Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Kapitel 1

Einführende Vorträge zum Johannesevangelium

Die Anfangsverse des Johannesevangeliums (V. 1–18) führen den großartigsten Gegenstand ein, den Gott jemals durch den Griffel eines Menschen beschreiben ließ. Er ist nicht nur großartig bezüglich des Themas, sondern auch in jeder anderen Hinsicht. Denn der Heilige Geist stellt hier das WORT vor uns, das ewige WORT. Er beginnt mit seiner Existenz vor aller Zeit, als es noch kein Geschöpf gab und es bei Gott war. Streng genommen wird nicht vom „WORT bei dem Vater“ gesprochen, weil dieser Ausdruck nicht der Genauigkeit der Wahrheit entspricht, sondern vom „Wort ... bei Gott“. Der Begriff „Gott“  umfasst sowohl den Vater, als auch den Heiligen Geist. Jene Person, die damals der Sohn des Vaters war – ich brauche es wohl nicht immer wieder zu sagen –, wird hier als der Offenbarer Gottes betrachtet; denn Gott als solcher offenbart sich nicht selbst. Er verkündet sein Wesen durch das WORT. Nichtsdestoweniger wird hier von dem WORT gesprochen, bevor es irgendjemand gab, dem Gott sich offenbaren konnte. Es ist demnach im unbedingtesten Sinn ewig. „Im Anfang war das Wort“, als noch keine Zeit gezählt wurde; denn der Anfang dessen, was wir Zeit nennen, wird uns erst im dritten Vers vorgestellt. „Alles“, wird dort gesagt, „ward durch dasselbe.“  Das ist eindeutig der Ursprung jeder Kreatur, wo immer oder wer immer sie sein mag. Vor den irdischen gab es schon himmlische Wesen. Von welchem Erschaffenen – organisch oder anorganisch, Engel oder Menschen, Himmel oder Erde – wir auch sprechen mögen: Alles wurde durch das WORT.

Auf diese Weise wird Er, in dem wir den Sohn des Vaters erkennen, als das WORT vorgestellt. Er existierte als Person im Anfang. Er war bei Gott und Er war Gott. Er war von gleicher Natur wie Gott und doch eine unterschiedene Persönlichkeit. Um diese Aussagen vor allem gegen die Träumereien der Gnostiker 1 und anderer Irrlehrer zu bestätigen, wird hinzugefügt, dass Er im Anfang bei Gott war.  Wir müssen auch noch beachten: „Das Wort war bei Gott“ und nicht beim  Vater. So wie das WORT und Gott, so stehen auch der Sohn und der Vater in besonderer Wechselbeziehung. Wir werden hier mit den genausten und gleichzeitig kürzesten Ausdrücken in die Gegenwart der höchsten denkbaren Wahrheiten gestellt, welche Gott allein kannte und welche ausschließlich Er den Menschen mitteilen konnte. Tatsächlich verkündet ausschließlich Gott  die Wahrheit, denn hier geht es nicht einfach um bloßes Wissen über unterschiedliche Sachverhalte, wie genau die zugrunde liegenden Informationen auch sein mögen. Wären alle diese Aussagen auch mit der bewundernswürdigsten Genauigkeit übermittelt worden, so würden sie doch in sich selbst nicht im Geringsten an eine göttliche Offenbarung heranreichen. Eine solche Mitteilung würde nicht nur in ihrer Wertigkeit, sondern auch in ihrer Art von einer göttlichen Offenbarung abweichen. Eine Offenbarung seitens Gottes setzt nicht nur wahrhaftige Aussagen voraus. Sie macht außerdem Gottes Gesinnung kund, damit sie sittlicherweise im Menschen wirken und seine Gedanken und Gefühle entsprechend dem Charakter Gottes bilden kann. Gott macht sich selbst bekannt in dem, was Er durch, von und in Christus mitteilt.

In der Stelle vor uns will der Heilige Geist zur Verherrlichung Gottes ganz offensichtlich Wahrheiten bekannt machen, welche die Gottheit aufs engste betreffen und unendlichen Segen für alle Menschen in der Person des Herrn Jesus enthalten. Diese Verse beginnen demnach mit Christus, unserem Herrn, und zwar nicht  von Anfang, sondern im Anfang, als noch nichts erschaffen war. Sie sprechen von der Ewigkeit seiner Existenz. Zu keiner Zeit in der Vergangenheit konnte gesagt werden, dass es Ihn nicht gab; im Gegenteil, Er  war da. Er war jedoch nicht allein. Auch Gott war da – nicht nur der Vater, sondern ebenfalls der Heilige Geist. Sie waren da neben dem WORT selbst, welches Gott war und genauso eine göttliche Natur besaß wie sie.

Zudem wird nicht gesagt, dass es im Anfang „war“  in dem Sinn, dass es damals ins Dasein gerufen wurde, denn es „war“. So „war“ also das Wort vor aller Zeit. Wenn die große Wahrheit der Inkarnation (Fleischwerdung) in Vers 14 erwähnt wird, lesen wir dort nicht, dass das WORT ins Dasein gerufen, sondern dass es Fleisch gemacht wurde – es trat in diesen  Zustand ein. Letztere Wahrheit steht somit in einem großen Gegensatz zu den Versen 1 und 2.

Im Anfang, vor irgendeinem Geschöpf, war also das WORT; und das WORT war bei Gott. Es gab folglich in der Gottheit verschiedene Personen; und auch das WORT war eine von ihnen. Es war keine Emanation 2 Gottes in der Zeit, die, ihrer Natur nach ewig und göttlich, von Gott als ihrer Quelle ausging. Solche Gedanken sind menschliche Träumereien. Das WORT besaß eine eigene Persönlichkeit und war gleichzeitig Gott – „das Wort war Gott.“  Ja, der nächste Vers verknüpft die beiden bisherigen Aussagen und gibt eine Zwischensumme: Es, das WORT, war im Anfang bei Gott. Die Persönlichkeit war genauso ewig wie seine Existenz. Es war auch nicht in irgendeiner mystischen Weise  in Gott, sondern  bei Gott. Ich kann mir keine Aussage vorstellen, die mit so wenigen, einfachen Worten in bewunderungswürdigerer Weise vollständig und eindeutig ist.

