Betrachtung über das Buch Esther (Synopsis)
Das Buch Nehemia hat uns Juda gezeigt, wie es im Land wieder eingesetzt, aber der Anwesenheit Gottes beraubt (außer in Bezug auf allgemeine Segnung) und als sein Volk nicht anerkannt ist. Wieviel Zeit auch verstreichen mag, so führt uns ihr Zustand moralisch zu dem Augenblick, wo der Messias dargestellt werden würde, um die Weissagung zu versiegeln, um die Übertretung zum Abschluss zu bringen und eine Gerechtigkeit einzuführen. Dieses Buch hat uns das letzte Wort der Geschichte Israels vor dem Kommen Christi gegeben; dieses Wort ist voller Gnade und Langmut auf seiten Gottes.
Das Buch Esther zeigt uns die Lage Israels, oder, genauer gesagt, die Lage der Juden außerhalb ihres Landes und betrachtet sie unter der Hand Gottes und als Gegenstände seiner Fürsorge. Dass Er immer noch für sie sorgte (was dieses Buch beweist), als sie keine von Gott beanspruchte Stellung mehr festhielten und das Recht auf seinen Schutz verloren hatten, ist eine äußerst ergreifende und wichtige Tatsache in dem Handeln Gottes. Wenn Gott, wo sein Volk in einem solchen Zustand ist, Sich ihnen nicht offenbaren kann – was offenkundig ist –, fährt Er dennoch fort, an sie zu denken. Gott offenbart uns hier sein Eingreifen Seinerseits zugunsten seines Volkes, was nicht mehr länger geschehen konnte, sondern jene Fürsorge seiner Vorsehung, die ihr Dasein und ihre Bewahrung inmitten ihrer Feinde sicherte. Die sich in Gefahr befanden, waren von den Weggeführten Judas (Kap. 2, 5. 6) und von denen, die nicht in das Land Kanaan zurückgekehrt waren. Wenn dies einen Mangel an Glauben und Energie ihrerseits verrät, wie auch an Zuneigung zu dem Haus und zu der Stadt Gottes, so müssen wir darin um so mehr einen Beweis der absoluten und unumschränkten Güte sehen, der absoluten und unumschränkten Treue dieses Gottes selbst.
So sehen wir in dieser Geschichte die verborgene Fürsorge der Vorsehung Gottes in Bezug auf die Juden zu einer Zeit, wo sie, obwohl sie ihre Stellung als Juden festhalten, von jeder äußeren Beziehung zu Ihm völlig abgefallen, aller Rechte des Volkes Gottes beraubt und der Verheißungen ledig sind, an deren Erfüllung, die zu jener Zeit in Jerusalem durch die Güte Gottes angeboten wurde, sie kein Interesse hatten. Selbst in diesem Zustand wacht Gott über sie und sorgt für sie – für ein Volk, das trotz seiner Treulosigkeit geliebt und gesegnet wird, denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Wenn dies gut erwogen wird, verleiht es diesem Buch einen sehr ergreifenden und lehrreichen Charakter. Es ist die unumschränkte, unfehlbare Fürsorge Gottes, komme, was kommen mag, und es zeigt den Platz, den dieses Volk in seinen Gedanken einnimmt.
Es ist oft bemerkt worden, dass der Name Gottes im Buch Esther nicht zu finden ist. Das ist kennzeichnend. Gott zeigt sich nicht. Aber hinter der Macht und den Fehlern jenes Thrones, dem die Regierung der Welt zugefallen ist, hält Gott die Zügel durch seine Vorsehung; Er wacht über die Erfüllung seiner Vorsätze und über allem, was zu ihrer Erfüllung erforderlich ist, und Er sorgt für sein Volk, welcherart ihr Zustand oder die Macht ihrer Feinde auch sein mögen. Glückliches Volk (vgl. wegen Israel Jer 31, 20)!
Es sollte bemerkt werden, dass der Glaube an den Schutz Gottes und dessen Anerkennung sogar dann gefunden werden, wo das Handeln Gottes in Bezug auf seine Verheißungen nicht anerkannt wird. Wir reden von der Regierung Gottes, nicht von der Errettung. Hier geht es nicht um die Errettung. Der Mann aus den Nationen regiert und handelt nach seinem Willen, und er nimmt nach seinem Begehr eine der Töchter aus Benjamin zur Frau. Fürwahr ein trauriger Zustand für das Volk Gottes! Eine Lage, die unter anderen Umständen dem ganzen göttlichen Gesetz und aller Treue zuwider gewesen wäre; hier führt es nicht einmal zu einer Vorhaltung. Hier ist das Volk Israel in Bezug auf seinen Zustand verloren. Gott handelt aber unumschränkt, und Er gebraucht diese traurige Erscheinung ihrer Lage, um sie vor der ihnen drohenden Vernichtung zu bewahren.
