Das Kommen des Herrn
Das Kommen Jesu Christi als der glänzende Morgenstern zur Aufnahme Seiner Heiligen und Seine Erscheinung mit ihnen in Macht und Herrlichkeit, um Seine Herrschaft anzutreten und Gericht zu üben, sind zwei Ereignisse, die sowohl ihrem Charakter als auch der Zeit ihrer Erfüllung nach ganz verschieden und voneinander getrennt sind. Das Wort Gottes liefert uns deutliche Beweise für diese Verschiedenheit, teils in bestimmten Erklärungen, teils in berechtigten Schlußfolgerungen. Zum Teil geht der Unterschied auch aus Vergleichungen und aus dem ganzen Zusammenhang der Heiligen Schrift hervor. Die Frage selbst ist von der größten Bedeutung, da ihre Beantwortung für die Stellung und Berufung der Kirche oder Versammlung entscheidend ist. Denn wenn die Seele weiß und im Glauben verwirklicht, daß ihr abwesender Herr jeden Augenblick zurückkommen kann, dann wird sie nüchtern sein und wachen. Wenn sie aber etwa glaubt, daß diese oder jene Ereignisse noch vor Seiner Ankunft stattfinden müssen, so ist der Herr nicht mehr der Gegenstand ihrer Erwartung, sondern ihr Blick ist auf jene Ereignisse gerichtet. Seine Ankunft ist dann in unbestimmte Ferne gerückt, und der gesegnete Einfluß der täglichen Erwartung des Herrn wird geschwächt, wenn nicht gar gänzlich vernichtet. Müssen noch sieben oder mehr Jahre vor dem Kommen des Herrn verfließen, müssen vorher noch allerlei Prophezeiungen in Erfüllung gehen, so hat die Ermahnung: „Seid nun bereit!“ selbstverständlich nicht dieselbe Kraft und Bedeutung für mich, als wenn die Überzeugung in meiner Seele lebt, daß der Herr noch vor dem An-bruch des morgigen Tages kommen kann.
Mit welch liebevollem Ernst ermahnt der Herr Jesus Seine Jünger, zu wachen und Seine Ankunft beständig zu erwarten! Immer wieder stellt Er ihnen vor, daß sie „Menschen gleich sein möchten, die auf ihren Herrn warten, wann irgend er aufbrechen mag von der Hochzeit, auf daß, wenn er kommt und anklopft, sie ihm alsbald aufmachen. Glückselig jene Knechte, die der Herr, wenn er kommt, wachend finden wird!... Und wenn er in der zweiten Wache kommt und in der dritten Wache kommt und findet sie also — glückselig sind jene Knechte!“ (
In Übereinstimmung mit jener Ermahnung an die Knechte, auf der Hut zu sein und zu wachen, erwarteten die Gläubigen der ersten Tage, wie wir dies aus den Briefen der Apostel ersehen, fortwährend die Ankunft ihres Herrn. „Ihr habt euch von den Götzenbildern zu Gott bekehrt“, schreibt Paulus an die Thessalonicher, „dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“ (
In
An dieser Stelle wird also keinerlei Ereignis erwähnt, das auf diese Erde Bezug hätte. Auch handelt es sich nur um Erlöste: einerseits um die Toten in Christo, die durch Jesum Entschlafenen, und andererseits um uns, die bis zur Ankunft des Herrn übrigbleibenden Gläubigen. Von anderen Personen ist gar keine Rede. Erst nachdem der Apostel von der herrlichen Hoffnung des Gläubigen gesprochen hat, fährt er in völlig verändertem Tone fort: „Was aber die Zeiten und Zeitpunkte betrifft, Brüder, so habt ihr nicht nötig, daß euch geschrieben werde“. Warum nicht? Hatte nicht der Herr Jesus Selbst, als Er auf Erden war, Seinen Jüngern geboten, auf die Zeichen der Zeit zu achten? Hatte Er nicht über „Zeiten und Zeitpunkte“, über zukünftige Kriege, über die Greuel der Verwüstung, über die Zeit der großen Drangsal, über Zeichen in dem Himmel und über viele andere Ereignisse gesprochen, damit die Jünger inmitten dieser Drangsale wissen möchten, daß die Zeit der Offenbarung des Sohnes des Menschen nahe sei? Allerdings. Dennoch will der Apostel hier nicht bei diesen Dingen verweilen. Es war nicht nötig, darüber an die Thessa-lonicher zu schreiben. Weshalb nicht? Weil alle diese Dinge mit der besonderen Erwartung der Kirche Christi, der Braut des Lammes, nichts zu tun haben. Die Thessalonicher wußten genau, daß der Tag des Herrn wie ein Dieb in der Nacht über die Gottlosen kommen würde: „wenn sie (die Gottlosen) sagen: Friede und Sicherheit! dann kommt ein plötzliches Verderben über sie“. Die Gläubigen aber sind Söhne des Lichtes und des Tages. Sie sind nicht von der Finsternis, daß der Tag sie wie ein Dieb ergreifen könnte. Als Kinder des Lichtes stehen sie in Verbindung mit Christo, der Sonne der Gerechtigkeit, und werden, wenn Er in diesem Charakter erscheint, mit Ihm leuchten (Vergl.
