Die beiden Bäume (1. Mose 2)
Von allem, was uns in der Bibel über den Garten Eden mitgeteilt wird, scheint kaum eine Tatsache weniger verstanden zu werden als die in der zweiten Hälfte des angeführten Verses berichtete; viele halten diese Mitteilung lediglich für einen frühen Mythos oder eine Fabel. Und doch waren die beiden Bäume, die vor allen übrigen erwähnt werden, als eine ausdrückliche Tatsache jenen Tagen der ursprünglichen Unschuld und nur diesen völlig angepaßt. Sie verkörpern göttliche Grundsätze von tiefem und bleibendem Wert für alle Zeiten. Dabei braucht man keinem von beiden Gewalt anzutun, noch sich in Phantasien zu ergehen, sondern sich nur den Hinweisen des inspirierten Berichts zu unterwerfen. Und die Wahrheit, die uns hier mitgeteilt wird, ist für jeden Menschen von großer Bedeutung.
Als erstes ist zu beachten, daß der „Baum des Lebens“ in der Mitte des Gartens von jenem „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ unbedingt verschieden ist. Von letzterem zu essen war bei unausweichlicher Todesstrafe verboten (V. 17). Und erst als der Mensch dennoch von dem verbotenen Baum aß, traf Gott Vorsorge, daß er nicht auch von dem Baum des Lebens nahm (1. Mo 3, 22). Das hätte nämlich ein ins Endlose verlängertes Leben des sündigen Menschen bedeutet, und das wäre kein Segen gewesen, sondern eine Katastrophe, eine Verletzung aller Ordnung. Abgesehen von jener Übertretung jedoch war der Baum des Lebens dem Menschen zugänglich und ausdrücklich von dem Baum der Erkenntnis unterschieden.
Der erste Baum macht somit klar, daß dem nicht-gefallenen Menschen der Weg zum Leben offenstand. Gott hatte das für Adam im Paradies so vorgesehen, und zwar aus freiem Herzen und völlig unabhängig von dem zweiten Baum. So war es wirklich, und deshalb verlor der Mensch sein Anrecht auf den ersten Baum, als er von dem zweiten aß. Der Mensch war verantwortlich, nicht von dem Baum der Erkenntnis zu essen; hätte er sich enthalten, so wäre er frei gewesen, von dem Baum des Lebens zu essen. Nachdem er aber schuldig geworden und gefallen war, wurde er davon ausgeschlossen und hinausgetrieben, und die Flamme des kreisenden Schwertes verwehrte jeden Zugang zum Baum des Lebens (1. Mo 3, 24).
Nun geht das beständige Bemühen des Menschen, insbesondere des religiösen Menschen, gleichsam dahin, die beiden Bäume einander gleichzusetzen, d. h. das Leben von der Erfüllung der Verantwortlichkeit abhängig zu machen: eine Vorstellung, die angesichts der Tatsachen zur Zeit der Unschuld des Menschen nicht bestehen kann, und die sich noch offensichtlicher als falsch erweist, nachdem der Mensch ein Sünder geworden und vom Baum des Lebens ausgeschlossen ist. Sein ursprüngliches Verhältnis ging durch Übertretung verloren. Die einzige natürliche Religion, die jemals Realität hatte oder haben konnte, fand damit ihr Ende. Fortan hing nun alles davon ab, was Gott ist, und zwar in rettender Barmherzigkeit dem Menschen gegenüber. Der Mensch hatte unter den günstigsten Umständen Gott gegenüber gänzlich versagt. Die Sünde zwang Gott in moralischer Hinsicht, als Richter aufzutreten. Doch Liebe und göttliche Gnade machten Ihn zu einem Heiland. So hing alles ab von Seinem Sohn, von Seiner Erniedrigung, Mensch zu werden und für die Schuldigen in Tod und Gericht zu gehen. Der Vater hat den Sohn gesandt als Heiland der Welt (1. Joh 4, 14); der Sohn kam, zu suchen und zu erretten, was verloren war (Lk 19, 10).
