Die Darstellung der Einheit
Manche Gläubige betrachten das Zusammenkommen nur von der Seite des Menschen. Sie sehen als Zweck des Zusammenkommens an, daß sie durch das Wort Gottes einen Segen empfangen. Das Verlangen, durch Gottes Wort erbaut, erquickt und belehrt zu werden, wirkt der Geist Gottes in dem Herzen eines jeden Christen. Sollte Er dies von Ihm selbst gewirkte Begehren nicht stillen? Ganz gewiß! Viele Gläubige mögen sich mit diesem Anlaß begnügen, das Zusammenkommen von Christen zu besuchen, und sie werden dann sicher einen Segen empfangen. Betrachtet man die Frage des Zusammenkommens nur von dieser Seite - was man jedoch nie tun sollte -, so wäre es allerdings von untergeordneter Bedeutung, wo man unter den Schall des Wortes kommt, wenn es nur lauter und rein verkündigt wird.
Allein, es steht noch etwas anderes, sehr wichtiges mit dem Zusammenkommen in Verbindung: man gibt der Zugehörigkeit zu irgendeiner Körperschaft von Christen Ausdruck, denn die betreffenden Christen versammeln sich auf einem bestimmten Boden, auf einer festgelegten Grundlage. Dabei haben es die Christen an der nötigen Sorgfalt und dem Gehorsam gegen Gottes Wort fehlen lassen, so daß eine große Anzahl von Gemeinschaften und Kirchen entstanden ist.
Nun ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß die Heilige Schrift nur eine Körperschaft auf christlichem Boden kennt, die Versammlung oder Gemeinde, welche durch den Heiligen Geist am Pfingsttage ins Leben gerufen worden ist „Da ist ein Leib und ein Geist“ (Eph 4,4)“ denn auch in einem Geiste sind wir alle zu einem Leibe getauft worden, es seien Juden oder Griechen, es seien Sklaven oder Freie, und sind alle mit einem Geiste getränkt worden“ (1. Kor. 12,13).
Diese überaus wichtige Wahrheit von der Einheit des Leibes, der Einheit aller Kinder Gottes, ist sehr einleuchtend. Warum sollten die, welche durch denselben Erlöser vom ewigen Verderben errettet wurden, die denselben Heiligen Geist empfangen haben und den einen Gott als ihren Vater anrufen, die sich auf dasselbe Wort stützen und demselben Ziele, der himmlischen Herrlichkeit entgegeneilen, nicht eins sein? Es wäre ganz unnatürlich und unverständlich, wenn es anders wäre.
Das erste Mal wird die Versammlung im Neuen Testament in Matthäus 16 erwähnt. Der Herr Jesus selbst sagt: „...auf diesen Felsen werde ich meine Versammlung bauen“ (V. 18); sie war damals also noch zukünftig, der Herr teilt aber Seine Absicht den Jüngern mit. Daß die Versammlung oder Gemeinde - wie man sagt, ist nicht so wichtig, aber wichtig ist, daß man mit dem Wort den richtigen Gedanken verbindet -, diese mit Ihm so innig verbundene Körperschaft, der Leib Christi ist, geht eindeutig aus Kolosser 1, 18 hervor: „... und er ist das Haupt des Leibes, der Versammlung“, oder auch aus Epheser 1, 22. 23: „...Gott hat ihn als Haupt über alles der Versammlung gegeben, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“ Die Versammlung ist also der Leib Christi, und Er ist das Haupt dieses Leibes, Er regiert ihn. Aus der letztgenannten Stelle geht noch der überwältigende Gedanke hervor, daß dieser Leib die Fülle, d. h. die Vervollständigung des Hauptes ist.
Es ist klar, daß es bei Kenntnis der obigen Wahrheit nicht nur darauf ankommt, daß das Wort Gottes lauter verkündigt und mit willigem Herzen aufgenommen wird, sondern daß durch die Art und Weise des Zusammenkommens auch die Wahrheit von der einen Versammlung, von dem einen Leibe und seinem himmlischen Haupte, nicht verleugnet wird. Da die Kinder Gottes auf der Erde eins sind, ist es hiermit unvereinbar, wenn sie sich besondere und unterschiedliche Namen geben. Die Einheit des Leibes wird durch Aufstellen von Satzungen oder Statuten oder durch unterscheidende Namen praktisch geleugnet. Hierdurch trennen sich solche praktisch von den übrigen Christen, die den betreffenden Namen oder die jeweilige Gemeindeordnung nicht anerkennen können. Dabei ist es ein Widerspruch in sich, wenn man die Einheit der Kinder Gottes als solche anerkennt und trotzdem in bestimmten christlichen Benennungen und Systemen verharrt. Denn nicht was man sagt, sondern was man tut ist maßgebend. Niemand beurteilt einen Menschen nach seinen vielleicht schönen Worten, sondern allein nach seinen Taten, und das ist auch ganz in Ordnung. Der Herr selbst sagt: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“ Es ist daher gänzlich wertlos, mit dem Munde das Einssein aller Gläubigen anzuerkennen, während man sich mit anderen auf dem Boden einer christlichen Vereinigung mit besonderem Namen versammelt. Wer so handelt, widerspricht seinem Bekenntnis.