Den Gläubigen der Jetztzeit sind also weder „Zeiten und Zeitpunkte“, noch Zeichen und Wunder zur Beobachtung angewiesen. (Auf die Worte des Herrn in
So lange die wahre Kirche sich noch auf der Erde befindet, werden die Gerichte, welche die Propheten des Alten und des Neuen Testamentes geweissagt haben, nicht hereinbrechen. Wohl mögen die Gläubigen heute durch Trübsale und Züchtigungen gehen und auch an den Leiden teilhaben, welche die Welt im allgemeinen treffen, aber die Gerichte, von denen wir reden, tragen einen ganz anderen Charakter als die Leiden und Prüfungen der Gegenwart. Für die Gläubigen sind die Kriege, Krankheiten usw., die jetzt fortwährend auf der Erde herrschen, nicht Strafgerichte, sondern Züchtigungen von der Hand eines liebenden Vaters. Für die Welt sind sie ein Mahnruf des Gottes der Gnade, der will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Die Plagen und Drangsale aber, welche dereinst über die Welt kommen werden, sind die Zornesergüsse und gerechten Gerichte des heiligen Gottes, der von der Welt Rechenschaft fordern wird wegen der Ermordung und Verwerfung Seines geliebten Sohnes. Und da Gott alles Gericht dem Sohne übergeben hat, so ist es zugleich der Zorn des Lammes, der dann über die Welt ausgegossen werden wird. Wie könnte nun die Braut des Lammes, die durch Sein Blut so teuer erkauft und aus der Welt erlöst worden ist, dann noch auf der Erde sein, wenn die Welt für die Verwerfung Christi gestraft wird? Unmöglich!
Doch wir sind in dieser Beziehung nicht etwa auf eine bloße Schlußfolgerung, so berechtigt diese auch sein mag, angewiesen. Der Apostel Paulus lehrt im 2. Brief an die Thessalonicher genau die gleiche Wahrheit, Wie wir früher schon bemerkten, hatten einige falsche Lehrer versucht, die Gläubigen in Thessalonich in Verwirrung zu bringen, indem sie ihnen sagten, daß die Verfolgungen und Leiden, die sie erdulden mußten, ein Beweis seien, daß der Tag des Herrn schon da sei. Gegen diese Lehrer tritt Paulus in der schärfsten Weise auf, indem er den Thessalonichern beweist, daß ihre Leiden einen ganz anderen Charakter trugen, als die Gerichte, die dem Tage Christi vorangehen werden. Er ruft ihnen zu: „So daß wir selbst uns euer rühmen in den Versammlungen Gottes wegen eures Ausharrens und Glaubens in allen euren Verfolgungen und Drangsalen, die ihr erduldet; ein offenbares Zeichen des gerechten Gerichts Gottes, daß ihr würdig geachtet werdet des Reiches Gottes, um dessentwillen ihr auch leidet“. Die Drangsale, die sie erduldeten, kamen also über sie, weil sie an Jesum glaubten, während die Plagen und Gerichte, die den Tag Christi kennzeichnen, die Welt treffen werden, weil sie die Christen verfolgt und Christum verworfen hat, — also gerade aus dem entgegengesetzten Grunde. „Wenn es anders bei Gott gerecht ist, Drangsal zu vergelten denen, die euch bedrängen“. Der Gegensatz könnte nicht schärfer ausgeprägt sein. Überdies wird, gleichzeitig mit der Androhung des Gerichts hinsichtlich der Welt, den Christen die Verheißung gegeben: „Und euch, die ihr bedrängt werdet, Ruhe mit uns bei der Offenbarung des Herrn Jesus vom Himmel mit den Engeln seiner Macht, in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung gibt denen, die Gott nicht kennen, und denen, die dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen“ (
