22,2; 2. Chr 2,16; 15,9; 30,25.
- 4 Ich möchte noch den Hauptmann von Kapernaum und die Syrophönizierin erwähnen, die mitten in Israel als Fremdlinge erscheinen, als die Zeiten des Neuen Testaments begannen. Denn ähnlich ihren älteren Genossen erscheinen sie in großer Würde. Der Herr zeichnet sie beide aus.
- 5 Ich möchte allerdings nicht verfehlen, auf 2. Mo 2,16-22 hinzuweisen, wo uns in lieblicher Weise die Kirche in der Zwischenzeit, von der Verwerfung des Messias durch Israel bis zu ihrer Befreiung durch Ihn, dargestellt wird. Zippora, die ich bereits erwähnte, verdankt Mose Befreiung und Leben (das Wasser oder ein Brunnen sind häufige Symbole des Lebens) in der Zeit seiner Verwerfung durch Israel. Dadurch erwirbt er das Anrecht, sie als seine Frau aus der Hand des Vaters und mit seiner Billigung zu empfangen. Das ist ein schönes Vorbild von Christus, dem Vater und der Kirche. Stephanus führt ebenfalls die Verwerfung Josephs und Moses durch ihre Brüder als Vorbild für die Verwerfung des Christus durch die Juden an. Auch die Ehen Josephs und Moses mit heidnischen Frauen weisen eindeutig auf die Vereinigung von Christus mit der Kirche während Seiner Verwerfung und Seiner Entfremdung von Israel hin. Schließlich erwähne ich noch, dass die Gedanken des HERRN und die durch Paulus mitgeteilten Gedanken des Heiligen Geistes in Bezug auf das, was ein Fremdling in Israel und ein Heiliger des Neuen Testamentes erwarten konnten, die gleichen sind (Vgl. 5. Mo 10,18 mit 1. Tim 6,8).