Betrachtung über das Buch Prediger (Synopsis)
Kapitel 1-12
Das Buch des Predigers ist bis zu einem gewissen Punkt das Gegenstück zu dem Buch der Sprüche 1. Es gibt die Erfahrung eines Menschen wieder, der die nötige Weisheit besitzt, um alles beurteilen zu können, und nun jedes Ding unter der Sonne, das man für geeignet halten könnte, den Menschen glücklich zu machen, prüft, indem er alles das genießt, was menschliche Fähigkeiten als ein Mittel zur Freude darzubieten vermögen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist die Entdeckung, dass alles „Eitelkeit und ein Haschen nach Wind“ ist; dass jede Anstrengung, im Besitz der Erde (wie dieser Besitz auch geartet sein mag) glücklich zu sein, in nichts endet. Ein Krebsgeschwür, ein nagender Wurm ist an der Wurzel. Und je größer die Fähigkeit zum Genießen ist, desto tiefer und ausgiebiger ist die Erfahrung der Enttäuschung und des Haschens nach Wind. Vergnügen befriedigt nicht; und selbst der Gedanke, sich durch einen außergewöhnlichen Grad von Gerechtigkeit in dieser Welt Glück zu verschaffen, erweist sich als unausführbar. Das Böse ist vorhanden, und die Regierung Gottes in einer Welt wie diese wird nicht zu dem Zweck ausgeübt, um den Menschen hienieden Glückseligkeit zu verschaffen – eine Glückseligkeit, die aus den Dingen hienieden geschöpft wird und auf deren Beständigkeit beruht; obwohl diese Regierung gewöhnlich diejenigen beschützt, die mit Gott wandeln, denn: „Wer ist, der euch Böses tun wird, wenn ihr Nachahmer des Guten geworden seid?“ (
Was die Dinge um uns her betrifft, so gibt es nichts Besseres, als das zu genießen, was Gott uns gegeben hat; und als „Endergebnis des Ganzen“ ist die Furcht des HERRN, für den ganzen Menschen, die Richtschnur für seinen Wandel auf Erden. seine Fähigkeiten noch die Befriedigung seines eigenen Willens machen ihn glücklich, selbst wenn ihm die ganze Welt zur Verfügung steht. „Denn was wird der Mensch tun, der nach dem König kommen wird?“ Dem Menschen gelingt es nicht, sich Freude zu verschaffen, und dauernde Freude ist nirgends für ihn zu finden. Wenn es daher irgendeine Freude für ihn gibt, so ist das Gefühl damit verbunden, dass sie nicht festgehalten werden kann.
Die sittliche Belehrung dieses Buches geht selbst über die der Sprüche hinaus – wenigstens nach einer Seite hin; denn wir dürfen nicht vergessen, dass es sich hier um diese Welt handelt (unter der Sonne). Weisheit nützt nicht mehr als Torheit. Ist auch der Unterschied zwischen ihnen so groß wie der zwischen Licht und Finsternis, dennoch widerfährt ein Geschick allen Menschen, und vieles Nachdenken führt nur dazu, das Leben zu hassen. Das Herz wird des Forschens müde, und schließlich stirbt der eine wie der andere. Die Welt, als System betrachtet, ist eine Ruine, und der Tod durchschneidet den Faden aller Gedanken und Pläne und hebt jede Verbindung auf zwischen dem geschicktesten Arbeiter und der Frucht seiner Arbeiten. Was für Nutzen ist ihm geworden? Alles hat eine bestimmte Zeit, und der Mensch muss alles zur rechten Zeit tun und das genießen, was Gott ihm auf seinem Weg darreicht. Aber Gott ist in seinen Werken immer Derselbe, damit die Menschen sich vor Ihm fürchten. Der Prediger weiß, dass Gott den Gerechten und den Gesetzlosen richten wird, doch so weit die Kenntnis des Menschen reicht, stirbt er, wie das Tier stirbt; und wer kann sagen, was nachher aus ihm wird? Es handelt sich in unserem Buch nicht um die Offenbarung der zukünftigen Welt, sondern um Erfahrungsschlüsse, die aus dem, was in dieser Welt vorgeht, gezogen werden. Die Erkenntnis Gottes lehrt, dass es ein Gericht gibt; für den Menschen ist jenseits des gegenwärtigen Lebens alles dunkel.
