Betrachtung über 1. Korinther (Synopsis)
Einleitung
Der erste Brief an die Korinther bietet uns Gegenstände, die von denen, die uns in dem Brief an die Römer beschäftigt haben, sehr verschieden sind. Es handelt sich hier um sittliche Einzelheiten und um die innere Ordnung einer Versammlung (Gemeinde), hinsichtlich welcher der Geist Gottes seine Weisheit hier in unmittelbarer Weise entfaltet: Älteste oder andere Beamte der Versammlung werden nicht erwähnt. Durch die Bemühungen des Apostels Paulus war inmitten einer äußerst verderbten Bevölkerung eine zahlreiche Versammlung entstanden (denn Gott hatte ein großes Volk in dieser Stadt), da wo Reichtum und Luxus sich mit einem derartig fortgeschrittenen sittlichen Verderben verbanden, dass der Name Korinths sprichwörtlich geworden war. Zugleich suchten hier wie anderwärts falsche Lehrer (meist Juden) den Einfluss des Apostels zu untergraben; auch verfehlte der Geist der Philosophie nicht, seinen verderblichen Einfluss geltend zu machen, obwohl Korinth nicht wie Athen ein Hauptsitz derselben war.
Die Sittlichkeit inmitten der Versammlung sowie die Autorität des Apostels waren miteinander gefährdet, und der Zustand der Dinge war höchst bedenklich. Der Brief wurde von Ephesus aus geschrieben, wo die Nachricht von dem traurigen Zustand der Herde zu Korinth den Apostel fast in demselben Augenblick erreichte, als er sich entschlossen hatte, sie auf seinem Weg nach Mazedonien zu besuchen – denn seine Absicht war, über Korinth dorthin zu reisen, anstatt der Küste Kleinasiens entlang zu fahren, wie er nachher tat –, und ihnen auf dem Rückweg einen zweiten Besuch zu machen. Aber diese Nachrichten verhinderten ihn, sein Vorhaben auszuführen, und anstatt die Korinther zu besuchen, um sein Herz in ihrer Mitte auszuschütten, schrieb er ihnen von Ephesus aus den vorliegenden Brief. Der zweite Brief wurde in Mazedonien geschrieben, als Titus dem Apostel die Nachricht von dem günstigen Erfolg des ersten gebracht hatte.
Die natürliche Ordnung und Einteilung der Gegenstände dieses ersten Briefes ergibt sich sehr leicht. Bevor der Apostel die Christen zu Korinth tadelt, erkennt er zunächst die ganze Gnade an, die Gott ihnen verliehen hatte und auch fernerhin verleihen würde (1. Kor 1,1–9). Von 1. Kor 1,10 - 4,21 werden dann die Spaltungen, die verschiedenen Lehrschulen und die menschliche Weisheit besprochen, im Gegensatz zu der Offenbarung und der göttlichen Weisheit. 1. Kor 5 handelt von der Verderbtheit der Sitten und von der Ausübung der Zucht, sei es vermittels apostolischer Machtvollkommenheit oder unter der Verantwortlichkeit der Versammlung. 1. Kor 6 redet von zeitlichen Dingen und Rechtsstreitigkeiten, und dann nochmals von der Hurerei, einem Gegenstand von besonderer Wichtigkeit für die Christen zu Korinth. 1. Kor 7 beschäftigt sich mit der Ehe: soll man heiraten oder nicht? – ferner mit den Verpflichtungen der bereits Verheirateten, und mit dem Fall eines bekehrten Mannes oder einer bekehrten Frau, wenn der andere Teil nicht bekehrt war. In 1. Kor 8 beantwortet der Apostel die Frage, ob man etwas, das den Götzen dargebracht worden war, essen dürfe; in 1. Kor 9 spricht er von seinem Apostelamt. 