Danach wird die Schöpfung dem WORT zugeschrieben. Wenn irgendetwas existiert, dann kann es nur von Gott erschaffen sein. Auch diese Worte sind wieder die Genauigkeit selbst. „Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward auch nicht eines, das geworden ist.“  In anderen Bibelstellen mögen Worte benutzt werden, die weniger stark sind. Der Unglaube mag diese spitzfindig mit „gestalten“ oder „anpassen“ erklären. Hier jedoch gebraucht der Heilige Geist die eindeutigste Sprache, um darzulegen, dass alles begann bzw. sein Dasein empfing durch das WORT. Nichts erhielt seine Existenz außer durch das WORT. Doch die Ausdrucksweise lässt ausreichend Raum für unerschaffene Wesen, die, wie wir schon gesehen haben, ewig und voneinander unterschieden existieren und trotzdem alle gleichermaßen Gott sind. Die Darlegung stellt nachdrücklich fest, dass das WORT der Ursprung von allem ist, was ins Dasein gebracht wurde (gençmena). Es gibt keine Kreatur, welche nicht auf diese Weise von Ihm ihr Dasein empfangen hat. Nichts kann strenger und unbedingter den Gedanken ausschließen, dass irgendein Geschöpf ohne das WORT erschaffen worden sei.

Es stimmt, dass in anderen Bibelstellen Gott als Schöpfer bezeichnet wird. Andererseits lesen wir, dass Er durch den Sohn die Welten erschaffen hat (Heb 1, 2). In der Schrift kann es jedoch keine Widersprüche geben. Die Wahrheit besteht darin: Alles Erschaffene wurde entsprechend dem unumschränkten Willen des Vaters erschaffen. Allerdings war der Sohn, das WORT, die Person, welche die Macht ausübte, und zwar immer in Verbindung mit der Kraft des Heiligen Geistes, wie ich hinzufügen möchte, weil die Bibel uns darüber sorgfältig belehrt. Diese Aussagen sind von ungeheurer Bedeutung für das Thema des Heiligen Geistes im Johannesevangelium, weil in ihm die Natur und das Licht Gottes in der Person Christi bezeugt werden sollen. Deshalb sehen wir hier den Herrn Jesus nicht einfach als den  Menschen, der von einer Frau unter dem Gesetz geboren wurde (Gal 4, 4). Das findet seinen passenden Platz in den Evangelien von Matthäus und Lukas. Johannes zeigt, was Er war und ist als  Gott. Auf der anderen Seite lässt das Markusevangelium jede diesbezügliche Angabe weg. Ein Geschlechtsregister, wie wir es bei Matthäus und  Lukas gefunden haben, war demnach völlig unpassend. Der Grund dafür ist klar. Markus' Thema ist, ein Zeugnis von Jesus abzulegen, Der, obwohl der Sohn Gottes, die Stellung eines Dieners auf der Erde eingenommen hatte. Bei einem Diener, auch wenn er aus edlem Geschlecht stammt, fragt niemand nach einem Geschlechtsregister. Von einem Diener wird verlangt, dass er seine Arbeit gut ausführt; seine Abstammung ist unwichtig. Dies galt sogar für den Sohn Gottes. Er erniedrigte sich so vollkommen bis zur Stellung eines Knechtes (und der Geist Gottes berücksichtigte dieses so genau), dass infolgedessen ein Geschlechtsregister im Markusevangelium weggelassen wird. Dabei wurde es im Matthäusevangelium unbedingt gefordert; und auch bei Lukas wird es mit solch auffallender Schönheit und Bedeutung vorgelegt. Aus erhabeneren Gesichtspunkten war auch im Johannesevangelium kein Platz dafür. Bei Markus geschah die Weglassung wegen der niedrigen Stellung in Unterwürfigkeit, zu welcher der Herr sich herabließ, im Johannesevangelium aus genau dem entgegengesetzten Grund. Nach seiner Schilderung steht der Herr weit über jedem Geschlechtsregister. Er ist die Ursache für das Geschlechtsregister eines jeden Menschen – ja, die Quelle des Ursprungs aller Dinge. Wir dürfen daher kühn sagen, dass bei Johannes eine solche Abstammungslinie nicht eingefügt werden konnte, weil sie mit dem Charakter des Evangeliums nicht übereinstimmt. Wenn irgendeine Art Geschlechtsregister überhaupt hier seinen Platz haben konnte, dann nur ein solches, wie wir es in der Einleitung – den Versen, mit denen wir uns gerade beschäftigen – finden und welches die göttliche Natur und ewige Personalität des Herrn herausstellt. Er war das WORT; und Er war Gott. Er war – wenn wir es schon vorwegnehmen wollen – der Sohn, der eingeborene Sohn des Vaters. Wenn irgendetwas, dann sind in unserem Evangelium die einführenden Verse sein Geschlechtsverzeichnis, und zwar aus einem ganz offensichtlichen Grund, denn überall im Johannesevangelium ist Er Gott. Zweifellos wurde das Wort Fleisch, wovon wir bald noch mehr in dieser inspirierten Einleitung hören werden. Außerdem wird unbedingt festgehalten, dass Er wirklich Mensch wurde. Aber er nahm Menschheit an. Die Herrlichkeit seiner Gottheit besaß er seit Ewigkeiten; sie war seine ewige Wesensnatur. Letztere wurde Ihm nicht mitgeteilt. Eine abgeleitete untergeordnete Gottheit gibt es nicht und kann es auch nicht geben, obwohl Menschen als Bevollmächtigte Gottes und seine Stellvertreter in der Regierungsgewalt Götter genannt werden (Ps 82, 6; Joh 10, 34). Er  war Gott vor aller Zeit und bevor die Schöpfung begann. Er war unabhängig von irgendwelchen Umständen Gott. So haben wir also gesehen, wie der Apostel Johannes für das WORT eine ewige Existenz, eine eigene Persönlichkeit und die göttliche Natur geltend macht und dabei noch die ewige Unterscheidung als eigene Person bestätigt.