Das 4. Kapitel gibt dem tiefen Kummer Ausdruck, der hervorgerufen wird durch die schreiende Ungerechtigkeit einer sündigen Welt und durch das viele, nie wieder gut gemachte Unrecht, wovon die Geschichte unseres Geschlechts voll ist, und das in der Tat die Geschichte des Menschen für jeden, der ein natürliches Gerechtigkeitsgefühl besitzt, unerträglich macht und den Wunsch in ihm wachruft: Ach, wenn nur alles zu Ende wäre! Arbeit und Trägheit tragen gleicherweise ihr Teil zu dem Elend bei. Dennoch sehen wir, wie inmitten dieses Triebsandes, in dem der Fuß keinen Halt finden kann, der Gedanke an Gott aufsteigt und dem Herzen und Sinn eine feste Grundlage gibt. Das geschieht im Anfang des 5. Kapitels. Gott fordert Achtung von dem Menschen. Die Torheit des Herzens ist in Seiner Gegenwart wirklich Torheit. Von hier ab finden wir im weiteren Verlauf dieses Buches, dass das, was die eitle Hoffnung auf irdische Glückseligkeit wegnimmt, dem Herzen eine wahre Freude gibt, indem es weise und darum, in Absonderung von der Welt, glücklich wird. Infolgedessen ist auch die Gnade der Geduld vorhanden. Die selbstgenügsame Anstrengung, gerecht zu sein, endet nur in Beschämung; Tätigkeit im Bösen endet im Tod. Schließlich ist das Streben, durch die Erkenntnis der Dinge hienieden Weisheit zu erlangen, vergebliche Mühe. Der Prediger hat zweierlei gefunden: zunächst in Bezug auf die Frau, beurteilt nach der Erfahrung der Welt, hat er keine gute gefunden, unter den Männern einen aus Tausenden; und um es mit einem Wort auszudrücken: Gott hat den Menschen aufrichtig geschaffen, der Mensch aber, getrennt von Gott, hat viele Ränke gesucht (Kap. 7).
Gott muss geehrt werden, und auch der König, dem Gott Macht gegeben hat. Im 9. und, 10. Kapitel sehen wir auch, wie wenig alles hier der scheinbaren Fassungskraft des Menschen entspricht, und wie wenig diese Fassungskraft, selbst wenn sie eine wirkliche ist, geachtet wird. Trotzdem hat die Weisheit des Aufrichtigen und die Torheit des Törichten jede ihre eigenen Folgen, und schließlich ist es Gott, der richtet. Fasst man alles zusammen, so ergibt sich, dass man Gottes eingedenk sein muss, und zwar bevor Schwachheit und Alter über uns kommen. Denn das offenbare Endergebnis alles Gesagten ist. „Fürchte Gott und halte seine Gebote, denn das ist der ganze Mensch“ (Kap. 12, 13).
Der Hauptgegenstand dieses Buches ist also die Torheit aller Anstrengungen des Menschen, das Glück hienieden zu suchen, sowie die Erfahrung, dass die Weisheit, die alle diese Dinge zu beurteilen vermag, den Menschen nur noch unglücklicher macht. Schließlich stellt der Prediger, der seinerseits die höchste Fassungskraft besaß, diese seine Erfahrung dem einfachen Grundsatz aller wahren Weisheit gegenüber. Unterwerfung unter Gott und Gehorsam gegen Ihn, der alles kennt und alles regiert, weil „Gott jedes Werk ins Gericht bringen wird“.