1. Kor 10 handelt von dem Zustand der Korinther im allgemeinen, von der Gefahr, in der sie standen, verführt zu werden, sei es durch Hurerei oder durch Götzendienst und Götzenfeste sowie von den sich auf diese Fragen beziehenden Grundsätzen, wodurch der Apostel auf das Abendmahl des Herrn zu sprechen kommt. In 1. Kor 11 finden wir Fragen behandelt, die sich auf das Verhalten der Korinther in religiösen Dingen beziehen, zuerst im Blick auf den einzelnen und dann (V. 17) in der Versammlung. In 1. Kor 12 spricht der Apostel über die Ausübung der Gaben, über ihren wahren Wert und den Zweck ihrer Anwendung, indem er in 1. Kor 13 den höheren Wert der Liebe hervorhebt; bis zum Ende von 1. Kor 14 regelt er die Ausübung der Gaben, mit denen die Liebe verglichen wird. In 1. Kor 15 wird die Lehre von der Auferstehung, die einige leugneten, besonders von der Auferstehung der Heiligen, entwickelt; und in 1. Kor 16 endlich spricht Paulus, unter Beifügung einiger Grüße, von Sammlungen für die Armen in Judäa sowie von den Grundsätzen der Unterordnung unter solche, die der Herr zum Dienst erweckt hat, selbst wenn keine Ältesten vorhanden sind. Es ist von großem Wert, diese Weisungen zu besitzen, die unmittelbar vom Herrn und unabhängig von einer förmlichen Organisation gegeben sind, so dass sich das einzelne Gewissen sowohl wie die Versammlung als Leib dadurch verpflichtet fühlen sollten.
Doch ich möchte noch einige andere Bemerkungen bezüglich des Charakters und der Zusammensetzung des Briefes hinzufügen. Der Leser wird einen Unterschied zwischen der Anrede an die Korinther und derjenigen an die Epheser bemerken. Bei den Korinthern lautet dieselbe: „Der Versammlung Gottes ... samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen.“ Es handelt sich also um die bekennende Kirche, von deren Gliedern angenommen wird, dass sie treu sind (wenigstens dem Charakter nach, bis sie hinweg getan werden), und damit um einen jeden, der Jesum als Herrn anerkennt. Es ist das Haus, daher auch die Ermahnung in 1. Kor 10,1–5. Im Epheserbrief dagegen heißt es: „Den Heiligen und Treuen in Christus Jesus“, und wir finden dort die besonderen Vorrechte des Leibes Christi. Dieser Charakter des Briefes an die Korinther, als die ganze bekennende Kirche umfassend und eine örtliche Versammlung als Darstellerin derselben an diesem Ort anerkennend, verleiht dem Brief eine große Wichtigkeit. Ferner wird man, denke ich, finden, dass bis zur Mitte von 1. Kor 10 die äußere bekennende Kirche behandelt wird, und dann führt die Natur des Abendmahls des Herrn den einen Leib Christi ein, worüber in 1. Kor 12 im Hinblick auf die Gaben des Geistes gesprochen wird. Sodann redet der Apostel in den ersten Versen von 1. Kor 11 über das, was hinsichtlich der Tätigkeit der Frau geziemend ist, und von 1. Kor 11,17 an über das Verhalten bei dem Zusammenkommen in der Versammlung und beim Abendmahl des Herrn, in Verbindung mit der Regierung Gottes. Die Verse 1. Kor 11,1–16 beziehen sich nicht auf die Versammlung. Doch ist die Ordnung in der örtlichen Versammlung überall der Hauptgegenstand; nur ist von 1. Kor 1 bis 1. Kor 10,14 der Blick auf die bekennende Masse gerichtet (von der jedoch vorausgesetzt wird, dass sie treu ist, obwohl sie es möglicherweise auch nicht ist), während von 1. Kor 10,15 bis zum Ende von 1. Kor 12 der Leib Christi gesehen wird. Wenden wir uns jetzt zu dem ersten Kapitel zurück, um den Inhalt dieses Briefes im Einzelnen zu betrachten.