Das ist das WORT in Beziehung zu Gott (πρὸς τὸν Θεόν). Als nächstes wird von seinen Verbindungen zur Schöpfung berichtet (V. 3–5). Die ersten Verse sprechen ausschließlich von seiner Existenz. In Vers 3 handelt und erschafft das WORT. Es bewirkte, dass alle Dinge ins Dasein gerufen wurden. Nichts, was existiert, ist unabhängig vom WORT entstanden (γέγονεν). Keine Darstellung könnte umfassender, keine ausschließender sein.

Der vierte Vers sagt etwas von Ihm voraus, was noch bedeutungsvoller ist, und zwar nicht die schöpferische Kraft wie in Vers 3, sondern das Leben. „In ihm war Leben.“  Gesegnete Wahrheit für jene, die wissen, wie der Tod sich über diesen niedrigeren Schauplatz der Schöpfung ausgebreitet hat! Und das umso mehr, als der Geist hinzufügt: „Und das Leben war das Licht der Menschen.“  Nicht Engel gehörten zu seinem Einflussbereich; es war auch nicht auf ein auserwähltes Volk beschränkt. „Das Leben war das Licht der  Menschen.“  Es gab im Menschen, sogar als er noch nicht gefallen war, kein Leben. Bestenfalls wurde der erste Mensch, Adam, als der Odem Gottes ihn belebte, eine lebendige Seele (1. Mo 2,7). Selbst hinsichtlich eines Erlösten wird nirgendwo gesagt, dass in ihm Leben ist oder war, obwohl er Leben hat. Doch er hat es ausschließlich im Sohn. In Ihm, dem WORT, war Leben; und das Leben war das Licht der Menschen. Hier erkennen wir die Beziehungen zwischen Leben, Licht und Menschen.

Zweifellos handelte alles, was in alten Zeiten enthüllt wurde, von Ihm. Jedes Wort, das von Gott ausging, kam von Ihm, dem WORT und Licht der Menschen. Aber damals war Gott noch nicht geoffenbart worden; denn  das WORT war noch unbekannt. Im Gegenteil, Er wohnte in der tiefen Finsternis hinter dem Vorhang im Allerheiligsten, oder Er besuchte die Menschen in der Gestalt eines Engels. In Vers 5 wird jedoch gesagt: „Das Licht scheint in der Finsternis.“  Beachte die Abstraktheit des Ausdrucks – „das Licht scheint“, wird gesagt, und nicht „schien“! Wie ernst, dass das Licht nichts als Finsternis vorfindet! Und was für eine Finsternis! Wie undurchdringlich und hoffnungslos! Jede andere Finsternis fügt sich dem Licht und entweicht. Doch hier „hat die Finsternis es nicht erfasst.“  Der Heilige Geist berichtet die Tatsache und nicht einfach ein theoretisches Prinzip. Das Licht war dem Menschen angepasst und ausdrücklich für ihn bestimmt, so dass er ohne Entschuldigung ist.

War denn auch dafür Sorge getragen worden, dass das Licht den Menschen gebührend vorgestellt wurde? Auf welchem Weg wurde das Zeugnis des Lichts gesichert? Gott war zweifellos dazu in der Lage. War Ihm dieses Zeugnis von nebensächlicher Bedeutung? Nein, Gott  gab Zeugnis. Zuerst sehen wir Johannes den Täufer und dann das LICHT selbst. „Da war (= ward) ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name Johannes“ (V. 6). Der Heilige Geist übergeht alle Propheten, die verschiedenen früheren Handlungsweisen des Herrn im Alten Testament und die Schatten des Gesetzes. Nicht einmal auf die Verheißungen wird angespielt. Einige von ihnen finden wir später, wo sie zu einem ganz anderen Zweck angeführt oder erwähnt werden. Johannes kam also, um von dem LICHT zu zeugen, damit alle durch ihn glaubten. Aber der Heilige Geist wacht sorgfältig über jeden Missbrauch dieser Stelle. Will irgendjemand eine enge Parallele sehen zwischen dem Licht der Menschen in dem WORT und ihm, der in einem der folgenden Kapitel (Kap. 5,35) eine brennende und scheinende Lampe genannt wird? Mag er seinen Irrtum erkennen! „Er“, Johannes, „war nicht das Licht.“  Es gibt nur ein einziges LICHT und kein zweites. Kein Licht ist Ihm gleich. Gott kann nicht mit einem Menschen verglichen werden. Johannes kam, „auf dass er zeugte von dem Lichte.“  Er sollte nicht dessen Platz einnehmen und sich selbst als Licht hinstellen. Das wahre LICHT war jenes, „welches, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet.“  Als Gott beschäftigt es sich notwendigerweise mit jedem Menschen; denn seine Herrlichkeit konnte nicht auf einen Teil der Menschheit beschränkt bleiben. Die wichtige Wahrheit, die hier verkündigt wird, besteht in der Verbindung dieses allgemeinen Lichts bzw. der Offenbarung Gottes in Ihm an die Menschen, mit seiner Inkarnation. Durch andere Bibelstellen wissen wir, dass das Gesetz sich eine Zeit lang aus bestimmten Gründen mit dem jüdischen Volk befasste. Das war nur ein beschränkter Einflussbereich. Nun, da das WORT in die Welt kommt, scheint das Licht in der einen oder anderen Weise für jedermann. Dabei lässt es Menschen unter dem Verdammungsurteil, und zwar, wie wir wissen, die große Masse der Menschen, die nicht glauben will. Es ist ein Licht, das nicht nur auf, sondern auch in den Menschen scheint, wenn dort durch die Wirksamkeit der göttlichen Gnade Glaube vorhanden ist. Eines ist gewiss: Welches Licht auch immer in Verbindung mit Gott leuchtet und wo immer Er es darreicht – es gibt und gab niemals geistliches Licht unabhängig von Christus. Alles andere ist Finsternis. Es kann nicht anders sein. Dieses Licht musste seinem Charakter nach von Gott zu allen Menschen ausgehen. Anderswo wird gesagt: „Die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend für alle Menschen“ (Tit 2, 11). Das heißt nicht, dass alle Menschen die Segnung empfangen. Doch hinsichtlich ihrer Reichweite und ihres Wesens wendet sich die Gnade an jeden. Gott sendet sie an alle Menschen. Das Gesetz mochte eine einzige Nation leiten. Die Gnade weigert sich, in ihrem Mahnruf eingeschränkt zu werden, obwohl dies durch den Unglauben des Menschen tatsächlich geschieht.

