Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

Einleitung

Betrachtung über den Propheten Daniel (Synopsis)

In dem Buche Hesekiels sahen wir die volle Entfaltung der Regierung Gottes auf Erden in Verbindung mit Israel, sei es in der Verurteilung der Sünde, welche das Gericht des Volkes herbeiführte, sei es in der Wiederherstellung des Volkes unter der Herrschaft Christi, des Zweiges, der aus dem Hause Davids hervorwachsen würde, und der, als der wahre „Geliebte“ Gottes, in dem Buche dieses Propheten sogar den Namen „David“ trägt; am Schluss wurde der Tempel mit seiner ganzen Einrichtung beschrieben. Zugleich wurde in diesen göttlichen Regierungswegen Nebukadnezar, das Haupt der Nationen, als Knecht Jehovas eingeführt (Hes 29, 20; 30, 24), um an dem sündigen Israel, welches empörerisch, ja selbst abtrünnig war, indem es fremden Göttern diente, das Gericht zu vollstrecken. Gott hatte Israel zum Mittelpunkt eines ganzen Systems von Nationen, Völkern und Sprachen gemacht, welche sich infolge des an Babel vollzogenen Gerichts gebildet hatten und die unabhängig voneinander vor Gott bestanden. Israel unterschied sich jedenfalls sehr bestimmt von allen umwohnenden Nationen, ob nun als Volk, dem der wahre Gott bekannt war, oder weil es den Tempel und den Thron Gottes in seiner Mitte hatte; indes so groß auch der Gegensatz zwischen Israel als Nation und den übrigen Völkern sein mochte, Israel bildete dennoch einen Teil jenes vor Gott bestehenden Systems von Nationen (5. Mo 32, 8).

Indem nun Nebukadnezar das Gericht Gottes an Israel ausführte, setzte er zugleich dieses ganze System beiseite und trat gleichsam an den Platz desselben in der unumschränkten und allgemeinen Herrschaft, welche er von Gott empfangen hatte. Von dieser Ordnung der Dinge und den aus ihr erwachsenden Folgen, von jener Herrschaft des Hauptes der Nationen sowie der heidnischen Könige in den aufeinanderfolgenden Abschnitten ihrer Geschichte, handelt das Buch Daniels, indem es zugleich Kunde gibt von einem Überrest Israels, der sich inmitten dieses Systems befindet und dieser Herrschaft unterworfen ist. Da der König von Juda den Händen des Hauptes der Nationen überliefert worden ist, so wird der königliche Same in derselben Lage gefunden. Der Überrest wird der besondere Gegenstand der Gedanken Gottes, wie Sein Geist sie uns in diesem Buche offenbart.

Außer dem Zeugnis, welches schon durch die Tatsache für Jehova abgelegt wurde, dass inmitten der götzendienerischen Heiden Ihm ein Überrest treu blieb, kennzeichnen noch zwei wichtige Dinge die Geschichte des letzteren, wie wir sie in diesem Buche aufgezeichnet finden. Das erste ist: es findet sich bei diesem Überrest der Geist der Weissagung und des Verständnisses der Wege Gottes. Wir sahen, wie derselbe in Samuel erweckt wurde, als ganz Israel abgeirrt war, und wie er während der ganzen Zeit fortdauerte, als sich das Volk unter dem Schatten des Königtums befand. Jetzt wird der Geist der Weissagung aufs neue das Band zwischen dem Volke und Gott sowie das einzige, worauf der Glaube ruhen konnte inmitten des Ruins, den das gerechte Gericht Gottes über sie gebracht hatte. Der zweite Umstand, welcher die Wege und Handlungen Gottes mit diesem Überrest kennzeichnet, ist folgender: Von Gott bewahrt durch alle die traurigen Schicksale hindurch, welche das Volk durch seine Sünden über sich gebracht hatte, soll dieser Überrest einen gewissen Anteil an dem Lose haben, welches Gott, im Einklang mit Seiner Regierung und Seinen unwandelbaren Verheißungen, Seinem Volk bescheren wird. Wir finden diese beiden Dinge in dem ersten und letzten Kapitel des vor uns liegenden Buches.

