Betrachtung über das Buch Hiob (Synopsis)
Einleitung
Die „Chetubim“ oder „Hagiographa“, in die ich jetzt Daniel nicht einschließe (obwohl sich der Charakter seines Buches von den anderen Propheten unterscheidet), bilden einen durchaus unterschiedlichen und sehr interessanten Teil der göttlichen Offenbarung. Keines von ihnen setzt eine vollbrachte und erkannte Erlösung im neutestamentlichen Sinn des Wortes voraus, obwohl sich, alles wie auch jede Segnung auf sie gründet. Bei Hiob gibt eine einzige Stelle diesem Ausspruch eine besondere Anwendung: „ich habe eine Sühnung (ein Lösegeld) gefunden“ (copher). Wir wissen, dass die Psalmen prophetisch von dem Leid und den Leiden reden, unter denen sie vollbracht wurde.
Die Erlösung aber, wenn sie vollbracht ist, wird durch Glauben erkannt, seien es Juden oder Christen. Jesaja prophezeit, dass Israel sie völlig erkennen wird. Wie wir wissen, wird sie schon unter Gesetz vorgeschattet. Aber die Erkenntnis der ewigen Erlösung ist eine christliche Erkenntnis, oder die der Juden, wenn sie auf Den, den sie durchbohrt haben, blicken werden. Bis zum Tode Christi war der Vorhang unzerrissen, war das Heiligtum unzugänglich. Es bestand eine mehr oder weniger klare Erkenntnis eines Erlösers – eines persönlichen Erlösers, der kommen sollte; eine Erkenntnis der Gunst Gottes denen gegenüber, die mit Ihm wandelten, und der Zuversicht des Glaubens an Ihn und an seine Verheißungen. Es gab aber keine solche Erkenntnis der Sünde, die, wenn Gott offenbart wurde, zu dem Bewusstsein eines Ausschließens aus seiner Gegenwart als eines gegenwärtigen Zustandes führte, noch eine Erkenntnis, dass die Sünde hinweggetan und wir durch seine Wirksamkeit völlig und für immer versöhnt und zu Ihm gebracht werden würden.
Die Bücher, von denen wir hier reden, sind keine Weissagungen über die Handlungsweise oder die Taten Gottes, außer dass die Psalmen die zukünftige Befreiung durch Macht und durch Gottes Gerichte zum Ausdruck bringen; sie sind aber der von Gott gegebene Ausdruck der Gedanken und der Empfindungen des Menschen unter der Regierung Gottes 1. Diese Bücher sind auch die erklärende Offenbarung Gottes, bevor die Erlösung völlig erkannt wird. Dieser Vorgang hat sich hauptsächlich in Israel abgespielt, und deshalb sind diese Bücher hauptsächlich der mannigfaltige Ausdruck der Wege Gottes mit Israel. Doch war das, was dort unter geoffenbarten Zuständen und prophetischen Mitteilungen in direkter Regierung ausgeführt wurde, grundsätzlich wahr in Bezug auf alle Wege Gottes überall, obwohl sie dort besonders entfaltet wurden (denn dort wurde auch die Frage der positiven Gerechtigkeit des Menschen durch das Gesetz, die vollkommene Lebensregel für die Söhne Adams, erhoben).
Das Buch Hiob bietet uns ein Beispiel der Beziehungen eines gottesfürchtigen Menschen (außerhalb Israels und zweifellos vor Israel) mit Gott, und wie Gott in dieser Welt des Bösen mit den Menschen zum Wohl verfährt; ich zweifle aber nicht daran, dass es schließlich in ein klares Vorbild von Israel einmündet. Jene Wege werden in jenem Volk völlig entfaltet. Es muss auch bemerkt werden, dass, als Hiob praktisch empfindet, dass der Mensch unmöglich vor Gott gerecht sein kann, er sich über Furcht beklagt und darüber, dass er keinen Schiedsmann zwischen ihnen hatte. Elihu aber, der an Gottes Statt diesen Boden einnimmt, erklärt nicht die Erlösung, sondern Züchtigung und Regierung. Dies alles tut Gott oftmals mit dem Menschen (Kap.Hiob 33, 29).
Das Buch des Predigers betrachtet diese Welt unter derselben Regierung und in ihrem gegenwärtigen gefallenen Zustande, und es erhebt die Frage, ob der Mensch dort auf irgendeine Weise Glück und Ruhe finden kann ohne jegliche Erkenntnis der Erlösung. Es ist dort auch keine anerkannte Beziehung zu Gott. Es heißt immer Elohim (Gott), niemals der HERR; die Furcht Gottes und das Halten seiner Gebote war die ganze Pflicht des Menschen als solchem.