„Er war in der Welt, und die Welt ward durch ihn“ (V. 10). Die Welt sollte daher ihren Schöpfer gekannt haben. Aber, „die Welt kannte ihn nicht.“  Von Anfang an war der Mensch als Sünder verloren. Der unbegrenzte Schauplatz steht vor den Blicken – nicht Israel, sondern die Welt. Nichtsdestoweniger kam Christus in das Seinige, sein ordnungsgemäßes, Ihm eigenes Besitztum, denn es gab zusätzlich noch besondere Beziehungen. Die Juden sollten eigentlich mehr Verständnis über Ihn besessen haben – jene, die in besonderer Weise bevorrechtigt waren. Es war nicht so. „Er kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen ihn nicht an; so viele ihn aber aufnahmen, denen gab er das Recht, Kinder Gottes zu werden“ (V. 11–12). Es ging nicht mehr um Jahwe und seine Knechte. Auch spricht der Heilige Geist genau genommen nicht, wie unsere englische Bibelübersetzung es ausdrückt, von Söhnen, sondern von Kindern. Nach dem Willen seiner herrlichen Person sollte es jetzt in Verbindung mit Gott nur noch Glieder der Familie Gottes geben. Das war die Gnade, die Gott in dem entfaltete, der in Wahrheit und Vollständigkeit seine Gesinnung offenbarte. Er gab ihnen das Recht, den Platz von Kindern Gottes einzunehmen, nämlich jenen, die an seinen Namen glauben. Dem Titel nach mögen sie außerdem Söhne sein; hier haben die Erlösten jedoch das Recht von Kindern.

Wir lesen von keiner vorbereitenden Zuchthandlung, keiner besonderen Läuterung der Menschen. Die Unwissenheit der Welt hatte sich erwiesen; die Verwerfung durch Israel war vollständig. Danach erst hören wir von diesem neuen Platz als Kinder. Es handelt sich jetzt um eine ewige Wirklichkeit. Der Name Jesu Christi stellte die letzte Probe dar. Es bestand ein Unterschied in der Art, wie die Welt und wie Israel handelte. Bei der Welt zeigte sich Unkenntnis, bei Israel Verwerfung. Glaubt irgendjemand an seinen Namen? Wer er auch sei – so viele Ihn aufnehmen, werden Kinder Gottes. Der Heilige Geist spricht nicht von jedem Menschen, sondern nur von dem, der glaubt. Nimmt jemand den Herrn nicht an? Für ihn, sei er aus Israel oder von der Welt, ist alles vorbei. Das Fleisch und die Welt werden sittlich gerichtet. Gott der Vater bildet eine neue Familie in, durch und für Christus. Alle anderen Menschen beweisen, dass sie nicht nur böse sind, sondern auch die vollkommene Güte und darüber hinaus Leben und Licht, das wahre Licht im WORT, hassen. Wie könnten solche Personen Beziehungen zu Gott haben?

So wird diese Frage schon zu Beginn des Evangeliums eindeutig beantwortet. Offensichtlich ist, kennzeichnend für Johannes, alles entschieden. Er schreibt nicht von einem Messias, der kommt, sich selbst offenbart und sich Israels Verantwortlichkeit vorstellt, wie wir es in anderen Evangelien mit äußerst gewissenhafter Sorgfalt beschrieben finden. Diese Prüfung wird von Anfang an als abgeschlossen betrachtet. Beim Kommen in diese Welt erleuchtete das LICHT jeden Menschen mit der Fülle dessen, was in Ihm war. Dabei wurde sofort der wahre Zustand eines jeden offenbar. Genauso wird es auch am letzten Tag sein, wenn Er alles richten wird. Darauf weist unser Evangelist später hin (Joh 12, 48).

Bevor uns die Art und Weise der Offenbarung des WORTES in Vers 14 vorgestellt wird, erhalten wir das Geheimnis erklärt, warum einige, aber nicht alle, Christus annahmen. Sie waren nämlich keineswegs besser als die Übrigen. Die natürliche Geburt hatte mit diesem neuen Zustand nichts zu tun. Diejenigen, die Ihn aufnahmen, bekamen eine gänzlich neue Natur. „Welche nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“  (V. 13). Es war eine außergewöhnliche Geburt. Sie war von Gott. Der Mensch hatte in keinster Weise Anteil daran. Dem Gläubigen wurde allein aus Gnaden eine neue und göttliche Natur (2. Pet 1, 4) mitgeteilt. Sowohl die Natur des WORTES als auch der Platz des Christen werden abstrakt beschrieben.