Aus
Das 19. Kapitel des Buches der Offenbarung macht jedem Zweifel bezüglich der Frage, ob die Versammlung vor den Gerichten in den Himmel aufgenommen werden wird oder nicht, ein Ende. Der Herr Jesus kommt da, auf einem weißen Pferde sitzend, aus dem Himmel, um Seine Feinde zu vertilgen und Sein Königreich aufzurichten. „Und die Kriegsheere, die in dem Himmel sind, folgten ihm auf weißen Pferden, angetan mit weißer, reiner Leinwand“. Diese himmlischen Kriegsheere können nicht Engel sein, wie einige meinen, weil sie mit weißer, reiner Leinwand bekleidet erscheinen, und „die feine Leinwand die Gerechtigkeiten der Heiligen sind“ (V. 8). Es ist das Weib des Lammes, das kurz vorher im Himmel die Hochzeit mit dem Lamme gefeiert hat (V. 6-9). Es sind die himmlischen Heiligen. Wenn diese nun, herrlich geschmückt, mit Christo aus dem Himmel auf die Erde herabkommen, so ist es offenbar, daß sie vorher von der Erde in den Himmel versetzt und dort mit Christo verbunden worden sein müssen. Wir finden sie ja auch schon in
Die Zahl vierundzwanzig (zweimal zwölf) ist symbolisch zu verstehen. Sie erinnert an die vierundzwanzig Priesterordnungen, die einst in Israel bestanden (vergl.
In Kapitel 6 beginnt dann die Beschreibung der Gerichte, die über die Erde kommen werden. Diese Beschreibung setzt sich fort bis zum Anfang des 19. Kapitels. Während all dieser Zeit befinden sich die vierundzwanzig Ältesten oder die himmlischen Heiligen droben, geschart um den Thron des allmächtigen Gottes. Die Beschreibung der Gerichte wird immer wieder unterbrochen, um uns die Ältesten im Himmel zu zeigen, wie sie, auf Thronen sitzend, sich in vollkommener Ruhe der unendlichen Liebe Gottes und des Lammes erfreuen (Kap. 7; 11; 14). Und wenn dann endlich, nach Vollziehung aller Gerichte, das große Mahl Gottes gekommen ist, verläßt der Herr mit Seiner erlösten Schar den Himmel, um Seine Feinde zu vernichten und Sein Königreich auf Erden anzutreten. So sehen wir denn, daß zwischen der Aufnahme der Versammlung in den Himmel und ihrem Kommen mit Jesu aus dem Himmel ein Zeitraum liegt, in welchem die vorlaufenden, das Erscheinen der Herrlichkeit des Herrn einleitenden Gerichte und die damit in Verbindung stehenden ernsten Ereignisse sich vollziehen werden.
Die Meinung vieler Erklärer der Offenbarung, daß der größte Teil dieses Buches bereits erfüllt sei, fällt somit von selbst dahin. Denn bevor die in den Kapiteln 6-19 angekündigten Ereignisse sich erfüllen können, muß die Braut Christi, die Versammlung des lebendigen Gottes, die jetzt noch auf der Erde weilt, in den Himmel aufgenommen sein. Damit sind dann auch jene wunderlichen, sich gegenseitig widersprechenden und aufhebenden Erklärungen hinfällig, die über den Inhalt der genannten Kapitel aufgestellt worden sind, ohne daß man der Tatsache Rechnung getragen hat, daß die Entrückung der Kirche allem vorangehen muß. Um ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten, haben jene Ausleger oft die unbedeutendsten Ereignisse der Vergangenheit als die Erfüllung wichtiger prophetischer Mitteilungen erklären müssen.