Das Buch teilt sich in zwei Teile, die leicht voneinander zu unterscheiden sind. Der erste endet mit dem 6. Kapitel, und der zweite reicht bis zum Ende des Buches. Indessen tragen das erste und das letzte Kapitel einen besonderen Charakter; sie bilden gewissermaßen Einleitung und Schluss, indem in ihnen die jeweilige Stellung des Überrestes dargelegt wird, welchem, wie wir bereits andeuteten, am Anfang und am Ende das Zeugnis Gottes anvertraut war.

Auch die beiden Hauptteile haben jeder einen bestimmt ausgeprägten Charakter. Der erste führt uns ein Gemälde von der Herrschaft der Nationen vor Augen sowie von den verschiedenen Stellungen, welche diese Herrschaft vor Gott einnehmen würde, entsprechend dem sie beseelenden Hochmut des Menschen. Dieses Gemälde enthält geschichtliche Züge, die deutlich den Geist erkennen lassen, von welchem die herrschende Macht in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen geleitet sein würde; außerdem das Gericht Gottes. In diesem Teile finden wir keine unmittelbaren Offenbarungen an Daniel, als nur zu dem Zwecke, den Traum Nebukadnezars wieder anzeigen zu können. Die Häupter der Nationen sind es, die vor unsere Blicke gestellt werden. Die äußere Geschichte der Königreiche, die einander folgen sollten, wird in allgemeinen Umrissen gezeigt, oder die einzelnen Charakterzüge, die sie nacheinander kennzeichnen würden, sodann ihr schließliches Gericht und die Aufrichtung des Reiches Christi an ihrer Stelle; namentlich aber handelt es sich um den Verlauf und das Gericht des einen Königreichs, das Gott Selbst errichtet hatte, und welches alle anderen darstellte, insofern sie diesen Charakter göttlicher Anordnung trugen. Gott ließ in Seiner Vorsehung diese anderen nur den Thron erben, welchen Er dem ersten anvertraut hatte. Es war eine Frage zwischen Gott und Israel, die diesem ersten Reiche die Oberherrschaft verlieh. Der Geist des frechen Götzendienstes und der Lästerung des Gottes Israels führte seine Zerstörung herbei. In Kapitel 6 tritt die Ungerechtigkeit des Königs nur darin hervor, dass er dem Einfluss anderer nachgibt. Es sind die Fürsten des Volkes, welche wollen, dass niemandem göttliche Ehre erwiesen werde als dem König allein, und die nun dieselbe Strafe erleiden, welche sie über diejenigen zu bringen suchten, die dem Herrn treu waren.

Der zweite Teil des Buches besteht aus Mitteilungen, welche Daniel selbst von Gott empfängt. Er stellt den Charakter der Häupter der Nationen dar in Beziehung zur Erde sowie ihr Verhalten denen gegenüber, welche Gott dienen werden, und endlich die Errichtung des Königreichs Gottes in der Person des Sohnes des Menschen - eines Reiches, das die Heiligen besitzen werden. Die Einzelheiten der Wege Gottes mit Seinem Volke am Ende finden sich im letzten Kapitel. Wir bemerken noch, dass in Kapitel 7 die Geschichte der westlichen Macht der Hauptsache nach dargestellt wird, in Kapitel 8 dagegen die der östlichen Macht - die Geschichte der beiden Hörner. Kapitel 9 hat zwar Jerusalem und das Volk (den sittlichen Mittelpunkt der hier erhobenen Fragen) zum Hauptgegenstand, handelt aber eben deswegen auch von der westlichen Macht, die gewaltsam in Kanaan eindringt. Von Kapitel 10 an bis zum Ende des 11. Kapitels befinden wir uns wieder im Osten; am Schluss wird berichtet, wie das Gericht über die Nationen dort ergeht, und der Überrest Israels zu sicherem, ungestörtem Genuss des Segens gelangt. Betrachten wir jetzt diese Kapitel der Reihe nach.

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