Betrachtung über den Propheten Jesaja (Synopsis)
Einleitung zu den Propheten
Wir betreten jetzt das Gebiet der Prophezeiung, ein weites und wichtiges Gebiet, sowohl im Blick auf die in der Prophezeiung enthaltene moralische Belehrung, als auch wegen der gewaltigen Ereignisse, welche sie voraussagt, sowie endlich, weil sie die Regierung Gottes vor unseren Augen entfaltet und uns dadurch offenbart, was Er Selbst ist. Jehova und Seine Handlungen und der Messias blicken hier überall durch. Israel bildet stets den inneren Kreis oder den eigentlichen Boden, auf welchem sich jene Handlungen entfalten und mit dem der Messias in unmittelbarer Verbindung steht. Außerhalb dieses Kreises, im Hintergrund, scharen sich die Nationen als Werkzeuge und Gegenstände der Gerichte Gottes, und schließlich als Untertanen Seiner allgemeinen Regierung dem Messias unterworfen, der jedoch Seine besondere Anwartschaft auf Israel als auf Sein eigenes Volk geltend machen wird.
Die Versammlung (Kirche) steht offenbar außerhalb dieser ganzen Szene. In ihr gibt es weder Jude noch Grieche; in ihr kennt der Vater die Gegenstände Seiner ewigen Auswahl als Seine geliebten Kinder; und Christus, droben verherrlicht, kennt sie als Seinen Leib und Seine Braut. Die Prophezeiung handelt von der Erde und von der Regierung Gottes. Wenn wir die Dinge nicht nach unserer Nichtigkeit, sondern nach dem Werte der Offenbarung Gottes messen, so wird alles, was Seine Wege und deren Entfaltung in Seiner Regierung vor unseren Augen enthüllt, einen großen Wert für uns besitzen. Die Versammlung ist zweifellos ein noch erhabenerer Gegenstand, weil Gott darin das ganze Geheimnis Seiner ewigen Liebe aufgedeckt hat. Wenn wir jedoch bedenken, daß es sich nicht bloß um den Wirkungskreis handelt, sondern vielmehr um Denjenigen, welcher darin wirkt, dann werden die Wege Gottes mit Israel und der Erde ihren wahren Wert vor unseren Augen erhalten; und diese Wege bilden den Inhalt der Prophezeiung.
Der vorliegende Abschnitt des Wortes Gottes teilt sich in zwei Unterabteilungen. Die Prophezeiungen, welche sich auf Israel während der Zeit seiner Anerkennung von Gott beziehen und folglich auch die zukünftige Herrlichkeit dieses Volkes betreffen, bilden die eine Unterabteilung. Die andere enthält die Prophezeiungen, welche verkünden, was geschieht, während Gott Sein Volk verworfen hat, und die dieses tun im Hinblick auf die endliche Segnung gerade dieses Volkes. Diese Verschiedenheit ist die Folge der Tatsache, daß der Thron Gottes, der zwischen den Cherubim thront, von Jerusalem weggenommen und die Herrschaft der Erde den Nationen übergeben wurde. Die Periode dieser Herrschaft wird „die Zeiten der Nationen“ genannt. Die erste Klasse der Prophezeiungen beschäftigt sich mit dem, was dieser Periode vorausgeht und ihr folgt, während die zweite es mit diesem Zeitabschnitt selbst zu tun hat. Es gibt einen Augenblick des Übergangs, während dessen die Wiederherstellung des Volkes in Frage kommt, wenn das Ende der Zeiten der Nationen herannaht; und dieser Augenblick tritt besonders in denjenigen Prophezeiungen hervor, welche sich auf die Periode der Herrschaft der Nationen beziehen. Indessen wird die allgemeine Geschichte dieser Periode unter verschiedenen Formen dargestellt. Der Zwischenraum zwischen der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft und der Geburt Jesu trägt ein besonderes Gepräge; denn die Herrschaft lag damals in den Händen der Nationen, und dennoch befand sich Juda in Jerusalem und erwartete den Messias. Gott begünstigte Sein Volk durch das Zeugnis von Propheten, welche diese Lage der Dinge vornehmlich im Auge hatten; ihre Namen sind Haggai, Sacharja und Maleachi. Ihre Prophezeiungen tragen demnach einen besonderen Charakter und entsprechen der Lage, in welcher sich das Volk Gottes damals befand, sowie den Wegen Gottes mit diesem Volke. Noch ein anderer Prophet nimmt einen besonderen Platz ein, nämlich Jona. Sein Zeugnis war das letzte, welches unmittelbar an die Nationen gerichtet wurde, um zu zeigen, daß Gott immer noch ihrer gedachte und alle Dinge in höchster, unumschränkter Macht lenkte, wiewohl Er Israel bereits dazu berufen hatte, ein abgesondertes Volk für Ihn zu sein.
Christus bildet den Mittelpunkt aller dieser Prophezeiungen, welchen besonderen Charakter sie auch tragen mögen; es ist der Geist Christi, der in ihnen redet. Die erste der erwähnten Unterabteilungen ist weitaus größer als die andere. Daniel ist es allein im Alten Testament, der uns die Einzelheiten der „Zeiten der Nationen“ mitteilt, einige besondere Offenbarungen in Sacharja ausgenommen. Zwischen den beiden Klassen der Prophezeiungen besteht ein sehr auffallender Unterschied: Diejenigen, welche der Zeit angehören, in der Israel noch von Gott anerkannt wird, richten sich an dieses Volk, an sein Gewissen und an sein Herz; diejenigen aber, welche die Geschichte der Zeiten der Nationen mitteilen, werden, wiewohl sie eine Offenbarung für das Volk sind, dennoch nicht an dieses gerichtet. In den Büchern der drei Propheten, die nach der Gefangenschaft prophezeiten, wird nirgendwo weder Israel noch Juda das Volk Gottes genannt, außer in Verheißungen für die Zukunft, wenn der Messias die Segnung wieder einführen wird.
Endlich ist noch eines Grundsatzes zu gedenken, der einfach, aber zum Verständnis der Propheten von Wichtigkeit ist. Was für Bilder der Geist Gottes auch gebrauchen mag, um die Wege Gottes oder die Wege des Feindes zu kennzeichnen, so ist doch der Gegenstand der Prophezeiung niemals ein bloßes Bild. Ich meine natürlich nicht solche Prophezeiungen, in welchen alles symbolisch ist. Übrigens ist ein Symbol keineswegs dasselbe wie ein Bild. Ein Symbol oder Sinnbild ist eine Vereinigung der moralischen oder historischen Eigenschaften (oder auch beider zugleich) des prophetischen Gegenstandes, welche bezweckt, uns Gottes Gedanken über denselben vor Augen zu führen. Einige der Einzelheiten, aus denen das Symbol besteht, mögen wohl Bilder sein; das Symbol selbst aber ist genau genommen nicht ein Bild, sondern ein treffendes Ganzes, welches aus den verschiedenen Eigenschaften, die moralisch den beschriebenen Gegenstand ausmachen, zusammengesetzt ist. Deshalb gibt es nichts Lehrreicheres als ein wohlverstandenes Symbol. Es ist der vollkommene Begriff, den Gott uns von der Art und Weise gibt, wie Er den durch das Symbol vorgestellten Gegenstand betrachtet – Gottes Ansicht über den moralischen Charakter dieses Gegenstandes. Gehen wir jetzt zu den Schriften der einzelnen Propheten über.