Wenn wir im Auge behalten, dass uns dieses Buch die Erfahrung des Menschen und seine Überlegungen bezüglich alles dessen wiedergibt, was unter der Sonne geschieht, so gibt es keine Schwierigkeit in solchen Stellen, die scheinbar Unglauben in sich bergen. Die Erfahrung des Menschen ist notwendigerweise ungläubig. Er bekennt seine Unwissenheit; denn von dem, was jenseits des Sichtbaren liegt, kann die Erfahrung nichts wissen. Aber die Lösung aller sittlichen Fragen liegt über dem Sichtbaren und jenseits desselben. Das Buch des Predigers macht dies offenbar. Die einzige Lebensregel besteht daher darin, Gott zu fürchten, der über unser Leben verfügt, der jedes Werk während all der Tage unseres eitlen Lebens beurteilt und richtet. In diesem Buch handelt es sich also keineswegs um Gnade oder um Erlösung, sondern ausschließlich um die Erfahrungen des gegenwärtigen Lebens und um das, was Gott betreffs desselben gesagt hat, um sein Gesetz, seine Gebote und das kommende Gericht, kurz um das, was dem Menschen verordnet ist.
Ein unter dem Gesetz stehender Jude konnte so reden, nachdem er alles erprobt hatte, was Gott dem Menschen in dieser Stellung an Gunsterweisungen zuwenden konnte, zugleich auch im Hinblick auf das damit verbundene Gericht Gottes.
In den Sprüchen haben wir eine praktische sittliche Leitung für unseren Weg durch diese Welt; im Prediger das Ergebnis aller Anstrengungen, die der Wille des Menschen machen kann, um Glückseligkeit zu finden, wobei ihm alle nur denkbaren Mittel zur Verfügung stehen. Doch in dem ganzen Buch ist weder von einer Bundesbeziehung die Rede, noch gibt es eine Offenbarung. Der Mensch steht vor uns mit seinen natürlichen Fähigkeiten und so, wie er ist, zwar sich selbst bewusst, dass er es mit Gott zu tun hat, aber nach seinen eigenen Gedanken das Glück suchend, wo es zu finden sei. Indes ist das Gewissen nicht unbeteiligt, und am Schluss des Buches wird die Furcht Gottes anerkannt. Obwohl also Gott bestimmt anerkannt wird, haben wir doch den Menschen in der Welt vor uns mit der völligen Erfahrung alles dessen, was in ihr ist.
Fußnoten
- 1 So übersetzen Luther und andere; in Wirklichkeit steht „der HERR“ im Text. Ich möchte aber hier den Titel „Herr“ lassen wegen seiner allgemeinen Anwendbarkeit. in Israel und in den Wegen der göttlichen Regierung ist der Name Gottes fast immer der HERR. Nur in einigen wenigen Fällen steht Adonai = Herr, in dem eigentlichen Sinn dieses Wortes. Zu beachten ist jedoch, dass in den Sprüchen stets der Name „der HERR“ gebraucht wird, weil sie mit Autorität solche unterweisen, die in einer genannten Beziehung zu Gott stehen. Im „Prediger“ ist das nicht der Fall. Dort haben wir „Gott“ im Gegensatz zu dem Menschen, der als solcher seine eigenen Erfahrungen auf der Erde macht. Der Name „Gott“, in abstraktem Sinn gebraucht, kommt in den Sprüchen nur einmal vor (Spr 25,2); und einmal (Spr 2,17) heißt es „ihr Gott“.
- 2 Die Briefe Petri beschäftigen sich, nachdem sie die Grundlage der Erlösung und der Wiedergeburt dargestellt haben, mit der Regierung Gottes, und zwar der erste mit der Anwendung derselben auf die Heiligen, der zweite mit ihrer Beziehung zur Welt und dem Bösen hienieden; daher geht er auch bis zu dem neuen Himmel und der neuen Erde.