Das Lied Salomos gibt die direkte Beziehung zum Herrn, dem Sohn Davids, die inbrünstige Liebe, die zur Beziehung zu Christo gehört; das Buch der Sprüche gewährt eine Führung durch den gemischten und verworrenen Schauplatz; hier steht alles auf dem Boden der Beziehung zu Jehova; Gott (Elohim) wird nur ein- oder zweimal in einer Weise erwähnt, die das nicht beeinträchtigt (siehe unten: Anmerkung 3). Keiner stellt sich aber auf den Boden der erkannten Erlösung. Sie erwarten die Erlösung durch Macht. Deshalb beginnt der Römerbrief mit der Offenbarung des Zornes vom Himmel her (nicht der Regierung) über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit dort, wo die Wahrheit war, über Griechen und Juden, und führt Erlösung, persönliche Rechtfertigung und Gerechtigkeit, Gottes Gerechtigkeit, ein 2. Der Fall des Griechen und des Juden wird völlig untersucht, und wird vor Gott selbst ans Licht gebracht, und Zorn vom Himmel her ist die notwendige Folge: für den Himmel die vollständige Erlösung durch Blut, und unumschränkte Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht, gibt uns einen Platz bei dem zweiten Adam, dem Herrn aus dem Himmel, mitsamt dem späteren Ergebnis für Israel. Alles wird im Licht geklärt, wie Gott im Licht ist – Seine ewige Erlösung und die himmlischen Örter, obwohl die Erde schließlich gesegnet werden wird. Wir aber sind hier Pilger und Fremdlinge. Dies ist schon unser Platz durch die Erlösung. Bei Männern wie Abraham und David war es so, dass sie nichts von dem Verheißenen empfingen, oder aber sie wurden unter der Regierung Gottes auf Erden verfolgt. Unter jener Ordnung der Dinge war es also für beide ein Rätsel, obwohl das schließliche Ererben des Landes, der Erbe und das Gericht des Bösen, was ihnen alles durch Offenbarung bekannt war, diese Rätsel in ihren Gedanken lösten.
Aber in dem Buch Hiob, den Psalmen und dem Buch des Predigers, die die Empfindungen der Menschen unter dieser Ordnung der Dinge zum Ausdruck bringen, wird diese Verwirrung ganz offenkundig. Der Glaube und das Gottvertrauen mögen darüber hinwegkommen, oder sie mögen durch alles hindurch ausharren; prophetische Zeugnisse mögen sie klären; sie ist aber da, und diese Erde ist der Schauplatz der Antwort Gottes, selbst wenn ihr Glaube manchmal gezwungen war, sich über sie zu erheben, genährt durch persönliches Gottvertrauen. Eine gegenwärtige feste, ewige Beziehung aber mit Gott dem Vater auf einem gänzlich neuen Schauplatz, auf den wir durch die Erlösung, durch jenes kostbare Blut gebracht worden sind, dessen Vergießen Gott selbst verherrlicht und uns mit Ihm versöhnt hat, obwohl wir noch im unerlösten Leib sind – das war unbekannt. Vieles wurde gelernt, gelernt in Bezug auf Gott, und dies war überaus wertvoll. Das tatsächliche Ergebnis für Hiob war aber mehr Kamele und Schafe und hübschere Töchter. Das Ergebnis in den Psalmen war das Gericht über die Feinde und Befreiung durch eine immerwährende Güte, wie auch eine unter der richterlichen Regierung des Himmels befreite Erde. Im Buch des Predigers geht es um die Wahrnehmung der gegenwärtigen Wirkung der Regierung – dass der Mensch Gott fürchten und seine Gebote halten und die Sache dabei beruhen lassen muss. Gegenwärtig erkannte Erlösung wird nirgends gefunden. Was für einen unbegrenzten Unterschied macht das aus! „Gleichwie er ist, sind auch wir in dieser Welt“. Der, der uns erlöst hat, ist zu seinem Vater und unserem Vater gegangen, zu seinem Gott und unserem Gott. Wie ich schon gesagt habe, ist den Sprüchen und dem Lied Salomos ein anderer Charakter eigen, obwohl sie sich auf denselben Schauplatz beziehen: Die Sprüche reden nicht von den Empfindungen des Menschen auf diesem Schauplatz, sondern von der Führung Gottes darinnen durch die Erfahrung und Weisheit der von Gott unterwiesenen Gewalt 3. Das Lied der Lieder aber trägt das Herz ganz aus alledem heraus, obwohl man noch darinnen ist, aber nicht durch die erkannte Erlösung, sondern durch ergebene Liebe zu dem Messias, und durch die Zuneigung des Messias zu Israel, durch die Offenbarung seiner selbst, ja, und seiner Liebe zu ihnen, um Liebe im Herzen Israels zu erzeugen. Diese Herzensübungen finden in uns jetzt statt, denn wir sind in der Welt, jedoch in dem Bewusstsein einer vollbrachten Erlösung und der gegenwärtigen Fürsorge eines heiligen Vaters, und die Vollkommenheit seiner Wege, wie sie in Christo gesehen wird, ist das Muster für unser Verhalten. Wir können fröhlich den Raub unserer Güter annehmen, indem wir wissen, dass wir im Himmel ein besseres und beständiges Gut besitzen; wir können uns auch der Trübsal rühmen, da sie ihren notwendigen Zweck erfüllt, und die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist. Dies ist ein anderer Fall, und zwar ein gesegneter.