Nehemia entfaltet die letzte Beziehung Gottes zu dem Volk vor dem Kommen des Messias: eine Beziehung der Langmut, in der Gott sie nicht als sein Volk anerkennt; es war eine vorübergehende und unvollkommene Beziehung. Das Buch Esther lehrt uns, dass Gott in seiner Unumschränktheit über die zerstreuten Juden wacht und sie auch ohne jede äußere Beziehung bewahrt, und zwar ohne irgendeinen Teil des über sie verhängten Gerichts zu widerrufen; Gott beschirmt sie, ohne sich zu offenbaren und folglich durch verborgene Mittel.
Es ging um das, was als eine historische Angelegenheit schließlich noch vor dem öffentlichen Eingreifen Gottes in der Person des Messias, was nur die Weissagung offenbaren konnte, verkündet werden musste.
Mir scheint, dass die Umstände dieser Geschichte auf dieses Eingreifen hindeuten; gewiss ziemlich verschwommen, aber deutlich genug für einen solchen, der die Wege Gottes, wie sie im Wort entfaltet sind, verfolgt hat. Wir sehen, wie die Frau aus den Nationen wegen ihres Ungehorsams und weil sie ihre Schönheit vor der Welt nicht zur Schau stellen wollte, beiseite gesetzt wird; auf sie folgt eine jüdische Frau, die die Liebe des Königs besitzt. Wir sehen wie die dreiste Macht Hamans, des Mannes aus den Nationen, des Bedrängers der Juden, vernichtet wird; auch wie der Jude Mordokai, der Beschützer Esthers, der vordem verachtet und entehrt worden war, anstatt des Mannes aus den Nationen zu Ruhm und Ehre erhoben wird. Alles dieses steht in Verbindung mit der Erde, man möge sich dessen erinnern.
Schließlich liegt in den Einzelheiten dieses Buches ein sehr interessanter Punkt, nämlich die von der Vorsehung Gottes gebrauchten Mittel, wie alles genau zur gelegenen Zeit geschieht – bis zur Schlaflosigkeit des Königs, was auf die interessanteste Weise zeigt, wie die verborgene Hand Gottes alles vorbereitet und lenkt und wie diejenigen, die auf seinen Willen harren, sich zu allen Zeiten und unter allen Umständen auf Ihn verlassen können, selbst wenn Erlösung unmöglich zu sein scheint, und trotz aller Machenschaften des Feindes und seines scheinbaren Erfolges.
Der Schluss des Buches stellt historisch die großen charakteristischen Tatsachen der Herrschaft der Nationen dar; man kann aber kaum daran vorbeigehen, ohne in der Stellung des Mordokai bildlich den Herrn selbst als das Haupt der Juden zu sehen, in engster Verbindung mit dem Thron, der über alles regiert.
Schon die Umstände, auf die dieses Buch eingeht, sind angemessen. Wenn eine anerkannte Beziehung besteht, so verfährt Gott nach dem Verhalten derer, die in dieser Beziehung stehen; hier besteht aber eine solche Beziehung nicht. Der Schauplatz ist mit heidnischen Umständen und heidnischen Gepflogenheiten erfüllt, und recht so. Israel ist wie verloren unter ihnen, ihr Verhalten kommt nicht ans Licht, sondern ihre Bewahrung, und zwar wo dem Auge des Menschen das Heidentum alles ist und wo ihre Feinde allmächtig zu sein scheinen. Das ist alles an seinem Platz. Jedes andere Bild wäre nicht die Wahrheit gewesen, noch hätte es eine wahre Darstellung des Zustandes der Dinge gegeben, noch hätte es das Handeln Gottes in seinem wahren Licht gezeigt.
Es wird leicht zu verstehen sein, dass dieses Buch die hochinteressante Serie der historischen Bücher abschließt, die wir dank der Güte Gottes betrachtet und deren führenden Wesenszüge wir, insofern wir dazu fähig waren, dargestellt haben. Möge der Geist Gottes, der es uns ermöglicht hat, das zu genießen, was Gott gefallen hat, in ihnen zu offenbaren, uns auch weiterhin unterweisen, während wir über die Bücher nachsinnen, die uns noch zu erforschen geblieben sind!