Und daß die vierundzwanzig Ältesten nicht Engel sein können, wie auch behauptet wird, geht aus der Tatsache hervor, daß diese später besonders erscheinen.
Beachtenswert ist ferner der große Unterschied zwischen den Stellen, in welchen über das Kommen des Herrn auf die Erde, und denen, in welchen über Seine Ankunft zur Aufnahme der Seinigen die Rede ist. In Offbg 1, 7 lesen wir: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und jedes Auge wird ihn sehen, auch die ihn durchstochen haben, und wehklagen werden seinetwegen alle Stämme des Landes“. Und in
Doch nun entsteht die Frage: Wenn die Versammlung oder Gemeinde wirklich vor den Gerichten aufgenommen wird, wer sind dann die Heiligen, die sich während der Gerichte auf der Erde befinden werden? Das Buch der Offenbarung und
Dasselbe finden wir in
Zum Schluß noch ein Wort über Offbg 20, 4. Dort wird von den himmlischen Kriegsheeren, die mit Jesu aus dem Himmel gekommen sind, gesagt: „Und ich sah Throne, und sie saßen darauf, und es wurde ihnen gegeben, Gericht zu halten“; und dann heißt es weiter: „und (ich sah) die Seelen derer, welche um des Zeugnisses Jesu und um des Wortes Gottes willen enthauptet waren, und die, welche das Tier nicht angebetet hatten, noch sein Bild, und das Malzeichen nicht angenommen hatten an ihre Stirn und an ihre Hand, und sie lebten und herrschten mit dem Christus tausend Jahre“. Während also die himmlischen Heiligen verherrlicht mit Jesu aus dem Himmel kommen, werden die Gläubigen, die in der Zeit der Gerichte den Tod erleiden — sowohl die, welche in Kapitel 6 unter dem Altar gesehen werden, als auch ihre Brüder, die später getötet werden, — aus den Toten auferweckt, um an der Tausendjährigen Herrschaft Christi teilzunehmen.
Doch wie werden diese Gläubigen aus Israel und aus den Nationen, die während der großen Drangsal hier auf dieser Erde sind, zum Glauben gelangen? Wird nicht nach der Entrückung der Braut und der Rückkehr des Heiligen Geistes in den Himmel jedes Gnadenzeugnis hienieden verstummen? Nein; wir lesen vielmehr in
Indem ich hiermit meine Ausführungen beschließe, kann ich nicht umhin, noch einmal auf unsere kostbare, gesegnete Hoffnung aufmerksam zu machen. Nichts steht ihrer Erfüllung im Wege. Heute noch kann der Morgenstern erscheinen und uns aus dieser armen Welt, von dem Schauplatz der Sünde und des Todes, abholen in die ewigen Wohnungen des Friedens droben. Darum aufgeschaut, lieber Mitpilger! Nur noch eine kleine Weile, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen.
Fußnoten
- 1 Manche meinen, unter diesen vierundzwanzig Ältesten seien die ent= schlafenen, noch nicht vollendeten Heiligen zu verstehen. Aber diese Erklärung kann unmöglich richtig sein, denn die Ältesten erscheinen nicht etwa als Geister (wir haben es hier nicht mit Seelen zu tun, wie im Kapitel 6, 9), sondern besitzen schon ihren neuen, verherrlichten Leib. Sie sind bekleidet und gekrönt und sitzen auf Thronen.
- 2 Wenn man Mt 24 mit Lk 21 vergleicht, wird man zwischen diesen beiden Prophezeiungen einen großen Unterschied entdecken. In Lukas kündigt der Herr zunächst die Zerstörung Jerusalems an (siehe V. 20) und das, was ihr vorangehen sollte. In Matthäus dagegen beschäftigt Er sich sofort mit den Ereignissen der letzten Tage, in Übereinstimmung mit der Frage der Jünger: „Was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (Vergl. damit die Frage in Lk 21,7.) Trotzdem besteht zwischen beiden Prophezeiungen eine große Übereinstimmung, da die Ereignisse, die der Zerstörung Jerusalems vorangingen, denen der letzten Tage gleichen und eine vorläufige Erfüllung derselben bilden.