Ich denke, dass uns diese allgemeinen Bemerkungen helfen werden, die Bücher, die uns jetzt beschäftigen werden, zu verstehen. Ich wende mich den Büchern zu.
Nach dem, was ich gesagt habe, wird das Buch Hiob keiner langen Betrachtung bedürfen, nicht, weil es nicht von Interesse ist, sondern weil, wenn man den allgemeinen Gedanken erfasst hat, das Interesse in den Einzelheiten liegt, und diese sind nicht unser gegenwärtiger Betrachtungsgegenstand. Im Buch Hiob haben wir einen Teil jener Herzensübungen, die durch diese Einteilung des heiligen Buches dargeboten wird. Dies sind keine frohen Erlebnisse, sondern diejenigen eines Herzens, das, während es durch eine Welt geht, in der sich die Macht des Bösen befindet und wo es dem Fleisch nicht gestorben ist noch die vom Evangelium gebotene göttliche Erkenntnis besitzt, nicht mit Christo sich selbst gestorben ist noch Christum in der Auferstehung besitzt, nicht fähig ist (welcherlei seine eigenen Anfechtungen sein mögen), in Frieden die Frucht der vollkommenen Liebe Gottes zu genießen; dieses Herz aber kämpft mit dem Bösen oder damit, dass es das einzige wahre Gut nicht genießen kann, selbst während es dieses Gut besitzen möchte, während gerade mittels dieser Offenbarungen das Licht Christi auf diese Herzensübungen geworfen wird, und das Mitgefühl des Geistes und seine praktische Anteilnahme an ihnen in Gnaden dort so ergreifend entfaltet wird. Was wir daraus lernen ist das. was wir sind – nicht begangene Sünden; das war nicht der Fall Hiobs, sondern die Seele selbst wird vor Gott gestellt.
Fußnoten
- 1 Alle diese gehen in diejenigen Christi über, wie sie in seiner Erniedrigung und in seinen Leiden waren, und auf diese Weise werden sie zu Weissagungen über seine Leiden, jedoch in der Gestalt seiner Empfindungen unter diesen Dingen; für uns sind sie von unschätzbarem Wert.
- 2 Man beachte hier auch Psalm 14, den er als Beweis der Sünde beim Juden anführt, und Jesaja 59 - beide Stellen enden mit der Befreiung durch Macht in Jerusalem. Im Römerbrief wird ihr durch die gegenwärtige Rechtfertigung durch Blut begegnet.
- 3 Es wird dem Leser viel helfen, um den Charakter dieses Buches und des Buches des Predigers zu verstehen, zu bemerken, dass in den Sprüchen stets der Name Jehova gebraucht wird, außer in Kapitel Spr 25,2, wo es „Elohim“ heißt, und „ihr Gott“ in Kapitel Spr 2,17. Dies ist aber keine Ausnahme: d. h. es ist die anerkannte Beziehung zu dem offenbarten Gott Israels. Demgegenüber wird der HERR im Buch des Predigers niemals gefunden. Es ist immer Elohim, der abstrakte Name Gottes ohne jeden Gedanken einer Beziehung: Gott als Solcher im Gegensatz zum Menschen und zu jedem Geschöpf, und der Mensch muss als solcher erfahrungsgemäß seinen wahren Platz und sein wahres Glück ohne eine besondere Offenbarung Gottes finden. Bei Hiob gebraucht der Herausgeber (wenn ich mich so ausdrücken darf) oder der Historiker, der die Zwiegespräche wiedergibt, immer „HERR“; allgemein in diesem Buch aber, jedenfalls außer einmal in Bezug auf die Regierung Gottes (Hiob 12,9), gebrauchen Hiob und Elihu beständig den Namen „Allmächtiger“ - den abrahamischen Namen Gottes, oder einfach „Gott“. Die Freunde sagen meist Gott, Eliphas besonders „der Allmächtige“, manchmal heißt es bloß „Er“. Zophar gebraucht, glaube ich, keinen Namen. Für das Zwiegespräch ist Gott oder der Allmächtige charakteristisch.