Betrachtung über das erste Buch Samuel (Synopsis)
Einleitung
Wir haben gesehen, daß das Buch Ruth seinem Inhalt nach eine Zwischenstellung innehat zwischen dem Ende der Zeitspanne, wo Israel von Gott Selbst, der Sich von Zeit zu Zeit durch Richter einschaltete, regiert wurde, und dem Einsetzen des Königs, den Er für sie erwählt hatte. Leider endete diese Zeitspanne durch das Versagen des Volkes und durch ihre Unfähigkeit, durch den Glauben einen rechten Gebrauch von ihren Vorrechten zu machen.
Die Bücher Samuel enthalten den Bericht über das Aufhören des ursprünglichen Verhältnisses Israels mit Gott, das auf dem Gehorsam gegenüber den Bedingungen des Alten Bundes und den besonderen Vorschriften des 5. Buches Mose beruhte; über die unumschränkte Einschaltung Gottes durch die Weissagung, und über das Einsetzen des Königs, den Gott Selbst bereitet hatte, und die Umstände, die diesem Ereignis vorhergingen. Es geht nicht nur darum, daß Israel unter der Regierung Gottes versagte: sie verwarfen sie.
Dem Priestertum unterstellt nahten sie Gott im Genuß der ihnen als einem von Jehova anerkannten Volk gewährten Vorrechte. Wir werden sehen, daß die Lade - die als das nächste und das unmittelbarste, also das kostbarste Band zwischen Jehova Elohim und dem Volk war - in die Hände des Feindes fiel. Was konnte ein Priestertum, wo alles, was seinem Priestertum die Bedeutung verlieh, sich in den Händen des Feindes befand, und wenn der Platz, wo er Jehova nahte (der Thron Gottes inmitten Israels, der Platz der Versöhnung, durch den die Beziehung Israels in Barmherzigkeit, durch das gesprengte Blut aufrechterhalten wurde), nicht mehr da war?
Es war nicht bloße Untreue in den Umständen, in die Gott sie hineingestellt hatte. Durch das Gericht Gottes über Israel waren die Umstände selbst völlig verändert. Das äußere Glied der Verbindung Gottes mit dem Volk war zerrissen; die Bundeslade, der Mittelpunkt und die Grundlage ihrer Beziehung zu Ihm, war durch den Zorn Gottes in die Hände ihrer Feinde gegeben worden. Das Priestertum war das natürliche und normale Mittel, die Beziehung zwischen Gott und dem Volk aufrechtzuerhalten: wie konnte es jetzt zu diesem Zweck gebraucht werden?
Nichtsdestoweniger konnte Gott, indem Er in Seiner Unumschränktheit handelte, Sich mit Seinem Volk in Verbindung setzen, und zwar kraft Seiner Gnade und unerschütterlichen Treue, durch welche Seine Verbindung mit dem Volk Seinerseits immer noch vorhanden war, sogar als die ganze anerkannte Beziehung zwischen Ihm und ihnen durch ihre Untreue abgebrochen war. Dieses tat Er, indem Er einen Propheten erweckte. Durch diesen pflegte Gott immer noch in einer direkten Weise Umgang mit Seinem Volk, sogar als sie ihre Beziehung zu Ihm in ihrem normalen Zustand nicht aufrechterhalten hatten. Das Amt des Priesters war mit der Rechtschaffenheit dieser Beziehungen verbunden; das Volk brauchte ihn in seinen Gebrechen. Immer noch unter dem Priestertum, nahte das Volk selbst mittels des Priesters zu Gott hin, und zwar der von Gott gegründeten und von Ihm anerkannten Beziehung gemäß. Der Prophet handelte aber von seiten Gottes außerhalb dieser Beziehung, oder eher über ihr, als das Volk nicht mehr treu war.
Das Einsetzen eines Königs ging viel weiter. Es war eine neuartige Beziehung, die äußerst wichtige Grundsätze umschloß. Die Beziehung Gottes zum Volk war nicht mehr eine unmittelbare. Eine Gewalt wurde über Israel gesetzt. Gott erwartete Treue vom König. Das Los des Volkes hing von der Haltung dessen ab, der vor Jehova für das Aufrechterhalten dieser Treue verantwortlich war.
Es war der Vorsatz Gottes, diesen Grundsatz zur Herrlichkeit Christi aufzurichten. Ich rede von Seinem Königtum über die Juden und über die Nationen, über die ganze Welt. Dieses Königtum wurde in David und Salomo zuvor bildlich dargestellt. Um einen König zu bitten, indem sie Gottes eigene unmittelbare Regierung verwarfen, war Torheit und Aufruhr seitens des Volkes. Wie oft werden unsere Torheiten und unsere Fehler zum Anlaß für die Entfaltung der Gnade und Weisheit Gottes und für die Erfüllung Seiner bis dahin vor der Welt verborgenen Ratschlüsse! Allein unsere Sünden und Fehler haben zur herrlichen Erfüllung dieser Ratschlüsse in Christo geführt.