Es ist für uns jedoch wichtig zu wissen,  wie es diese Welt betrat. Wir haben schon gesehen, dass in Ihm Licht auf die Menschen schien. Wie geschah das? Um diese unendlichen Absichten zu erfüllen, wurde das WORT „Fleisch und wohnte unter uns.“  Hier erfahren wir, in welcher persönlichen Stellung es sich befand, als Es Gott offenbarte und das Werk ausführte. Wir lesen in unserem Vers nicht, was es seiner Natur nach war, sondern was es wurde. Das große Wunder der Inkarnation wird uns vorgestellt. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater)“ (V. 14). Sein Wesen, als es unter den Jüngern „zeltete“ (vgl. Fußnote), war „voller Gnade und Wahrheit.“  So gesegnet das Licht ist, indem es der sittlichen Natur Gottes entspricht, müssen wir doch beachten, dass die Wahrheit mehr ist als dieses; und die Wahrheit wurde durch Gnade eingeführt. Wahrheit ist die Offenbarung Gottes – ja, des Vaters und des Sohnes – und entlarvt den Menschen. Der Sohn war nicht gekommen, um das Gericht des Gesetzes, das die Juden kannten, auszuführen. Er sollte auch nicht ein neues und höheres Gesetz verkünden. Er hatte einen Auftrag, der unvergleichlich erhabener und Gottes würdiger war und außerdem zu einer Person „voller Gnade und Wahrheit“  passte. Er forderte nichts. Er kam, um zu geben – ja, um sozusagen das Beste zu geben, was Gott hatte.

Was ist göttlicher in Gott als Gnade und Wahrheit? Das fleischgewordene Wort war auf der Erde  voller Gnade und Wahrheit. An ihrem Tag sollte sich auch die Herrlichkeit zeigen. Inzwischen entfaltete sich jedoch die Güte, die aktiv in Liebe inmitten des Bösen und für die Bösen wirkte. Sie machte Gott und den Menschen und zudem jede sittliche Wechselbeziehung bekannt und zeigte, was Gott durch und in dem fleischgewordenen WORT für den Menschen geworden ist. Das ist Gnade und Wahrheit. In diesem Charakter kam Jesus. „Johannes zeugt von ihm und rief und sprach: Dieser war es, von dem ich sagte: Der nach mir Kommende ist mir vor, denn er war vor mir“ (V. 15). Auch wenn Er zeitlich gesehen nach Johannes kam, war Er notwendigerweise an Rang vor ihm, denn Er war  - nicht wurde  – vor ihm. Er war Gott. Diese Aussage ist eine Einfügung, obwohl sie Vers 14 bestätigt. Sie verbindet das Zeugnis des Johannes mit diesem neuen Textabschnitt der Offenbarung Christi im Fleisch. Ähnlich sahen wir in früheren Versen, die von Christi Natur als das WORT in abstrakter Weise handeln, wie die Person des Johannes in den Text eingewoben wurde.

Dann wird der Faden von Vers 14 wieder aufgenommen, indem uns Vers 16 mitteilt: „Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen.“  So reich und deutlich göttlich war die Gnade: Nicht einige Seelen, verdienstvoller als die Übrigen, wurden nach einer abgestuften Rangfolge der Ehre belohnt, sondern „aus seiner Fülle haben wir  alle empfangen.“  Was könnte auffälliger im Gegensatz stehen zu dem System der Regierung Gottes auf der Erde, welches Er aufgerichtet hatte und welches die Menschen aus früheren Zeiten kannten? Er vermochte jetzt nicht mehr, aber auch nicht weniger zu geben als „Gnade um Gnade.“  Trotz der eindringlichen Zeichen und dem offensichtlichen Finger Gottes, der die zehn Worte auf Tafeln von Stein schrieb, versinkt das Gesetz nun in verhältnismäßige Bedeutungslosigkeit. „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben.“  Gott lässt sich hier nicht herab, es „sein Gesetz“ zu nennen, obwohl es natürlich sein Gesetz war. Dabei war es sowohl in sich selbst als auch in seiner Anwendung heilig, gerecht und gut, und zwar, falls man es gesetzmäßig gebrauchte (1. Tim 1, 8). Doch wenn der Geist vom Sohn Gottes spricht, schrumpft das Gesetz sofort zur kleinstmöglichen Größe zusammen. Alles trägt zur Ehre bei, die der Vater auf den Sohn legt. „Das Gesetz wurde durch Moses gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden (V. 17). Das gegebene Gesetz war in sich selbst kein Geber, sondern ein Eintreiber. Jesus voller Gnade und Wahrheit gab, statt zu fordern oder anzunehmen. Er selber hatte gesagt: „Geben ist seliger als nehmen“ (Apg 20, 35). Wahrheit und Gnade wurden im Menschen weder gesucht, noch gefunden; sie erschienen hienieden erst durch Jesus Christus.

Wir sehen also, wie das WORT Fleisch wurde und den Namen „Jesus Christus“ erhielt. Diese Person, diese vielschichtige Person, wurde in der Welt geoffenbart; und sie war es, die alle Segnungen in die Welt brachte. Gnade und Wahrheit kamen durch Jesus Christus.