Betrachten wir aber das Handeln Gottes in der Zwischenzeit bis zur Ankunft Seines Sohnes. Der Brief an die Galater legt großen Nachdruck darauf, daß bereits vierhundertdreißig Jahre vor dem Gesetz Verheißungen gegeben und ein Bund von Gott bestätigt worden war. Aufgrund dieser zeitlichen Anordnung konnte das eine das andere nicht aufheben und noch weniger damit vermengt werden. Die Verheißungen entsprachen dem Baum des Lebens, das Gesetz dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Die Verheißungen waren die bedingungslose, verbürgte Gnade Gottes, absichtlich lange vor dem Gesetz geoffenbart und von diesem absolut unterschieden. Das Gesetz drückte Gottes gerechte Forderung an den Menschen auf dem Boden seiner Verantwortlichkeit aus. Wenn Israel, wenn irgend jemand vorgab, auf diesem Boden vor Gott zu stehen, dann waren die zehn Gebote Gottes Bedingungen dafür. Aber solche Bedingungen können nur einen Dienst des Todes und der Verdammnis bedeuten für sündige Geschöpfe, wie Israel es war und die ganze Menschheit es ist. Es ist somit immer ein verhängnisvoller Irrtum, das Leben in der Wahrnehmung menschlicher Verantwortung zu suchen. Israel stellte sich auf diesen Boden und versagte bis zum äußersten, und so geht es allen Sündern, wenn sie den gleichen Pfad verfolgen. Die Schrift berichtet dieses Versagen im Alten Testament und erklärt es im Neuen Testament, damit Menschen heute aus dieser ernsten Lektion der Vergangenheit lernen und allein zu der Gnade Gottes in Christus ihre Zuflucht nehmen.
Christus allein hat das Problem gelöst, und Er hat es dadurch getan, daß Er die volle Verantwortung des Menschen auf sich nahm und die Folgen der Sünde und unserer Sünden im Tod, ja im Tod am Kreuz, getragen hat. Und so ist Er, nachdem Er Gott vollkommen verherrlicht hat, aus den Toten auferstanden, ein lebenspendender Geist für alle Glaubenden. Deshalb gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Ihm sind, in Dem die beiden Bäume so zu einer segensreichen Harmonie gebracht worden sind, zu unserem Heil und zur Verherrlichung Gottes.
Als verantwortliche Menschen erweisen wir uns gottlos und kraftlos, wie der Apostel unbestreitbar feststellt. Selbst die Juden behandelt der Herr als „Verlorene“. Damit ist die Frage nach jener Verantwortlichkeit erledigt. Was könnte nun anmaßender sein in dem sündigen Zustand unserer gefallenen Natur, als das Leben darin zu suchen, daß wir behaupten, unsere Pflicht als Menschen zu erfüllen? Leben und Verantwortlichkeit waren selbst für den Menschen in Unschuld, wie 1. Mose 2 lehrt, ausdrücklich und ganz und gar voneinander getrennt. Aber wie Christus den Glaubenden umsonst Leben gibt in Seinem Namen, so ist Er durch Seinen Tod auch die Sühnung für ihre Sünden. Beides war absolut notwendig, wenn wir zubereitet werden sollten, am Erbe der Heiligen in dem Licht teilzuhaben; und beides gibt Gott jetzt durch den Glauben jedem Gläubigen, der in dem Sohn ewiges Leben hat und durch Sein Blut die Erlösung, die Vergebung seiner Übertretungen. Nicht daß es keine neue Verantwortlichkeit gäbe, aber es ist die Verantwortlichkeit eines Kindes Gottes. Deshalb sagt Er: „Weil ich lebe, werdet auch ihr leben“ (Joh 14, 19); und vorher, daß Er Seinen Schafen ewiges Leben gibt und sie nicht verlorengehen und niemand sie aus Seiner Hand rauben wird (Joh 10, 28), ja, auch des Vaters Hand beschirmt sie (V. 29). Kann man sich eine größere und deutlichere Sicherheit vorstellen?
So haben wir nur in Christus, durch Sein Opfer und durch Seine souveräne Gabe des Lebens, den Grundsatz der beiden Bäume, und zwar in einer Fülle des Segens für alle Glaubenden; hingegen wiederholt der Ungläubige, der das Wort Gottes verachtet und bei allem Selbstvertrauen schwach und sündig ist, den Irrtum Adams und Israels zu seinem eigenen Verderben.
Als Christen haben wir den Schatz des Christus in unseren irdenen Gefäßen, und wir sind verantwortlich, allezeit das Sterben Jesu an unserem Leib umherzutragen, damit auch das Leben Jesu, die neue Natur, an unserem Leib offenbar werde.