An wen ist der Brief des Jakobus gerichtet?
Bibelstelle(n): Jakobus
Der Brief des Jakobus, des „Bruders des Herrn“ (Gal 1,19), wie man gewöhnlich annimmt (andere halten ihn für den Sohn des Alphäus oder Kleopas), richtet sich, wie aus den Eingangsworten hervorgeht, an die „zwölf Stämme. die in der Zerstreuung sind“, d.h. also nicht nur an die „auserwählten Fremdlinge von der Zerstreuung“, die fern von ihrer irdischen Heimat lebenden Gläubigen aus Israel, wie die Briefe des Apostels Petrus, sondern an die Masse des alten Volkes Jehovas, an Israel als Nation. So wie im Alten Testament ein Buch sich mit der großen heidnischen Hauptstadt der alten Zeit, mit Ninive, beschäftigt, so wendet sich im Neuen Testament ein Brief an das jüdische Volk als solches. Wenn auch Gottes Langmut erschöpft war und Er im Begriff stand, Seine Beziehungen zu Seinem allezeit widerstrebenden Volk abzubrechen, war dieser Abbruch doch noch nicht endgültig vollzogen, und in den Herzen der aus Israel stammenden Zeugen des Herrn waren die Gefühle für das irdische Volk Gottes noch warm und lebendig. So spricht auch Paulus vor dem König Agrippa und dem Landpfleger Festus von „unserem zwölfstämmigen Volk“, das, Tag und Nacht Gott dienend, zu der zu den Vätern geschehenen Verheißung hinzugelangen hofft (Apg 26,6).
Wir können deshalb verstehen, dass Jakobus in seinem Brief zuweilen sich an solche unter dem Volk wendet, die völlig ungläubig und unbekehrt waren, so z.B. in Jakobus 5,1-6, dann wieder in einer Weise redet, die auf Gläubige und Nichtgläubige anwendbar ist (wie z.B. in Jak 4,1-10), und schließlich an die „Brüder“ (“meine Brüder“; „meine geliebten Brüder“) Ermahnungen und Ermunterungen richtet, die nur für Gläubige bestimmt sein können. Andererseits gehen diese Ermahnungen usw. kaum über den Boden hinaus, auf welchen der Messias einst Seine Jünger gestellt hatte. Die Wahrheiten, die mit den neuen Beziehungen in Verbindung stehen, in welche wir als „Menschen in Christus“ gebracht sind, suchen wir in dem Brief des Jakobus vergeblich, ebenso die Stellung und Hoffnung der Gemeinde. Für den Glauben des Jakobus stand Israel noch in demselben Verhältnis zu Gott, in welches es einst gesetzt worden war, und darum blieb er mit den übrigen Gläubigen in Verbindung mit diesem System.
Es ist ja auch bekannt, dass Jakobus Jerusalem nie verlassen hat. Wir finden ihn in der Apostelgeschichte immer wieder als den Leiter der dortigen Gemeinde, die ja nur aus gläubigen Juden bestand und, obwohl man anderswo zur Anbetung und zum Brotbrechen zusammenkam, die Verbindung mit dem Tempel und der Synagoge nicht löste. So seltsam es uns auch vorkommen mag, besonders im Blick auf den Hebräerbrief, in welchem der Geist Gottes die Gläubigen anweist, „außerhalb des Lagers“ zu gehen, dennoch ist mit aller Klarheit aus der Schrift zu ersehen, dass die Gläubigen in Jerusalem sich äußerlich nicht nur nicht von der Masse und dem Gottesdienst des Volkes trennten, sondern auch nach wie vor die vorgeschriebenen Opfer darbrachten und alle „Eiferer für das Gesetz“ waren. Es gab sogar viele „Priester“ in ihrer Mitte, die ihr Amt und ihre amtlichen Verrichtungen nie aufgegeben hatten, und als Paulus nach Jerusalem kam, wurde er von Jakobus und den in dessen Haus versammelten Ältesten überredet, so zu tun, als wenn auch er selbst in der Beobachtung des Gesetzes wandle (Apg 21). Alles das erscheint uns heute fast unglaublich, aber es steht einwandfrei fest, dass Gott in Seiner Geduld und Langmut diesen Zustand bestehen ließ, bis die Zerstörung Jerusalems durch die Römer ihm ein gewaltsames Ende bereitete.
Jakobus war gleichsam die Verkörperung dieses Zustandes. Die Beachtung dieser Tatsache erleichtert das Verständnis des Briefes sehr. Ich wiederhole daher: obwohl die Gläubigen von Jakobus immer wieder zu einem gottseligen Wandel, zu Reinheit und Geduld, zu Demut und Liebe, also zu einer ernsten inneren Absonderung von der Welt und ihrem Wesen ermahnt werden, lässt der Geist Gottes, unter dessen Leitung und Eingebung Jakobus genau so gut geschrieben hat, wie Paulus und andere, doch die vorhandenen eigentümlichen Zustände bestehen, um uns auch von dieser ersten jüdischen Form, welche das Christentum angenommen hat, eine Darstellung zu geben.
Naturgemäß redet der Brief des Jakobus nicht von den Ratschlüssen Gottes, die in Verbindung stehen mit Christus und der Gemeinde, nicht von dem „Geheimnis“, das von den Zeitaltern her in Gott verborgen war, nicht einmal von der Erlösung, so wie wir sie in den Briefen des Paulus und Petrus entwickelt finden; dennoch ist er von überaus großer Bedeutung in praktischer Beziehung. Er ist mit Recht „der Gurt unserer Lenden“ genannt worden und ist in besonderer Weise auf das Namenschristentum anwendbar, von welchem heute die wahren Christen umgeben sind, indem er darauf dringt, dass die Wahrhaftigkeit des Bekenntnisses sich durch Werke erprobe. Die Behauptung, Glauben zu haben, ist wertlos, wenn der Glaube sich nicht durch einen Wandel in der Liebe und Heiligkeit erweist.
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