Zuletzt – und damit schließt dieser Abschnitt – erfahren wir von einem weiteren bemerkenswerten Gegensatz. „Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn“ usw. (V. 18). Jetzt geht es nicht mehr um seine Natur, sondern um seine Beziehungen. Daher wird nicht mehr einfach vom WORT gesprochen, sondern vom Sohn, und zwar vom Sohn im höchsten möglichen Charakter. Der Ausdruck „eingeborener Sohn“ unterscheidet Ihn von jedem anderen, der in einem untergeordneten Sinn „Sohn Gottes“  genannt werden mag. „Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist.“  Beachte! Hier steht nicht „war“, sondern „ist“. Wir sehen, wie Er diese vollkommene Intimität mit dem Vater beibehielt, ohne durch räumliche oder andere Umstände, in die Er eintrat, beeinträchtigt zu werden. Nichts tat im Geringsten seiner persönlichen Herrlichkeit oder der unendlich nahen Beziehung, die Er zum Vater seit aller Ewigkeit hatte, Abbruch. Er kam in diese Welt und wurde Fleisch, indem Ihn eine Frau gebar. Seine persönliche Herrlichkeit blieb jedoch dieselbe, auch als Er, geboren von der Jungfrau, über die Erde wandelte bzw. als die Menschen Ihn verwarfen. Er blieb sogar der eingeborene Sohn im Schoß des Vaters, als Er als Messias abgeschnitten und am Kreuz von Gott wegen der Sünde, unserer Sünde, verlassen wurde. Unter allen äußeren Veränderungen blieb Er, wie seit Ewigkeiten, der eingeborene Sohn im Schoß  des Vaters. Beachte auch, dass Er als solcher Gott offenbarte! Niemand hat Gott jemals gesehen. Er konnte nur von einer Person bekannt gemacht werden, die in der Vertrautheit der Gottheit selbst Gott war, nämlich vom eingeborenen Sohn im Schoß des Vaters. Der Sohn befand sich in dieser unaussprechlichen Gemeinschaft der Liebe und machte sowohl Gott als auch den Vater kund. So haben wir nicht nur alle aus seiner Fülle empfangen – und welch unbegrenzte Fülle war in Ihm! –, sondern das fleischgewordene WORT ist auch der eingeborene Sohn im Schoß des Vaters. Er besaß die Befähigung, alles kundzumachen – wie Er es ja auch getan hat. Der Heilige Geist zeigt hier zusammen mit der Natur des Sohnes das Muster und die Fülle des Segens in Ihm, der den Vater dargestellt hat.

Wie angemessen ein solches Zeugnis von der Herrlichkeit des Heilandes ist, braucht kaum herausgestellt zu werden. Schon wenn wir diese wunderbaren Worte des Heiligen Geistes lesen, empfinden wir als Gläubige, dass wir uns auf einem ganz anderen Boden befinden als in den übrigen Evangelien. Natürlich sind diese genauso inspiriert wie das des Johannes. Aber sie wurden nicht inspiriert, um dasselbe Zeugnis zu liefern. Jedes Evangelium hat sein besonderes Thema; und dennoch harmonieren alle miteinander. Sie sind vollkommen, sind göttlich und keineswegs einfache Wiederholungen derselben Dinge. Jene Person, die alle inspirierte, um ihre Gedanken über Jesus nach der besonderen Linie, die sie ihnen bestimmte, mitzuteilen, benutzte auch Johannes. Letzterer verkündete die höchste Offenbarung und schloss so den Kreis mit den erhabensten Blicken auf den Sohn Gottes.

Danach sehen wir in einer Weise, die mit unserem Evangelium übereinstimmt, die Verbindung Johannes' des Täufers mit dem Herrn Jesus dargestellt, und zwar unter geschichtlichen Gesichtspunkten. In jedem Teil des Vorworts hat unser Evangelist den Täufer erwähnt. Doch nirgendwo verkündet dieser, dass Jesus derjenige sei, der das Reich der Himmel einführen sollte. Davon erfahren wir hier kein Wort. Nichts wird von der Worfschaufel in seiner Hand gesagt – auch nichts davon, dass Er die Spreu mit unauslöschlichem Feuer verbrennen wird (Mt 3). Diese Einzelheiten sind natürlich völlig wahr; wir finden sie anderswo. Seine irdischen Rechte werden da gefunden, wo sie hingehören, jedoch nicht hier, wo der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, seinen passenden Platz findet. Die Aufgabe des Johannes in unserem Kapitel bestand nicht darin, auf seine Messiasrechte aufmerksam zu machen. Diese führte er selbst dann nicht an, als die Juden Priester und Leviten von Jerusalem sandten, um ihn zu fragen: „Wer bist du?“  Das beruhte natürlich weder auf Unwissenheit, noch auf einer leichtfertigen Beantwortung ihrer Fragen. Denn „er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte: Ich bin nicht der Christus. Und sie fragten ihn: Was denn? Bist du Elias? Und er sagt: Ich bin's nicht. Bist du der Prophet? Und er antwortete: Nein. Sie sprachen nun zu ihm: Wer bist du? auf dass wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben; was sagst du von dir selbst? Er sprach: Ich bin die „Stimme eines Rufenden in der Wüste: Machet gerade den Weg des Herrn“, wie Jesajas, der Prophet, gesagt hat. Und sie waren abgesandt von den Pharisäern. Und sie fragten ihn und sprachen zu ihm: Was taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist, noch Elias, noch der Prophet?“ (V. 20–25). Johannes erwähnte nicht einmal, dass Jesus nach seiner Verwerfung als Messias in eine höhere Herrlichkeit eintreten sollte. Seine Worte an die Pharisäer bezüglich des Herrn waren wirklich kurz angebunden. Er redete auch nicht wie vorher und nachher von der göttlichen Grundlage seiner Herrlichkeit. Er äußerte einfach, dass unter ihnen jemand stände, von dem sie keine Kenntnis hätten, „der nach mir Kommende, dessen ich nicht würdig bin, ihm den Riemen seiner Sandale zu lösen“ (V. 27). In Bezug auf sich selbst, sagte er, dass er  nicht der Christus sei, hinsichtlich Jesus nur diese wenigen Worte. Wie auffallend ist diese Kürze! Denn er wusste, dass Er der Christus war. Es lag hier jedoch nicht in der Absicht Gottes, davon zu berichten.