So verurteilt auch der Geist Gottes bei den Korinthern, daß ein jeder von ihnen sagte: „Ich bin des Paulus, ich aber des Apollos, ich aber des Kephas, ich aber Christi.“ Ganz genauso läuft es den Belehrungen der Schrift zuwider, wenn man sich heute etwa nach diesem oder jenem Manne nennt, den Gott, wie einst Paulus und Apollos, als Werkzeug benutzte.
Die Wahrheit von dem einen Leibe zeigt uns auch, daß alle seine Glieder innig miteinander verbunden sind, und zwar so, daß diese Verbindung nicht inniger sein könnte, als sie es tatsächlich ist. Will man dazu noch andere Verbindungen einführen, so gibt man dadurch zu erkennen, daß die durch den Geist Gottes bewirkte Einheit nicht genügt. Welchen Zweck kann es haben, daß Gotteskinder miteinander Bündnisse schließen? Würde man die verschiedenen Glieder eines menschlichen Leibes noch durch weitere Bande miteinander verbinden, so würde der Zusammenhang der Glieder untereinander keineswegs inniger geworden sein, sondern sie würden lediglich in ihrer Bewegungsfreiheit gehemmt werden. Diese Bande sind also nicht nur unnötig, sondern sogar schädlich, und geradeso ist es an dem geistlichen Leibe.
Was haben wir nun angesichts der Zerrissenheit des Volkes Gottes in unseren Tagen zu tun? Sollen wir die Kinder Gottes soviel als möglich zusammenzuschließen suchen, mit anderen Worten: sollten wir die „Einheit“ herbeizuführen trachten? Sobald wir dies tun, erklären wir die Einheit des Geistes, d. h. die Einheit, die der Heilige Geist herbeigeführt hat, als nicht bestehend.
Wir sehen aber in der Schrift, daß Gott niemals Seine Gedanken aufgibt noch von Seinen Absichten abläßt. Wenn heute eine Seele durch den Glauben an das Erlösungswerk Christi in irgend einer christlichen Benennung wiedergeboren wird, zu welcher Körperschaft fügt der Geist Gottes sie hinzu? Zu der Körperschaft der betreffenden Benennung? Keinesfalls, denn sonst würde Er diese Körperschaft als zu Recht bestehend im Gegensatz zu anderen anerkennen. Vielmehr fügt der Geist Gottes diese Seele der einen Körperschaft hinzu, die Er selbst am Pfingsttage gegründet hat, nämlich der Versammlung des lebendigen Gottes. Eine andere Körperschaft kennt Er nicht, und wir sollten auch keine andere kennen, d. h. anerkennen. Die Einheit können wir nicht herbeiführen, sondern sollen sie bewahren, wie geschrieben steht:“... euch befleißigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Bande des Friedens“ (Eph. 4, 3).
Die wahren Christen sind also gehalten, die schon bestehende Einheit des Heiligen Geistes zu bewahren und nicht an ihre Stelle ein menschliches Machwerk zu setzen. „Bewahren“ bedeutet, sich so zu versammeln und zu verhalten, daß man alles fernhält, was die Einheit des Geistes praktisch leugnet oder aufhebt; und das setzt voraus, daß man - und dies gehört auch zu dem Bewahren - die Lehre von dieser Einheit allein anerkennt und festhält. Trotz des Verfalls inmitten der Christenheit, der vielen Richtungen und Parteiungen, sieht der Heilige Geist alle Wiedergeborenen in einer Körperschaft, dem Leibe Christi, vereinigt und durch das Band der Liebe miteinander verbunden. Ja, sie sind alle mit einem Geiste getränkt worden. Der Glaube stellt sich auf denselben Boden, und tut ein Christ dies nicht, so geht er einen eigenwilligen Weg, was das Zeugnis Gottes in den Tagen des Verfalls betrifft.
Der einzelne kann auch in diesen dunklen Tagen mit anderen, die auf gleichem Boden stehen, die sich allein zu dem Namen des Herrn Jesus hin versammeln, die Darstellung des einen Leibes, der Versammlung Gottes, verwirklichen. Er kann in Treue an dem ganzen Worte Gottes festhalten, sowohl bezüglich der Lehren über die Versammlung und ihr Zeugnis auf Erden als auch der Leitung und Wirkung des Geistes in der Mitte der Heiligen und der Benutzung der von Ihm geschenkten Gaben. Der einzelne kann für das Evangelium beten und mithelfen, soweit ihm Gott Gelegenheit gibt; er kann seinen Platz in der Familie und auch im Berufsleben nach den Gedanken Gottes einnehmen, und so wird er ein Licht sein zum Preise und zur Verherrlichung Seines Herrn. Es ist überaus wichtig und gesegnet, die Versammlung, die der Gegenstand Seiner innigsten Zuneigung und höchsten Segnung ist, in den Tagen der Verwirrung und des Niedergangs mit Seinen Augen zu betrachten und mit Gleichgesinnten darzustellen.