Dieses sind die wichtigen Gegenstände, von denen in den Büchern Samuel die Rede ist, jedenfalls bis zum Errichten des Königtums. Über seinen herrlichen Zustand und seinen Fall wird in den zwei Büchern der Könige berichtet.
Es ist der Fall Israels, der ihrer ersten Beziehung zu Gott ein Ende macht. Die Lade ist weggenommen; der Priester stirbt. Die Weissagung führt den König ein - einen verachteten und verworfenen König, da der Mensch einen anderen eingesetzt -, doch einen König, den Gott nach der Macht Seiner Stärke aufrichtet. Solcherart sind die großen Grundsätze, die in den Büchern Samuel entfaltet werden.
Die Geschichte zeigt uns hier wie auch überall, daß es nur den Einen gibt, der treu geblieben ist - für uns ist es ein demütigendes Ergebnis der Prüfung, der Gott uns unterzogen hat, ein Ergebnis aber, das sehr geeignet ist, uns demütig zu halten.
Wir haben vom Fall des Priestertums gesprochen; wir dürfen nicht daraus schließen, daß es aufhörte zu bestehen. Es war immer für ein Volk voller Schwachheit erforderlich (wie auch für uns auf Erden); es vermittelt in den Dingen Gottes, um unter ihnen die Beziehungen des einzelnen zu Gott aufrechtzuerhalten, es hörte aber auf, die Grundlage der Beziehung zwischen dem ganzen Volk und Gott zu sein. Das Volk war nicht mehr dazu fähig, durch dieses Mittel allein diese Beziehungen zu genießen; und das Priestertum selbst konnte nicht länger genügen, weil es so tief in seiner Stellung gefehlt hatte. Wir werden gut tun, etwas dabei zu verweilen, denn es ist der Wendepunkt der Wahrheiten, die wir erwägen.
In dem primitiven Zustand Israels und in ihrer allgemeinen Verfassung, wie sie in dem ihnen geschenkten Land angesiedelt waren, war das Priestertum die Grundlage ihrer Beziehung zu Gott; es war das, was sie kennzeichnete und sie aufrechterhielt (siehe Heb 7, 11). Der Hohepriester war ihr Haupt und ihr Vertreter, als einer Nation von Anbetern, vor Gott; und in dieser Eigenschaft (ich rede hier weder von der Erlösung aus Ägypten noch von Siegen, sondern von einem Volk vor Gott und in Beziehung zu Ihm) bekannte er ihre Sünde über dem Bock des Sündopfers am großen Sühnungstage. Es war nicht bloß Fürbitte. Er stand da als Haupt und Vertreter des Volkes, das in ihm vor Jehova zusammengefaßt war. Obwohl fehlerhaft, wurde das Volk anerkannt. Sie stellten sich in der Person des Hohenpriesters dar, auf daß sie in Verbindung seien mit einem Gott, der Sich schließlich vor ihren Augen verhüllte. Das Volk bot alles dem Priester dar; der Hohepriester stand vor Gott, Diese Beziehung schloß Unschuld nicht ein. Ein unschuldiger Mensch sollte selbst vor Gott gestanden haben. „Adam, wo bist du?“ Diese Frage bringt seinen Fall ans Licht.
Doch war das Volk nicht weggetrieben, obwohl der Vorhang zwischen ihnen und Gott war; der Hohepriester, der eins mit Ihnen war, hatte Mitgefühl mit ihren Schwachheiten, er hielt die Beziehung zu Gott aufrecht. Es ist wahr, daß sie ein sehr unvollkommenes Volk waren; jedoch durch dieses Mittel standen sie selbst in Verbindung mit dem Heiligen. Israel war aber nicht imstande, diese Stellung zu bewahren; es war nicht nur Sünde da (der Hohepriester konnte dem abhelfen), sondern sie sündigten wider Jehova, sie wandten sich von Ihm ab, und zwar sogar in ihren Führern. Das Priestertum selbst, das die Beziehung hätte bewahren sollen, bewirkte ihren Untergang dadurch, daß es Gott verunehrte und das Volk von Seiner Anbetung abstieß, anstatt sie ihnen anziehend zu machen.