Mit Vers 29 beginnt das Zeugnis des Johannes an seine Jünger. Wie reich ist dies! Und wie wunderbar stimmt es mit dem Charakter unseres Evangeliums überein! Jesus ist das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt. Außerdem ist Er, wie er schon gesagt hatte, der Ewige. Doch das Zeugnis des Täufers steht hier in Verbindung mit seiner Offenbarung an Israel; und deshalb kam Johannes und taufte mit Wasser. Diesen Grund gibt er  jetzt an, jedoch nicht in seinem Gespräch mit den Pharisäern in den Versen 25–27. Weiterhin bezeugt Johannes, dass er den Geist wie eine Taube herniederkommen sah und auf Jesus bleiben. Das war das vereinbarte Zeichen, dass Er es ist, der mit Heiligem Geist tauft, nämlich der Sohn Gottes. Niemand anderes konnte diese beiden Werke ausführen, denn darin erkennen wir sowohl sein großes Werk auf der Erde als auch seine himmlische Macht. Insbesondere unter diesen beiden Gesichtspunkten gibt Johannes Zeugnis von Christus. Er ist das Lamm, welches die Sünde der Welt wegnimmt. Er ist aber auch der, welcher mit Heiligem Geist tauft. Beide Werke betreffen den Menschen auf der Erde – das eine, als Er hienieden war, das andere vom Himmel aus. Sein Tod am Kreuz umschließt natürlich viel mehr, doch es gehört zum ersten Werk. Sein Taufen mit dem Heiligen Geist folgte auf seine Himmelfahrt. Trotzdem wird nur wenig von dem himmlischen Teil gesprochen, weil das Johannesevangelium den Herrn Jesus mehr als den Ausdruck Gottes auf der Erde entfaltet. Sein Charakter als Mensch, der in den Himmel eingegangen ist, passt weit mehr in den Aufgabenbereich des Apostels der Nationen. Im Johannesevangelium wird Er als Sohn des Menschen, der im Himmel ist, beschrieben; denn Er gehört zum Himmel, weil Er göttlich ist. Auf seine Erhöhung dort wird auch in unserem Evangelium hingewiesen, jedoch nur ausnahmsweise.

Beachten wir auch die Ausdehnung seines Werkes im 29. Vers. Als das Lamm Gottes – vom Vater wird nicht gesprochen – hat Er es mit der Welt zu tun. Die volle Kraft jenes Titels wird sich aber erst entfalten, wenn das herrliche Ergebnis seines Blutvergießens die letzten Spuren der Sünde in dem neuen Himmel und auf der neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt, weggeschwemmt hat. Das „Lamm Gottes“ findet natürlich auch eine gegenwärtige Anwendung im Zusammenhang mit jener Wirksamkeit der Gnade, in welcher Gott jetzt das Evangelium an Sünder jeglicher Art aussendet. Dennoch wird allein der ewige Tag die volle Wirkung dessen zeigen, was in Verbindung steht mit Jesus als dem Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt wegnimmt. Wir können auch feststellen, dass es nicht um die  Sünden geht, wie oft irrtümlich gesagt oder gesungen wird, sondern um die „Sünde der Welt“. Der Opfertod dessen, der Gott ist, geht weit über Israel hinaus. Wie könnte er in enge Grenzen eingeschlossen werden? Sein Tod übergeht stillschweigend alle Fragen der Haushaltungen, bevor er in seinem ganzen Ausmaß jenen Ratschluss erfüllt, für den Jesus gestorben ist. Ohne Zweifel findet er auch in der Zwischenzeit seine Anwendung. Ersterer ist jedoch das endgültige Ergebnis des Werkes des Herrn als Lamm Gottes. Der Glaube weiß allerdings jetzt schon, dass nicht mehr die Sünde als großer Gegenstand vor Gott steht, denn seit dem Kreuz hat Er immer das Opfer, welches die Sünde wegnimmt, vor seinen Augen. Bemerkenswerterweise wendet Er es schon heute auf die Versöhnung eines Volkes an, welches außerdem durch den Heiligen Geist zu einem Leib getauft wird. Bald wird Er es auch jener Nation, den Juden, und den anderen Völkern zurechnen und zuletzt (selbstverständlich mit Ausschluss der Ungläubigen und Bösen) dem ganzen System der Welt. Letzteres beziehe ich nicht auf alle Einzelpersonen, sondern auf die Schöpfung. Denn nichts ist sicherer, als dass die Schuld jener, die den Sohn Gottes nicht angenommen haben, größer sein wird, weil sie das Evangelium gehört haben. Die Verwerfung Christi ist eine Missachtung Gottes in einer Angelegenheit, über die Er besonders eifersüchtig wacht, nämlich die der Ehre des Heilands, seines Sohnes. Die Ablehnung seines kostbaren Blutes macht im Gegenteil ihre Lage unvergleichlich schlimmer als die der Heiden, welche niemals die gute Botschaft gehört haben.

Was für ein Zeugnis von seiner Person! Nur ein göttliches Wesen konnte so mit der Welt handeln. Zweifellos musste Er ein Mensch werden, um, unter anderem, zu leiden und zu sterben. Nichtsdestoweniger verkündet das Ergebnis seines Todes seine Göttlichkeit. Das erkennen wir auch in der Taufe mit dem Heiligen Geist. Wer konnte auf eine solche Macht Anspruch erheben? Kein normaler Mensch, kein Engel, auch nicht der größte, der Erzengel, sondern allein der Sohn!