Es ist für uns sehr ermunternd zu sehen, daß auch die Gläubigen im Alten Testament den Gedanken der Einheit des Volkes Israel festhielten, obgleich sie keine Ermahnung wie wir besaßen, „die Einheit zu bewahren“. Das zwölfstämmige Volk Israel bildete unter David und Salomo ein Reich, wurde aber nach dem Tode Salomos in ein Zehnstämmereich (Israel) unter der Führung Jerobeams und ein Zweistämmereich (Juda) unter der Herrschaft Rehabeams geteilt. Der Prophet Elia baute einen Altar von zwölf Steinen, er dachte im Glauben an alle zwölf Stämme, obgleich nur zehn Stämme anwesend waren. Es heißt in 1. Könige 18,31: „Und Elia nahm zwölf Steine nach der Zahl der Stämme der Söhne Jakobs. „Den gleichen Glauben sehen wir auch bei Jehiskia, dem König von Juda, dem Zweistämmereich; auch er dachte an ganz Israel, denn er ließ einen Ruf ergehen “durch ganz Israel, von Beerseba bis Dan, daß sie kämen, um Jehova, dem Gott Israels, Passah zu feiern in Jerusalem“. “Und die Läufer gingen mit den Briefen von der Hand des Königs und seiner Obersten durch ganz Israel und Juda“ (2. Chron. 30, 5. 6).
In späteren Tagen sehen wir bei dem aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Überrest den gleichen Grundsatz. Obgleich nur zwei Stämme im Lande waren, heißt es von ihnen in Esra 6,17: „Und sie brachten dar zur Einweihung dieses Hauses Gottes hundert Stiere, zweihundert Widder, vierhundert Lämmer; und zum Sündopfer für ganz Israel zwölf Ziegenböcke, nach der Zahl der Stämme Israels.“ Bald danach brachten die Kinder der Wegführung „dem Gott Israels Brandopfer dar: zwölf Farren für ganz Israel...“ (Kap. 8, 35).
Wenn wir in diesen Begebenheiten sehen, daß die gläubigen Israeliten an das ganze zwölfstämmige Volk dachten, obgleich nur ein Teil anwesend war, und wir die Christenheit oder genauer die wiedergeborenen Christen mit ihnen vergleichen, so haben sie alle Ursache, sich zu schämen. Wie viele oder wie wenige denken in Wirklichkeit an das ganze Volk Gottes und nicht nur an den Teil, dem sie, unter einem besonderen Namen vielleicht, angehören! Und haben nicht die, die sich abgesondert von menschlichen Systemen allein zu dem Namen des Herrn versammeln, auch Ursache, bei der Anbetung mehr als bisher der Einheit des Volkes Gottes, dargestellt in dem einen Brote, zu gedenken? Mögen sie alle mit Freuden daran denken, daß sie der erhabenen Feier des Mahles des Herrn auf dem Boden der Einheit des Geistes beiwohnen dürfen! Es ist die Seite des Tisches des Herrn, die nie dort zum Ausdruck kommen kann, wo man sich zu einer Benennung vereinigt hat.
Es werden in den Tagen des Verfalls nur wenige sein, die die Einheit des Geistes bewahren wollen, die meisten der übrigen sind gleichgültig gegenüber dieser so wichtigen Wahrheit. Da meist noch andere Christen am Orte sind, so mögen es nur wenige sein, die zu dem Namen des Herrn Jesus hin zusammenkommen. Der Herr Jesus nennt die kleinsten Zahlen der Gemeinschaft, zwei oder drei, in deren Mitte zu sein Er nicht verschmäht. Diese wenigen allein um den Herrn Jesus Versammelten bilden zwar nicht die Versammlung Gottes an dem betreffenden Orte - denn dazu gehören alle dort befindlichen Gläubigen -, aber sie stellen die Versammlung dar. Es ist also ein erhabener Platz, den „das zählbare Häuflein“ einnimmt: Der Herr Jesus ist in ihrer Mitte. Ihr Zusammenkommen erhält Autorität durch Seine Gegenwart, aber daraus ergibt sich auch ihre Verantwortung, nämlich nur das zu tun, was Seinem Willen entspricht.
Welche Wichtigkeit hat doch selbst eine kleine Versammlung, wenn sie jemanden zur Gemeinschaft am Tische des Herrn zuläßt oder jemanden davon ausschließt, denn ihre Handlung hat Gültigkeit für alle Versammlungen der ganzen Erde! Deshalb müssen die Brüder geistlich sein, damit sie vorkommende Angelegenheiten auch geistlich, d. h. nach den Gedanken des Herrn beurteilen können. Welch ernste Mahnung für alle Brüder, die das hohe Vorrecht haben, an dem genannten Dienst teilhaben zu dürfen! Mögen sie alle in wahrhaft geistlicher Gesinnung vorangehen, indem sie ihre Beurteilung zunächst bei sich selbst und dann bei ihrem Hause und dann erst darüber hinaus wirken lassen!
Es möge uns allen ernst sein im Blick auf die Einheit der Kinder Gottes, sie als Kostbarkeit im Herzen zu bewahren und im praktischen Leben zu verwirklichen!