Ich übergehe die vorbereitenden Umstände; sie werden an ihrem Platz eingehend erwogen werden. Gott setzt dann einen König ein, dessen Pflicht es war, Ordnung zu bewahren und die Verbindung Gottes mit dem Volke dadurch zu sichern, daß er sie regierte, und durch seine eigene Treue zu Gott. Das ist es, was Christus für sie in den kommenden Zeitaltern vollbringen wird, Er ist der Gesalbte. Wo der König eingesetzt ist, wandelt der Priester vor ihm (1.Sam 2, 35). Es ist eine neue Einrichtung, die einzige, die imstande ist, die Beziehungen des Volkes mit Gott zu bewahren. Hier ist das Priestertum nicht mehr eine unmittelbare Beziehung. In seinem Wirken sorgt es wohl für die Bedürfnisse des Volkes. Der König wacht über das Volk und sichert Ordnung und Segnung.
Jetzt ist die Stellung der Versammlung ganz anders. Der Heilige naht Gott jetzt direkt. Zusammen mit dem Priestertum, das für die Heiligen auf Erden ausgeübt wird, um sie hienieden in ihrem Wandel und in dem Genuß ihrer Vorrechte aufrechtzuerhalten, ist es mit dem Gesalbten vereint: der Vorhang ist nicht mehr vorhanden. Wir sitzen in Christo in den himmlischen Örtern, wohlangenehm gemacht in dem Geliebten. Die Gunst Gottes ruht auf uns, den Gliedern des Leibes Christi, wie auf Christo Selbst. Das, was die Heiligkeit Gottes enthüllt hat, hat die ganze Sünde des Menschen aufgedeckt, und hat sie hinweggenommen 1.
Indem wir in Christo und Glieder Seines Leibes sind, sind wir vollkommen vor Gott und vollkommen angenommen. Der Priester bemüht sich weder darum, uns diese Stellung zu geben, noch darum, die Beziehung zu Gott betreffs derer zu bewahren, die diese Stellung nicht innehaben. Das Werk Christi hat uns hineingestellt. Wie sollten man dann um Vollkommenheit Fürbitte tun? Kann die Fürbitte die Person und das Werk Christi in den Augen Gottes vollkommener machen? Gewiß nicht. Wir sind aber in Ihm. Auf welche Art wird denn dieses Priestertum für uns ausgeübt? Durch das Aufrechterhalten der der Barmherzigkeit bedürftigen Geschöpfe in ihrem Wandel und somit im Verwirklichen ihrer Beziehung mit Gott 2.
Tatsächlich geht der Christ in eine noch klarere Kundmachung Gottes und in eine absolutere Verwandtschaftsbeziehung mit Gott ein, nämlich, daß er im Licht ist, wie Gott im Licht ist. Wir sitzen mit in den himmlischen Örtern, wir sind angenehm gemacht (angenommen) in dem Geliebten, geliebt wie er geliebt wird, wir sind die Gerechtigkeit Gottes in Ihm. Er ist unser Leben: Er hat uns die Herrlichkeit gegeben, die Ihm gegeben wurde. Nun hat der Heilige Geist, der vom Himmel herniederkam, nachdem Jesus verherrlicht worden war, uns bewußt in die unverhüllte Gegenwart Gottes eingeführt. Obwohl wir dafür keine Entschuldigung haben, straucheln wir nichtsdestoweniger und verunreinigen uns hienieden. Durch die Fürsprache Dessen, der für uns vor dem Angesicht Gottes steht, werden uns die Füße gewaschen durch den Geist und das Wort, und wir werden befähigt, eine Gemeinschaft (von welcher die Finsternis nichts weiß) mit Gott in diesem Lichte zu pflegen. In der Gegenwart Jesu als König wird hiernach das Priestertum zweifellos die Verbindung des Volkes mit Gott aufrechterhalten, während Er die Last der Regierung und der Segnung für das Volk in jedem Sinne tragen wird.
Fußnoten
- 1 Ich rede hier von der Sünde Seines gläubigen Volkes.
- 2 Zwischen dem Priestertum und der Fürsprache Christi gibt es einen haarfeinen Unterschied. Das Priestertum ist in Christo, und es erscheint in der Gegenwart Gottes für uns; in bezug auf unsere Stellung vor Gott ist das aber Vollkommenheit. Deshalb bezieht es sich nicht auf die Sünde in ihrer täglichen Übung, sondern auf Barmherzigkeit und Gnade zu Hilfe in Zeiten der Not. Wir betreten freimütig das Heiligtum. Die Fürsprache betrifft die Tatsache, daß wir sündigen, weil es sich dort, wo davon die Rede ist (1. Joh 2,2), um Gemeinschaft handelt, die durch die Sünde völlig unterbrochen wird.