Dies sehen wir auch später, als Er einzelne Seelen zu sich zieht und sich mit ihnen beschäftigt. Wäre Jesus in seiner Person nicht Gott gewesen, dann hätte diese Handlungsweise Gott verunehrt. Er hätte falsch gehandelt als ein Nebenbuhler Gottes, denn die Art und Weise ist sehr auffallend, in welcher Er der Mittelpunkt wurde, um welchen sich die Gottesfürchtigen sammelten. Das geschah am dritten Tag (vgl. V. 19, 29, 35), wie hier gezählt wird, des Zeugendienstes des Johannes. Gleichzeitig war er sozusagen der erste Tag (vgl. V. 35, 43; Kap. 2,1), an dem Jesus in seiner Gnade hier auf der Erde sprach und wirkte. Es ist klar, dass der Herr, wenn Er nicht Gott gewesen wäre, in seiner Handlungsweise mit den ersten Jüngern die Herrlichkeit Gottes beeinträchtigt hätte. Ein solcher Platz konnte einem Menschen angesichts der alleinigen Autorität Gottes nicht zustehen. Aus demselben Grund wäre er auch für die Menschen durch und durch verderblich gewesen. Da Jesus jedoch Gott war, offenbarte Er stattdessen die Herrlichkeit Gottes hienieden und hielt sie aufrecht. Deshalb übergab Johannes, der vorher der geehrte Zeuge des Rufes Gottes, „die Stimme eines Rufenden“, war, unter dem Überfließen der Freude seines Herzens und seines Zeugnisses seine Jünger an Jesus. „Hinblickend auf Jesum, der da wandelte, spricht er: Siehe, das Lamm Gottes! Und es hörten ihn die zwei Jünger reden und folgten Jesu nach“ (V. 36–37). Unser Herr war sich seiner Herrlichkeit, wie immer, völlig bewusst und handelte entsprechend.

Wir müssen im Gedächtnis behalten, dass uns in diesem Teil des Evangeliums unter anderem insbesondere die Handlungen des Sohnes Gottes vor seinem normalen galiläischen Dienst gezeigt werden. Der Zeit nach gehen die ersten vier Kapitel des Johannes seinem Wirken in den anderen Evangelien voraus. Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden. In Matthäus, Markus und Lukas beginnt der öffentliche Dienst unseres Herrn mit der Gefangennahme des Täufers. Doch all das, was geschichtlich gesehen über den Herrn Jesus in Johannes 1 bis 4 erzählt wird, geschah vor der Gefangenschaft desselben. Hier haben wir also eine bemerkenswerte Darstellung der Ereignisse, die seinem galiläischen Dienst bzw. seinem öffentlichen Auftreten vorausgingen. Bevor irgendein Wunder geschehen war, hatte Er trotz der Schlichtheit und Demut seines Auftretens das tiefe, ruhige und beständige Bewusstsein, dass Er Gott war. Wir sehen das auch schon in dem Wirken jener, die seine Herrlichkeit bekannt machten. Es gab in seinem Geist ganz offensichtlich kein schrittweises Wachstum. Er war Gott; und Er handelte entsprechend. Wenn Er seine Macht herausstellte, dann übertraf diese nicht nur jedes menschliche Maß, sondern erwies sich auch eindeutig als göttlich, obwohl Er der Demütigste und Abhängigste unter den Menschen war. Wir erfahren, wie Er jenen Seelen, die von dem vorhergesagten Boten Jahwes, der den Weg vor seinem Angesicht bereiten sollte, vorbereitet waren, als Herr und nicht als Mitknecht begegnete. Einer von den beiden, die zuerst von Ihm angezogen wurden, fand seinen Bruder Simon mit den Worten: „Wir haben den Messias gefunden“ (V. 41) und führte ihn zu Jesus. Dieser gab ihm sofort seinen neuen Namen in Worten, die mit gleicher Leichtigkeit und Gewissheit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft überblickten. Unabhängig von seiner göttlichen Einsicht kennzeichnete schon die Umänderung oder die Gabe des Namens seine Herrlichkeit.

Am nächsten Tag begann Jesus, direkt und indirekt andere in seine Nachfolge zu berufen. Er forderte Philippus auf, Ihm nachzufolgen. Dieser findet Nathanael. Im Umgang mit Letzterem sehen wir die göttliche Macht, wie sie sowohl die Seele von Menschen auslotet als auch die Schöpfung durchdringt. Da war jemand auf der Erde, der alle Geheimnisse kannte. Er sah Nathanael unter dem Feigenbaum. Er war Gott. Die Berufung des Nathanael weist auch symbolisch eindeutig auf Israel in den letzten Tagen hin. Die Anspielung auf den Feigenbaum bestätigt diese Ansicht, ebenso Nathanaels Bekenntnis: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels“ (V. 49; siehe Ps 2). Doch der Herr sprach zu ihm von größeren Dingen, die er sehen sollte, und sagte: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf- und niedersteigen auf den Sohn des Menschen“ (V. 51). Das ist die größere, allumfassende Herrlichkeit des Sohnes des Menschen nach Psalm 8. Der auffallendste Teil dieser Prophezeiung sollte jedoch schon vom gegenwärtigen Zeitpunkt an verwirklicht werden, denn die Herrlichkeit seiner Person brauchte nicht auf den Tag der Herrlichkeit zu warten, um die Aufmerksamkeit der Engel Gottes – diese Auszeichnung als Sohn des  Menschen – auf sich zu ziehen.

Fußnoten

  • 1 Gnostizismus: Philosophisches System nicht-christlicher und christlicher Prägung. Christlicher Gnostizimus ist seit dem zweiten Jahrhundert bis in unsere Tage in seinen unterschiedlichen Strömungen eine der einflussreichsten Irrlehren. Hier spricht Kelly von der gnostischen Lehre, dass die Person des Sohnes nicht ewig bei Gott war, sondern erst später erschaffen wurde. (Übs.)
  • 2 Emanation: philosophischer Begriff, der „Ausfluss“ bedeutet. (Übs.)
Nächstes Kapitel »